BGH: Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verlesung eines ärztlichen Attests
Der BGH äußert sich in einer aktuellen Entscheidung grundlegend zum Tatbestand des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO und dessen Verhältnis zum Unmittelbarkeitsgrundsatz (Beschl. v. 21.11.2011 – 1 StR 367/11, www.bundesgerichtshof.de).
1. Sachverhalt
Der Angeklagte sprach das weiblichen Opfer vor einer Disko an. Das Opfer ignorierte den Angeklagten. Dieser bedrängte das Opfer, stieß es in ein Dornengebüsch und zwang es zu sexuellen Handlungen. Das Tatgericht verlas im Rahmen der Beweiserhebung ein ärztliches Attest nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO. Darin stellte der Arzt fest, dass sich in der Haut des Opfers Dornen befanden. Der Angeklagte rügte mit der Revision neben einer Verletzung materiellen Rechts auch eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 250 StPO). Das Tatgericht habe mit der Verlesung des Attests auch Beweis über den Sachverhalt erhoben, der dem Vorwurf der sexuellen Nötigung zugrunde lag.
2. Einordnung
Um die Rüge und die Entscheidung des BGH zu verstehen, muss man sich die Systematik der StPO bewusst machen. § 250 StPO normiert den sog. Unmittelbarkeitsgrundsatz. Das bedeutet, dass über Tatsachen, die Gegenstand der Wahrnehmung einer Person waren, durch das Beweismittel des Zeugen Beweis zu erheben ist. Von diesem Grundsatz machen die nachfolgenden Vorschriften Ausnahmen, so auch § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO. Danach können ärztliche Atteste über Körperverletzungen, die nicht zu den schweren gehören (maßgeblich ist insoweit die Anklageschrift), verlesen werden. Die Norm dient der Beschleunigung des Verfahrens. Um zu verhindern, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz ausgehöhlt wird, legt der BGH die Vorschrift aber restriktiv aus: Das Attest darf nur verlesen werden, um Beweis über die Körperverletzung zu erheben. Es darf auf diesem Weg nicht indirekt Beweis über andere Anklagepunkte erhoben werden. Gerade dies rügte der Angeklagte.
3. Entscheidung
Der BGH weist die Revision als unbegründet zurück. Eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes liege nicht vor. Zwar dürfe durch eine Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht über andere Fragen Beweis erhoben werden als über die Feststellung der (einfachen) Körperverletzung. Das Tatgericht habe insoweit aber kein Verfahrensrecht verletzt. Wörtlich führt der 1. Senat aus:
aa) Dies wird regelmäßig angenommen, wenn Gewalt nicht nur zu einer Körperverletzung geführt hat, sondern zugleich auch ein Tatbestandsmerkmal für ein anderes Delikt darstellt, etwa bei einem räuberischen Diebstahl (BGH, Beschluss vom 11. Juli 1996 – 1 StR 392/96, StV 1996, 649), oder, in der fo-rensischen Praxis nicht selten, bei Sexualdelikten (vgl. nur BGH, Urteil vom 7. November 1979 – 3 StR 16/79, NJW 1980, 651; BGH, Beschluss vom 24. Juli 1984 – 5 StR 478/84, bei Pfeiffer NStZ 1985, 204, 206 <Nr. 17>; BGH, Beschluss vom 4. März 2008 – 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474). Regelmäßig liegt dann neben Tateinheit auch eine Indizwirkung der Körperverletzung für das andere Delikt vor.
bb) Tateinheit zwischen der Körperverletzung und dem anderen Delikt schließt die Anwendung von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht zwingend aus, wie der Bundesgerichtshof im Blick auf „generelle Umschreibungen der Unzuläs-sigkeit einer Verlesung nach § 256 StPO, (die) über die jeweils zugrunde liegenden Fallgestaltungen hinaus (gehen)“ präzisierend klargestellt hat (BGH, Urteil vom 27. November 1985 – 3 StR 438/85, BGHSt 33, 389, 392). Erforder-lich ist vielmehr ein „überzeugender Grund“ (BGHSt, aaO, 393) für die Annah-me, nach Sinn und Zweck des Gesetzes (BGHSt, aaO, 391, 393) reiche eine Verlesung des Attests nicht aus.
Dies gilt nach Auffassung des Senats auch dann, wenn es um die Ver-nehmung des Arztes im Blick auf Schlussfolgerungen geht, die aus den Verlet-zungen hinsichtlich des anderen Delikts gezogen werden können. Eine Ver-nehmung ist nur dann erforderlich, wenn der unmittelbare Eindruck eine zuver-lässigere Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann als die Verlesung des Attestes (BGH, Urteil vom 9. April 1953 – 5 StR 824/52, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1984, 209, 211 <Nr. 21>; BGH, Beschluss vom 4. März 2008 – 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474), etwa dazu, ob Verletzun-gen im Bereich des Unterleibs auf ein gewaltsam begangenes Sexualdelikt hin-deuten. Kann die ärztliche Sicht zu Schlussfolgerungen dieser Art über die bloße Feststellung der attestierten Verletzung hinaus dagegen nichts beitragen, so besteht regelmäßig auch kein überzeugender Grund für eine Vernehmung des Arztes. Im Kern kommt es also darauf an, ob eine solche Vernehmung Gebot der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist, die (auch sonst) von § 256 StPO unberührt bleibt (vgl. schon BGH, Urteil vom 4. April 1951 – 1 StR 54/51, BGHSt 1, 94, 96; BGH, Urteil vom 16. März 1993 – 1 StR 829/92, BGHR, StPO § 256 Abs. 1 Aufklärungspflicht 1; BGH, Beschluss vom 24. April 1979 – 5 StR 513/78, bei Pfeiffer NStZ 1981, 93, 95 <zu § 244 Abs. 2 StPO>; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 2 mit Hinweis auf Nr. 111 Abs. 3 Satz 2 RiStBV).
cc) Im vorliegenden Fall kann die ärztliche Sicht zur Beantwortung der Frage, ob die attestierten Verletzungen durch die Dornen die Verletzte nachfol-gend aus Furcht vor erneuter Misshandlung zu Manipulationen am Ge-schlechtsteil des Verletzers veranlasst haben könnten, offensichtlich nichts bei-tragen. Anderes ist auch dem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen. Die Verlesung des Attestes überschreitet daher die Grenzen der Anwendbarkeit von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht.
4. Examensrelevanz
Der Beschluss ist zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen und vor allem für Referendare sowie im Schwerpunkt im Strafrecht von Interesse.
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