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Schlagwortarchiv für: Reichweite der Verkehrssicherungspflichten

Dr. Jan Winzen

OLG Hamm: Zur Verkehrssicherungspflicht des Baumarktbetreibers

Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Klassischer (im prüfungstechnischen Sinne) hätte die Fragestellung, die einer jüngst veröffentlichten Entscheidung des OLG Hamm (9 U 187/12) zugrunde lag, kaum sein können: Haftet der Betreiber eines Baumarkts dem Grunde nach für Schäden, die einer Kundin in Folge des Ausrutschens auf einer verunreinigten Stelle im Kassenbereich des Baumarkts entstanden sind und möglicherweise zukünftig noch entstehen werden?
A. Rechtliche Würdigung
I. Richtige Anspruchsgrundlage: §§ 280, 311 Abs. 2 Nr. 2, 241 Abs. 2 BGB
Der richtigen Anspruchsgrundlage sollte man sich hier unbedingt systematisch nähern (zur Erinnerung: vertraglich – quasi vertraglich – GoA – dinglich – deliktisch/bereicherungsrechtlich, zur Wiederholung dieser wichtigen Zusammenhänge sei an dieser Stelle auf die gut verständliche Darstellung bei Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 23. Auflage, Rn. 7 ff. verwiesen). Anders als in zahlreichen Fällen zur Haftung wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten (siehe etwa hier, hier und hier) liegt nämlich eine vertragliche Beziehung zwischen den Parteien vor, denn

Indem die Klägerin die Geschäftsräume der Beklagten betreten hat, um Waren zu erwerben, ist gemäß § 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB entstanden.

Da eine Verletzung dieser Pflichten in Rede steht, ist die Anspruchsgrundlage folglich nicht, wie sonst häufig, § 823 Abs. 1 BGB, sondern §§ 280, 311 Abs. 2 Nr. 2, 241 Abs. 2 BGB zu entnehmen.
II. Tatbestandsvoraussetzungen
1. Schuldverhältnis
Die Entstehung eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses zwischen der Kundin und dem Betreiber des Baumarkts (§ 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB) wurde bereits dargelegt.
2. Pflichtverletzung
Der Betreiber des Baumarkts müsste eine Pflicht aus diesem Schuldverhältnis verletzt haben. Einem Schuldverhältnis nach § 311 Abs. 2 BGB erwachsen insoweit nur die Schutzpflichten des § 241 Abs. 2 BGB. Gegenstand der Schutzpflichten nach § 241 Abs. 2 BGB ist u.a. die Pflicht zur Erhaltung des Integritätsinteresses und folglich – soweit möglich – die Vermeidung von Verletzungen potentieller Vertragspartner.
Zur Konkretisierung der Reichweite dieser Pflicht werden die zu den insoweit inhaltsgleichen Verkehrssicherungspflichten im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB entwickelten Grundsätze entsprechend herangezogen (siehe etwa BGH, Urteil vom 09.09.2008 – VI ZR 279/06 Rz. 9 (juris)). § 241 Abs. 2 BGB ist folglich verletzt, wenn der Baumarktbetreiber eine ihm obliegende Verkehrssicherungspflicht verletzt hat.
Es empfiehlt sich bei der weiteren Bearbeitung eine zweistufige Prüfung: Zuerst sollte man abstrakt den genauen Inhalt der Verkehrssicherungspflicht bestimmen, um dann im zweiten Schritt die Anwendung auf den konkreten Fall vornehmen zu können.
a) Inhalt der Verkehrssicherungspflicht
Der Prüfungsmaßstab richtet sich nach den zu § 823 Abs. 1 BGB entwickelten Kriterien:

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH und der Obergerichte ist derjenige, der eine Gefahrenlage schafft, grundsätzlich dazu verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern.

Einzelhandelsunternehmen sind – das ist in der Rechtsprechung schon lange anerkannt – grundsätzlich Adressaten von Verkehrssicherungspflichten. Dem folgt auch das OLG Hamm:

Diese Verpflichtung trifft auch ein Einzelhandelsunternehmen in Bezug auf seine Geschäftsräume.

 
Im Hinblick auf die Bestimmung der Reichweite der Verkehrssicherungspflicht hat das Einzelhandelsunternehmen

in den Grenzen des technisch Möglichen und wirtschaftlich Zumutbaren dafür zu sorgen, dass die Kunden durch die angebotene Ware und den Zustand der Geschäftsräume – insbesondere auch des Fußbodens – keine Schäden erleiden.

Der Umfang der damit korrespondierenden Kontrollpflichten

hängt dabei von den Umständen des Einzelfalls ab – u.a. von der Kundenfrequenz, der Witterung sowie dem von den zum Verkauf angebotenen Waren ausgehenden Gefahrenpotential.

Verschiedenartige Einzelhandelsunternehmen sind, wie das OLG Hamm ausführt, bereits Gegenstand der Rechtsprechung zu Verkehrssicherungspflichten gewesen:

  • Obst- und Gemüseabteilung eines Supermarktes: große Rutschgefahr – Reinigung des Bodens durch eine bestimmte Person in kurzen Abständen (15 bis 20 Minuten) + Überwachung durch die Laden- und Abteilungsaufsicht  (OLG Koblenz, NJW-RR 1995, 158).
  • Selbstbedienungs-Drogeriemarkt: nur ausnahmsweise Rutschgefahr – regelmäßige Kontrolle (alle 30 Minuten) (OLG Hamm, NJW-RR 2002, 171).
  • Warenhaus: ständige Anwesenheit eines mit der Ladensicherheit betrauten Mitarbeiters + Anweisung aller Mitarbeiter, auf Verunreinigungen zu achten und diese zu beseitigen oder zu melden (OLG Köln, VersR 2009, 233).
  • Lebensmittelmarkt mit einer Größe von 650 m²: Anweisung aller Mitarbeiter, den Zustand des Bodens regelmäßig zu kontrollieren und Verunreinigungen sogleich zu beseitigen + regelmäßige Kontrolle der Einhaltung dieser Weisungen durch den Filialleiter (wobei diese Kontrolle im Kassenbereich alle 10 bis 15 Minuten erfolgt) (OLG Köln, VersR 1997, 1113)

Bei der Bestimmung der Verkehrssicherungspflicht des Betreibers eines Selbstbedienungsbaumarkts ist vor diesem Hintergrund zu berücksichtigen:

dass ihr Warensortiment zwar nicht das Gefahrenpotential des Warensortiments eines Lebensmittelmarktes, insbesondere einer Obst- und Gemüseabteilung, hat. Die meisten Artikel sind verpackt, so dass eine Rutschgefahr durch den Inhalt der Verpackungen nur bei geöffneten oder beschädigten Verpackungen besteht. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass in dem von der Beklagten betriebenen Baumarkt auch Pflanzen verkauft werden, die üblicherweise nicht verpackt sind. Von diesen Pflanzen geht die Gefahr aus, dass sie Teile – wie z.B. Blätter – verlieren und dass aus der bewässerten Erde Wasser austritt. Insbesondere auch im Hinblick auf diese Gefahr muss der Betreiber eines Baumarktes für regelmäßige Kontrollen sorgen. Diese Verpflichtung betrifft im besonderen Maße den Kassenbereich, den die Kunden mit Waren aller Art passieren und in dem die Aufmerksamkeit durch die ggf. mit sich geführten Waren, das Warensortiment sowie die Verkaufsvorgänge abgelenkt ist. Die Abstände der Kontrollen hängen von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere auch dem Kundenaufkommen.

Daraus ergibt sich nach Ansicht der Gerichts das folgende Pflichtenprogramm:

Bei einem durchschnittlich starken Kundenaufkommen ist eine Kontrolle im Abstand von 30 Minuten erforderlich und ausreichend. Die generelle Anweisung an alle Mitarbeiter, auf Verunreinigungen insbesondere im Kassenbereich zu achten, ist nur dann ausreichend, wenn eine Person für die regelmäßige Kontrolle dieser Anweisung verantwortlich ist und diese auch in kurzen Abständen durchführt.

b) Einhaltung der so besitmmten Verkehrssicherungspflicht durch den Baumarktbetreiber
Der Baumarktbetreiber hat nach Ansicht des OLG Hamm seine Verkehrssicherungspflicht verletzt, denn:

Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ist der im Rahmen der sekundären Darlegungslast erfolgte Vortrag der Beklagten, Sichtkontrollen im Kassenbereich hätten in Intervallen von 15 bis 30 Minuten stattgefunden und seien von der Filialleitung regelmäßig überprüft worden, so dass 10 Minuten vor dem Sturz der Zeuge M den Bereich vor der Kasse Nr. 1 überprüft und dabei keine Bodenverunreinigungen festgestellt habe, nicht bewiesen.

In einer Klausur des ersten Staatsexamens würde man hier freilich eher mit einem unstreitigen Sachverhalt konfrontiert werden, dessen Subsumtion dann vermutlich auch keine größeren Schwierigkeiten bereiten dürfte.
c) Zwischenergebnis
Eine Pflichtverletzung im Sinne des §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB liegt in Form der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht vor.
3. Kausalität – Anscheinsbeweis
Die entstandenen Schäden müssten kausal auf die Pflichtverletzung zurück zu führen sein. Ein typischer Beklagteneinwand ist insoweit die Behauptung, es sei nicht aufgrund der Verkehrssicherungspflichtverletzung, sondern aufgrund einer anderen Ursache zu dem Sturz gekommen.
Auch im ersten Examen können Sachverhalte mitunter so gestaltet sein, dass die Kausalität nicht mit Sicherheit feststeht. Das ist aber nicht weiter problematisch, wenn und weil dann zumindest feststehen wird, dass zur Zeit des Unfalls eine Flüssigkeit auf dem Boden befand und dass die Klägerin an genau dieser Stelle gestürzt ist. So kann die Entscheidung nämlich auf Grundlage eines Anscheinsbeweises getroffen werden:

Aufgrund des Anscheinsbeweises ist weiter davon auszugehen, dass die Klägerin wegen des verkehrssicherungswidrigen Zustands des Fußbodens gestürzt und sich am Knie verletzt hat. Kann festgestellt werden, dass sich zur Zeit des Unfalls eine Flüssigkeit auf dem Boden befand und dass die Klägerin an dieser Stelle gestürzt ist, so streitet der Anscheinsbeweis dafür, dass die auf der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht beruhende Glätte eine Bedingung für den Sturz der Klägerin war, es bei Beachtung der Verkehrssicherungspflicht also nicht zu dem Unfall gekommen wäre.
Weiter ist das Landgericht im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagte als Betreiberin des Baumarktes in diesem Fall die tatsächliche Vermutung erschüttern muss, indem sie darlegt und beweist, dass es nicht aufgrund der Verkehrssicherungspflichtverletzung, sondern aufgrund einer anderen Ursache zu dem Sturz gekommen ist. Daran fehlt es vorliegend.

Die Kausalität ist damit im Ergebnis zu bejahen.
4. Verschuldensvermutung (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB)

Die Beklagte hat sich nicht gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB entlastet. Insbesondere hat sie nicht dargelegt, dass ihr die Einhaltung der objektiv erforderlichen Verkehrssicherungspflichten subjektiv in der konkreten Situation nicht möglich oder zumutbar war.

5. Mitverschulden (§ 254 BGB)
Das OLG Hamm nimmt schließlich aber noch ein Mitverschulden seitens der Klägerin an, denn:

Die Klägerin hat durch ihre Unaufmerksamkeit dazu beigetragen, dass es zu dem Sturz gekommen ist. Insoweit ist der vom Landgericht angeführte Gesichtspunkt zu berücksichtigen, dass in einem Selbstbedienungs-Baumarkt eine völlige Gefahrlosigkeit von den Kunden nicht erwartet werden kann. Deshalb sind die Kunden eines Selbstbedienungsgeschäftes veranlasst, sich auf die für das Selbstbedienungssystem typischen und vom Betreiber nie völlig auszuräumenden Risiken einzustellen und durch entsprechende Aufmerksamkeit für die eigene Sicherheit zu sorgen. Die danach erforderliche Aufmerksamkeit hat die Klägerin nicht aufgebracht. Dies folgt bereits aus ihren eigenen Angaben im Rahmen der persönlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. Dort hat die Klägerin erklärt, sie habe die Lache nicht gesehen, weil sie beim Gehen ja nicht permanent auf den Boden schaue. Des Weiteren hat die Klägerin den Durchmesser der Lache mit 15 bis 20 cm angegeben – einer Größe, die bei gehöriger Sorgfalt ohne weiteres erkennbar ist. Deshalb ist davon auszugehen, dass – wenn die Klägerin aufmerksam auf den Boden geschaut hätte – sie die Lache erkannt hätte und es nicht zu dem Sturz gekommen wäre.

6. Ergebnis
Der Kundin steht unter Berücksichtigung ihres Mitverschuldens ein Schadensersatzanspruch aus §§ 280, 311 Abs. 2 Nr. 2, 241 Abs. 2 BGB dem Grund nach zu.
B. Fazit
Die Entscheidung des OLG Hamm ist in ihrer gutachterlichen Beurteilung nicht besonders komplex. Die Haftung für aus der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten entstandene Schäden dürfte wohl den meisten Kandidaten bekannt sein (siehe, neben den eingangs schon genannten, zu weiteren jüngeren Entscheidungen hier, hier und hier). Umso wichtiger ist es sicherlich, präzise zu arbeiten und die wenigen Besonderheiten zutreffend und mit der richtigen Gewichtung zu würdigen. Dass vorliegend eine vertragliche Anspruchsgrundlage und nicht § 823 Abs. 1 BGB zu prüfen ist, sollte deshalb besser nicht übersehen werden (auch wenn die Ergebnisse letztlich nicht von einander abweichen dürften). Der Anscheinsbeweis im Rahmen der Kausalität kommt (insbesondere in der Praxis und im zweiten Examen) regelmäßig bei Verkehrssicherungspflichten und sollte deshalb in seinen Grundzügen auch im ersten Examen bekannt sein (häufiger anzutreffen ist die Figur freilich beim Verkehrsunfall).
Sowohl für die Zusatzfrage im ersten Examen als auch für das zweite Examen (dann prozessual eingekleidet) ist daran zu denken, dass wegen des Schmerzensgeldes ein in der Höhe unbestimmter Klageantrag (Ermessen des Gerichts) gestellt werden sollte. So ist einerseits das Gericht nicht gehindert, ein höheres Schmerzensgeld auszuurteilen (Bindung an den Antrag gem. § 308 Abs. 1 ZPO). Andererseits lässt sich auch das Prozesskostenrisiko vermindern. Die Klage ist freilich nur zulässig, wenn im Hinblick auf § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ein Mindestbetrag angegeben wird. Der Feststellungsantrag (§ 256 ZPO) wegen der Ersatzpflicht für zukünftig noch entstehende Schäden ist nach st. Rspr. nur zulässig, wenn zumindest die Möglichkeit weiterer Schäden besteht, da es andernfalls an dem erforderlichen Feststellungsinteresse fehlt.
Zuletzt sei noch angemerkt, dass das OLG Hamm hier als Berufungsgericht über das Bestehen des Anspruchs dem Grunde nach durch Teilurteil entscheiden konnte (und musste), § 304 Abs. 1 ZPO. Zur Entscheidung über die Höhe der geltend gemachten Zahlungsansprüche war der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif und daher an das Landgericht zurückzuverweisen.
 

10.06.2013/0 Kommentare/von Dr. Jan Winzen
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Jan Winzen https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Jan Winzen2013-06-10 08:00:142013-06-10 08:00:14OLG Hamm: Zur Verkehrssicherungspflicht des Baumarktbetreibers
Samuel Ju

BGH: Wenn das Pferd beim Ausritt wegen eines Jagdschusses scheut und sich die Reiterin verletzt…

Deliktsrecht, Zivilrecht, Zivilrecht

Der BGH hat in einem Urteil vom 15.02.2011 (VI ZR 176/10, veröffentlicht am 10.03.2011) entschieden, dass Schussgeräusche einer Jagd im Allgemeinen für sich noch keine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter begründen.
Sachverhalt
A und B ritten mit ihren Pferden auf einem Waldweg in der Nähe eines Jagdgebietes. Auf der Hälfte der Reitstrecke vernahmen sie einen Schuss, setzten aber ihren Ausritt fort. Kurze Zeit später scheute jedoch das Pferd der A. A stürzte und zog sich Verletzungen zu. A verlangt von dem Jagdleiter Schmerzensgeld. A bringt vor, ihr Pferd habe wegen eines weiteren Schusses durch einen der Jagdteilnehmer gescheut.  Zudem hätten Hinweis- oder Warnschilder auf den Wegen zum Jagdgebiet gefehlt. Zu klären waren die Anforderungen an den Umfang der Verkehrssicherungspflicht eines Verantwortlichen einer Treibjagd im Zusammenhang mit Schussgeräuschen.
Entscheidung des BGH
Der BGH hat im vorliegenden Fall eine Verkehrssicherungspflicht verneint, die dem Zweck diene, andere vor den von Schussgeräuschen bei einer Treibjagd ausgehenden Gefahren zu schützen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren.
Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr daher erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise – hier: der Jagdveranstalter und -leiter – für ausreichend halten darf, um andere Personen – hier: Jagdbeteiligte, Reiter, Spaziergänger und Teilnehmer am allgemeinen Straßenverkehr – vor Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach zuzumuten sind (vgl. Senat, Urteil vom 6. Februar 2007 – VI ZR 274/05, aaO, Rn. 15 mwN).
Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem Schaden, so muss der Geschädigte – so hart dies im Einzelfall sein mag – den Schaden selbst tragen (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Senat, Urteil vom 6. Februar 2007 – VI ZR 274/05, aaO, Rn. 16). So liegt der Fall hier.
Der Beklagte war nicht verpflichtet, die Klägerin vor den unkontrollierbaren Reaktionen des Pferdes auf ein Schussgeräusch zu schützen.
…
Besondere Maßnahmen zur Warnung vor Schussgeräuschen mussten danach vom Beklagten nicht getroffen werden. Im Allgemeinen begründen Schussgeräusche für sich keine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter. Es handelt sich um Lärmbeeinträchtigungen, mit denen allgemein in Waldgebieten gerechnet wird und die hinzunehmen sind. Die Warnpflicht vor solchen Geräuschen, die individuell sehr unterschiedlich aufgenommen werden, wäre mit einem vernünftigen praktischen Aufwand auch nicht erfüllbar. Die Wirkung von Schussgeräuschen auf Menschen und Tiere ist von vornherein kaum abschätzbar. Sie ist jedenfalls nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen schadensträchtig, so wenn etwa der Schuss in unmittelbarer Nähe des Reiters abgegeben wird.

Inwiefern die Problematik der Verkehrssicherungspflicht im Rahmen dieser Entscheidung bei einer Klausur eine Rolle spielen kann, nimmt Prof. Stephan Lorenz wie folgt Stellung:

Die Verkehrssicherungspflichten spielen bei der deliktischen Haftung zwei unterschiedlichen Rollen: Sie werden herangezogen bei der Verletzung durch Unterlassen, weil dieses dem Handeln nur gleichsteht, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand. Im Prüfungsaufbau des § 823 BGB sind sie damit bereits bei der Frage eine Handlung des Schadensersatzverpflichteten zu prüfen. Darauf kam es hier nicht an.
Bei bloß mittelbaren Verletzungshandlungen wird – anders als bei einer unmittelbaren Verletzung – die Rechtswidrigkeit nicht indiziert (so die Lehre vom Erfolgsunrecht), sondern muss positiv festgestellt werden (Lehre vom Handlungsunrecht). Darum geht es hier. Im Klausuraufbau wären die hier diskutierten Fragen also unter dem Prüfungspunkt „Rechtswidrigkeit“ zu behandeln.

24.03.2011/0 Kommentare/von Samuel Ju
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Samuel Ju https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Samuel Ju2011-03-24 08:47:312011-03-24 08:47:31BGH: Wenn das Pferd beim Ausritt wegen eines Jagdschusses scheut und sich die Reiterin verletzt…

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