BGH: Wenn das Pferd beim Ausritt wegen eines Jagdschusses scheut und sich die Reiterin verletzt…
Der BGH hat in einem Urteil vom 15.02.2011 (VI ZR 176/10, veröffentlicht am 10.03.2011) entschieden, dass Schussgeräusche einer Jagd im Allgemeinen für sich noch keine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter begründen.
Sachverhalt
A und B ritten mit ihren Pferden auf einem Waldweg in der Nähe eines Jagdgebietes. Auf der Hälfte der Reitstrecke vernahmen sie einen Schuss, setzten aber ihren Ausritt fort. Kurze Zeit später scheute jedoch das Pferd der A. A stürzte und zog sich Verletzungen zu. A verlangt von dem Jagdleiter Schmerzensgeld. A bringt vor, ihr Pferd habe wegen eines weiteren Schusses durch einen der Jagdteilnehmer gescheut. Zudem hätten Hinweis- oder Warnschilder auf den Wegen zum Jagdgebiet gefehlt. Zu klären waren die Anforderungen an den Umfang der Verkehrssicherungspflicht eines Verantwortlichen einer Treibjagd im Zusammenhang mit Schussgeräuschen.
Entscheidung des BGH
Der BGH hat im vorliegenden Fall eine Verkehrssicherungspflicht verneint, die dem Zweck diene, andere vor den von Schussgeräuschen bei einer Treibjagd ausgehenden Gefahren zu schützen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren.
Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr daher erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise – hier: der Jagdveranstalter und -leiter – für ausreichend halten darf, um andere Personen – hier: Jagdbeteiligte, Reiter, Spaziergänger und Teilnehmer am allgemeinen Straßenverkehr – vor Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach zuzumuten sind (vgl. Senat, Urteil vom 6. Februar 2007 – VI ZR 274/05, aaO, Rn. 15 mwN).
Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem Schaden, so muss der Geschädigte – so hart dies im Einzelfall sein mag – den Schaden selbst tragen (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Senat, Urteil vom 6. Februar 2007 – VI ZR 274/05, aaO, Rn. 16). So liegt der Fall hier.
Der Beklagte war nicht verpflichtet, die Klägerin vor den unkontrollierbaren Reaktionen des Pferdes auf ein Schussgeräusch zu schützen.
…
Besondere Maßnahmen zur Warnung vor Schussgeräuschen mussten danach vom Beklagten nicht getroffen werden. Im Allgemeinen begründen Schussgeräusche für sich keine potentielle Gefahr für Rechtsgüter Dritter. Es handelt sich um Lärmbeeinträchtigungen, mit denen allgemein in Waldgebieten gerechnet wird und die hinzunehmen sind. Die Warnpflicht vor solchen Geräuschen, die individuell sehr unterschiedlich aufgenommen werden, wäre mit einem vernünftigen praktischen Aufwand auch nicht erfüllbar. Die Wirkung von Schussgeräuschen auf Menschen und Tiere ist von vornherein kaum abschätzbar. Sie ist jedenfalls nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen schadensträchtig, so wenn etwa der Schuss in unmittelbarer Nähe des Reiters abgegeben wird.
Inwiefern die Problematik der Verkehrssicherungspflicht im Rahmen dieser Entscheidung bei einer Klausur eine Rolle spielen kann, nimmt Prof. Stephan Lorenz wie folgt Stellung:
Die Verkehrssicherungspflichten spielen bei der deliktischen Haftung zwei unterschiedlichen Rollen: Sie werden herangezogen bei der Verletzung durch Unterlassen, weil dieses dem Handeln nur gleichsteht, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand. Im Prüfungsaufbau des § 823 BGB sind sie damit bereits bei der Frage eine Handlung des Schadensersatzverpflichteten zu prüfen. Darauf kam es hier nicht an.
Bei bloß mittelbaren Verletzungshandlungen wird – anders als bei einer unmittelbaren Verletzung – die Rechtswidrigkeit nicht indiziert (so die Lehre vom Erfolgsunrecht), sondern muss positiv festgestellt werden (Lehre vom Handlungsunrecht). Darum geht es hier. Im Klausuraufbau wären die hier diskutierten Fragen also unter dem Prüfungspunkt „Rechtswidrigkeit“ zu behandeln.
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