Der Beitrag befasst sich mit den Grundlagen zur Prüfung der europäischen Grundfreiheiten. Die Verfasserin bedankt sich bei Herrn Sören Hemmer für hilfreiche Anregungen und Ergänzungen zum Inhalt des Beitrags.
Wenn es um die Prüfung von Europarecht im ersten Staatsexamen geht, sind viele Kandidaten unsicher – denn der Materie wird in Studium und Repetitorium häufig nicht die gebührende Zeit im Lehr- und Lernplan eingeräumt. Dabei sind europarechtliche Klausuren im ersten Staatsexamen längst keine Seltenheit mehr. Dieser Beitrag ist daher einer unionsrechtlichen Thematik gewidmet, die in verschiedenen Einkleidungen in einer Klausur auftauchen kann: Es geht um die europäischen Grundfreiheiten. Welche Grundfreiheiten gibt es? Welche Bedeutung haben sie? Wie werden sie geprüft? Und: Wie sehen Klausurkonstellationen aus? All dies soll im Folgenden dargestellt und erläutert werden, um so zu einem grundlegenden Verständnis der Grundfreiheiten beizutragen, damit die Examensklausur im Ernstfall gemeistert werden kann. (Wer nur eine kurze Auffrischung benötigt, wird auch hier fündig.)
I. Welche Grundfreiheiten gibt es?
Die folgenden Definitionen sind der Darstellung bei Sauer, JuS 2017, 310, 314 entnommen.
Warenverkehrsfreiheit Art. 34 AEUV
Ware ist jeder körperliche Gegenstand, der einen Marktwert hat und Gegenstand eines Handelsgeschäfts sein kann Die Ware muss aus der Union stammen oder sich im freien Verkehr befinden, Art. 28 Abs. 2 AEUV.
Arbeitnehmerfreizügigkeit Art. 45 AEUV
Arbeitnehmer ist jeder Unionsbürger (Art. 20 Abs. 1 AEUV), der unselbstständig gegen Entgelt eine wirtschaftlich verwertbare Tätigkeit verrichtet.
Niederlassungsfreiheit Art. 49 AEUV
Eine Niederlassung ist anzunehmen, wenn jemand durch eine feste Basis dauerhaft am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats teilnimmt.
Dienstleistungsfreiheit Art. 56 AEUV
Dienstleistungen sind gegen Entgelt selbstständig erbrachte Leistungen, soweit sie von keiner anderen Grundfreiheit erfasst werden.
Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63 AEUV
Unter den Kapital- und Zahlungsverkehr fällt der grenzüberschreitende Verkehr mit Sach- und Geldkapital zu Anlagezwecken – diese Grundfreiheit wird wegen ihrer sehr geringen Prüfungsrelevanz (Sauer, JuS 2017, 310, 314) im Nachfolgenden „ausgeblendet“ (s. aber Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407, 412).
II. Welche Bedeutung haben die Grundfreiheiten?
Die europäischen Grundfreiheiten sind ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Binnenmarkts (Sauer, JuS 2017, 310, 311). Durch sie können Behinderungen des gemeinsamen Binnenmarktes durch Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten verhindert werden, indem sie einen Ausgleich zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten und der Union ermöglichen (Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407) – sie haben eine sogenannte negative Integrationsfunktion (Sauer, JuS 2017, 310, 312). Während die Grundfreiheiten ursprünglich eher den Charakter von Diskriminierungsverboten innehatten, wurde sie durch die Rechtsprechung des EuGH immer mehr zu Beschränkungsverboten ausgebaut (hierzu ausführlich Sauer, JuS 2017, 310).
1. Wer kann sich auf Grundfreiheiten berufen?
Die Grundfreiheiten sie sind (auch) subjektive Rechte, auf die sich der einzelne unionsweit unmittelbar berufen kann (Sauer, JuS 2017, 310, 311). Allerdings muss der Sachverhalt einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen – auf ausschließlich inländische Sachverhalte sind die Grundfreiheiten nicht anwendbar (Bieber, Die Europäische Union, 15. Aufl. 2023, S. 340; zu den
2. Wer ist Adressat der Grundfreiheiten?
Adressaten der Grundfreiheiten sind zunächst die Mitgliedstaaten und damit sämtliche ihrer jeweiligen staatlichen Stellen (Sauer, JuS 2017, 310, 314). Aber auch die Unionsorgane, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU sind den Grundfreiheiten verpflichtet (Streinz/W. Schroeder, 3. Aufl. 2018, Art. 34 AEUVRn. 29). Nur in Einzelfällen hat der EuGH auch eine „Drittwirkung“ der Grundfreiheiten in Privatrechtsverhältnisse anerkannt, z.B. bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 45 AEUV bei mächtigen Wirtschafts-, Gewerkschafts- oder Sportverbänden (Sauer, 2017, 310, 314 m.N. der EuGH-Rechtsprechung).
III. Wie werden die Grundfreiheiten geprüft?
Die Prüfung der Grundfreiheiten ähnelt der Prüfung der Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes, d.h, es wird zunächst geprüft ob die jeweilige Grundfreiheit einschlägig ist (Anwendungsbereich ähnlich zum Schutzbereich), sodann ob eine Beschränkung vorliegt (ähnlich zum Eingriff) und zuletzt, ob die Beschränkung gerechtfertigt ist.
Zum Verständnis der Systematik bei der Prüfung der Grundfreiheiten, sind vorweg jedoch noch einige Erläuterungen anzubringen. Im Kern geht es darum, dass die übergeordnete Prüfsystematik sich stark aus der Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit entwickelt hat und diese dann auf andere Grundfreiheiten übertragen wurde. Daher wird zunächst die Entwicklung dieser Rechtsprechung anhand der wegweisenden Entscheidungen nachgezeichnet und danach das sich daraus ergebende Prüfungsschema erläutert.
1. Die Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit
Die maßgeblichen Entscheidungen, die die Prüfung der Grundfreiheiten vorgeben, sind die in den Rechtssachen Dassonville (EuGH, Urt. v. 11.6.1975 – Rs. 8/74), Keck (EuGH, Urt. v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91, Rs. C-268/91) und Cassis de Dijon (EuGH, Urt. v. 20.2.1979 – Rs. 120/78).
a) Dassonville
Ausgangspunkt der Entscheidung in der Rechtssache Dassonville ist Art. 34 AEUV, der mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verbietet (die Rechtfertigungsmöglichkeiten nennt Art. 36 AEUV). Der EuGH definierte die „Maßnahmen gleicher Wirkung“ in seiner Entscheidung wie folgt:
„Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern […].“ (EuGH, Urt. v. 11.6.1975 – Rs. 8/74, Ls. 1)
Damit sind auch Maßnahmen erfasst, die nur potenziell, also nur möglicherweise den freien Waren- oder Personenverkehr behindern, was eine Ausweitung der Warenverkehrsfreiheit und der übrigen Grundfreiheiten zu umfassenden Beschränkungsverboten bewirkt hat (Sauer, JuS 2017, 310, 312).
b) Keck
Den nunmehr sehr weit geratenen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten hat der EuGH später durch seine Entscheidung in der Rechtssache Keck etwas korrigiert. In dieser Entscheidung führte der EuGH die Unterscheidung zwischen Beschränkungen beim Marktzutritt und Beschränkungen nach Marktzutritt (Synonym werden die Begriffe produkts- und vertriebsbezogene Beschränkung verwendet) ein. Erstere, also Beschränkungen bei Markzutritt fallen immer unter die Dassonville-Rechtsprechung, d.h. es genügt eine potenzielle Behinderung, um eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung anzunehmen. Anders aber bei den Beschränkungen nach Markzutritt. Hier besteht ein geringeres Schutzbedürfnis, sodass kein umfassendes Beschränkungsverbot notwendig ist (Sauer, JuS 2017, 310, 313). Vielmehr kommt der ursprüngliche Charakter der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote zum Tragen, denn eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung liegt nur dann vor, wenn die Regelung ausländische Waren aufgrund der Herkunft diskriminiert (EuGH, Urt. v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91, Rs. C-268/91 Rn. 16).
Achtung: In neuerer Rechtsprechung wird teilweise von einem „Drei-Stufen-Test“ (EuGH, Urt. v. 10.2.2009 – C-110/05) gesprochen. Dabei wird auf der ersten Stufe danach gefragt, ob die Maßnahme des Mitgliedstaates bezweckt oder bewirkt, dass Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig behandelt werden; auf der zweiten Stufe danach, ob Hemmnisse für den freien Warenverkehr bestehen, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen, selbst dann, wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten; und auf der dritten Stufe danach, ob durch die Maßnahme der Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindert wird (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/T. Streinz, 80. EL 2023, Art. 34 AEUV Rn. 85). Beide Ansätze führen in den meisten Fällen zu demselben Ergebnis. Für die Klausur ist es daher ratsam, beide Ansätze darzustellen, es im Ergebnis jedoch offenzulassen, welche Formel vorzugswürdig ist (s. zum „Drei-Stufen-Test“ auch Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407, 408).
c) Cassis de Dijon
Mit der Dassonville-Entscheidung ist nicht nur der Anwendungsbereich zu weit geraten, sondern auch die vorgesehenen Rechtfertigungsmöglichkeiten (Art. 36, 45 Abs. 3, 52 und 62 AEUV) passten nicht mehr zu dem weiten Beschränkungsbegriff. Darauf hat der EuGH in der Entscheidung zur Rechtssache Cassis de Dijon reagiert, indem er ungeschriebene Rechtfertigungsgründe anerkannt hat, nämlich sog. zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses. Dabei handelt es sich um einen offenen Katalog, d.h. die Mitgliedstaaten können (nicht wirtschaftliche) Gemeinwohlbelange vortragen, die ihres Erachtens nach unter diese Erfordernisse des Allgemeininteresses fallen, ohne dass dieser spezifische Grund schon in der Rechtsprechung anerkannt sein muss (Sauer, JuS 2017, 310, 313). Diese Gemeinwohlbelange sind dann im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung mit den Belangen der jeweiligen Grundfreiheit abzuwägen.
Diese ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe können jedoch nicht bei einer unmittelbaren Diskriminierung herangezogen werden – für diese Fälle bleibt es bei den geschriebenen Rechtfertigungsgründen (Streinz, Europarecht, 12. Aufl. 2023, Rn. 933). Ungeklärt ist jedoch bislang, ob die Erfordernisse des Allgemeinwohls zur Rechtfertigung einer Beschränkung der Grundfreiheiten durch mittelbare Diskriminierung herangezogen werden können. Die Rechtsprechung des EuGH ist hier uneinheitlich (s. Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 84). Dafür spricht aber, dass es im Einzelfall schwierig sein kann zu ermitteln, ob eine mittelbare Diskriminierung oder eine den Marktzutritt beschränkende Regelung ohne Diskriminierung vorliegt und dazu eine häufig subjektiv ausfallende Wertung erforderlich ist (Sauer, JuS 2017, 310, 313).
Alle drei Entscheidungen werden mit Sachverhalt kompakt dargestellt bei Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407, 409 f.
2. Das Prüfungsschema
Das sich aus alledem ergebende Prüfungsschema ordnet sich wie folgt (zugrunde gelegt wurde die Darstellung bei Sauer, JuS 2017, 310, 314 f.):
1. Tatbestand
a) Anwendbarkeit (kein lex specialis im Unionsrecht)
Durch ihre negative Integrationsfunktion sind die Grundfreiheiten nur anwendbar, wenn kein sekundäres Unionsrecht in demselben Fall anwendbar ist.
b) Anwendungsbereich
Hier muss unter die Definition der jeweiligen Grundfreiheit subsumiert werden.
c) ggf. Abgrenzung andere Grundfreiheiten
Gerade die Dienstleistungsfreiheit muss von den anderen Grundfreiheiten abgegrenzt werden, da sie nur Anwendung findet, wenn keine andere Grundfreiheit einschlägig ist.
d) Staatliche Maßnahme
Geht die Maßnahme von einem der Adressaten der Grundfreiheiten aus? Wenn sie von einem privaten Akteur ausgeht, muss geprüft werden, ob sie einem Adressaten der Grundfreiheiten zugerechnet werden kann.
e) Grenzüberschreitender Bezug
Ausschließlich inländische Sachverhalte bieten keinen Anwendungsbereich für die Grundfreiheiten.
f) ggf. Bereichsausnahme
Im Falle der geregelten Bereichsausnahmen ist die jeweilige Grundfreiheit nicht anwendbar, s. Art. 45 Abs. 4, 51, 62 AEUV.
2. Beschränkung
Der Prüfungsaufbau unterscheidet sich danach, ob die Warenverkehrsfreiheit oder eine andere Grundfreiheit betroffen ist, da der Einstieg über die Dassonville-Rechtsprechung an den Wortlaut von Art. 34 AEUV anknüpft.
a) Für die Warenverkehrsfreiheit
aa) Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung oder Maßnahme gleicher Wirkung?
Liegt eine Beschränkung i.S.d. Dassonville-Rechtsprechung vor? Eine Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung wird im Klausurfall kaum vorliegen (Sauer, JuS 2017, 310, 314).
bb) Anwendung der Keck-Rechtsprechung
Unterscheidung zwischen Beschränkung bei Markzutritt und nach Marktzutritt, wobei letztere nur bei einer Diskriminierung wegen der Herkunft tatbestandsmäßig ist.
cc) Anwendung der Drei-Stufen-Rechtsprechung
Eine Maßnahme bezweckt oder bewirkt Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten weniger günstig zu behandeln (1), stellt Hemmnisse für den freien Warenverkehr dar, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedsstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen, selbst dann, wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten (2) oder behindert den Zugang zum Markt eines Mitgliedsstaats (3) (EuGH, Urt. v. 10.2.2009 – Rs. C-100/05 Rn. 35, 37).
b) Bei anderen Grundfreiheiten
aa) Liegt eine Beschränkung durch Diskriminierung wegen der Herkunft vor?
Wenn (+): ausdrücklich feststellen, dass es eines Rückgriffs auf die Keck-Rechtsprechung nicht Bedarf
bb) Wenn keine Diskriminierung vorliegt: Anwendung der Keck-Rechtsprechung
Liegt eine diskriminierungsfreie Maßnahme vor, die den Marktzutritt betrifft, sodass auch ohne Diskriminierung eine Beeinträchtigung vorliegt?
3. Rechtfertigung
a) Schranken
Die Grundfreiheiten sind nicht vorbehaltslos gewährleistet, sodass Beschränkungen ggf. gerechtfertigt sein können.
aa) Geschriebene Schranken
Zunächst ist auf die jeweiligen geschriebenen Schranken einzugehen, welche eng auszulegen sind (Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Rn. 78): Art. 36, 45 Abs. 3, 52 Abs. 1 AEUV (letzterer ggf. i.V.m. Art. 62 AEUV)
bb) Kollidierendes Primärrecht
Schranken können sich auch aus anderem Unionsrecht ergeben, wenn es sich um Normen handelt kollidierende Allgemein- und Individualinteressen schützen. Gemeint sind Normen, „die aufgrund ihrer dogmatischen Struktur als Befugnisnormen für Eingriffe taugen“ (Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 79). Dazu zählen u.a. die Unionsgrundrechte (Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 79). Auf den Schutz der Grundrechte der Mitgliedstaaten kann als Rechtfertigungsgrund nur abgestellt werden, wenn es eine parallele Gewährleistung im Unionsrechts gibt und ein angemessener Ausgleich zwischen grundfreiheitlich und grundrechtlich geschütztem Rechtsgut gewährleistet ist (Sauer, JuS 2017, 310, 314). Es ist daher vorzugswürdig auf die Unionsgrundrechte abzustellen (vgl. Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 81). Zudem können die Grundrechte aus der EMRK herangezogen werden, Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 GRCh.
cc) Ungeschriebene Schranken (Cassis de Dijon)
Bei Beschränkungen ohne Diskriminierung kann auf ungeschriebene Rechtfertigungsgründe rekurriert werden, nämlich auf die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses. Bei mittelbaren Diskriminierungen bedarf es zumindest einer Argumentation (s. oben unter III.1.c)) bevor auf ungeschriebene Schranken zurückgegriffen werden darf.
c) Schranken-Schranke
Wie aus der Grundrechtsdogmatik bekannt sind auch Beschränkungen von Grundfreiheiten einer Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterziehen, wobei auf die bekannte Prüfung Legitimer Zweck (1), Geeignetheit (2), Erforderlichkeit (3) und Angemessenheit (4) zurückgegriffen werden kann (Sauer, JuS 2017, 310, 315). Vom EuGH selbst wird die Prüfung nur auf den ersten drei Stufen (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit) durchgeführt – in der deutschen Rechtsordnung wird jedoch die bekannte vierstufige Prüfung bevorzugt, sodass diese in der Klausur auch angewendet werden kann (Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407, 410 f.). Auch hier können die Unionsgrundrechte ins Spiel kommen, indem sie in die Abwägung einzubeziehen sind. Sie haben dann nicht wie oben die Funktion als Rechtfertigungsgrund, sondern eben als Schranken-Schranke (Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 101, der auch auf zunehmende Kritik des Schrifttums hieran mit Blick auf Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh hinweist).
IV. Klausurkonstellationen
In Klausuren kann die Prüfung von Grundfreiheiten unterschiedlich eingekleidet sein. Möglich ist, dass lediglich materiell geprüft wird, d.h. lediglich die Frage gestellt ist, ob eine Maßnahme einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten begründet.
Diese materielle Frage kann aber auch prozessual eingekleidet sein. Zum einen durch nationales Prozessrecht, bspw. wenn ein Bürger sich durch eine Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt wehrt, weil er der Meinung ist, der Verwaltungsakt verstoße gegen eine Grundfreiheit. Bei Erledigung kann dieselbe Fragestellung dann in eine Fortsetzungsfeststellungsklage eingebettet sein.
Darüber hinaus ist eine Einkleidung in die Verfahren vor den europäischen Gerichten möglich (s. hierzu die Beiträge zu den Verfahren vor den Europäischen Gerichten Teil 1 und Teil 2). Bspw. kann die Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens die Verletzung von Grundfreiheiten durch einen Mitgliedstaat geltend machen oder es ist im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens herauszufinden, ob die Grundfreiheiten so auszulegen sind, dass eine Norm eines Mitgliedstaats damit nicht in Einklang steht. Denkbar ist auch eine Nichtigkeitsklage gegen einen Sekundärrechtsakt. Die möglichen Klausurkonstellationen sind also vielgestaltig (s. dazu auch Sauer, JuS 2017, 310, 315 f.). Mit einem grundlegenden Verständnis der hier vorgestellten Prüfungssystematik der Grundfreiheiten sollte aber dennoch eine überzeugende Prüfung gelingen!