Die Verfassungsbeschwerde in der Klausurbearbeitung – Übersicht und Hilfestellungen für eine erfolgreiche Klausur
Die Verfassungsbeschwerde ist für viele Studierende einer der ersten Klagearten, die sie für die Klausurbearbeitung beherrschen müssen. Vom Grundstudium bis zum Examen werden sie regelmäßig damit konfrontiert sein. In der Klausurpraxis zeigt sich jedoch, dass die Handhabung dieses Verfahrens erhebliche Probleme bereitet, sodass viele bereits an den Grundzügen der Zulässigkeit scheitern. Dieser Beitrag gibt einen systematischen Überblick über die wichtigsten Konstellationen und hilft dabei, in der Klausur die richtigen Schwerpunkte zu setzen. Fernerhin werden zahlreiche Hinweise und Tipps gegeben, wie die Klausurlösung souverän gemeistert werden kann.
I. Vorbemerkungen
„Das Bundesverfassungsgericht ist unter Volllast“ – mit dieser lakonischen Formulierung lässt sich der Bedeutungsgehalt der Verfassungsbeschwerde zutreffend beschreiben. Wie kein anderes Verfahren beschäftigt die Verfassungsbeschwerde die sechzehn Richter der beiden Senate, die allein im Jahr 2013 nach der veröffentlichen Jahresstatistik des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) 6.686 Mal erhoben wurde, womit sie ca. 96 % der Gesamtverfahren darstellt. Allein diese hohe Zahl an Verfahrenseingängen zeigt schon dessen praktische Relevanz, sodass es sich auch hervorragend für Prüfungen eignet. In prozessualer Hinsicht weist das Verfahren einige Besonderheiten auf, die bisweilen von vielen Studierenden nicht beherrscht werden, was häufig zu massiven Punktabzügen führt, die jedoch leicht vermeidbar sind.
In den verschiedenen Lehrbüchern finden sich häufig unterschiedliche Schemata, sodass die folgende Übersicht nur einen Vorschlag darstellt, der jedoch aus Sicht des Verfassers sehr gut handhabbar ist. Dieses Schema dient vor allem als „Checkliste“, damit alle relevanten Prüfungspunkte zumindest gedanklich durchdacht werden. Ergänzt wird die Darstellung durch Verweisung auf zentrale Leitentscheidungen des BVerfG. Lernen Sie die folgenden Darstellungen aber bitte nicht einfach nur auswendig, sondern versuchen Sie, sich anhand der einschlägigen Normen ein grundlegendes Strukturverständnis aufzubauen. Im Verlaufe des Studiums werden Sie merken, dass gerade dies den Unterschied ausmacht und auch ungewöhnliche Fallkonstellationen mit bewährtem Handwerkszeug bewältigt werden können.
II. Einleitung
Im Grundsatz handelt es sich bei der Verfassungsbeschwerde um ein Verfahren zur Sicherung der Grundrechte, das als Primärziel dem Individuum hinreichend effektive Rechtsschutzmöglichkeiten garantiert. Sekundärziel ist die Einhaltung, Auslegung und Fortbildung des objektiven Verfassungsrechts (vgl. BVerfGE 33, 247). Diese ist dabei als außerordentlicher Rechtsbehelf ausgestaltet worden, sodass sie sich nicht in den Kanon der üblichen prozessualen Klagearten einfügt, sondern eine Sonderstellung genießt (vgl. BVerfGE 18, 315). Diese Sonderstellung drückt sich auch in den einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen aus, die sogleich näher erläutert werden. Grundsätzlich gibt es die Verfassungsbeschwerde in drei verschiedenen Ausprägungen (Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde, Urteils-Verfassungsbeschwerde und Einzelakts-Verfassungsbeschwerde), auf deren Unterschiede im Rahmen der einzelnen Prüfungspunkte eingegangen wird.
III. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen im Einzelnen
Die Verfassungsbeschwerde ist dann zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen des Art. 93 I Nr. 4a GG und der §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG vorliegen.
1.Zuständigkeit des BVerfG
Das BVerfG ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden berufen.
Bearbeitungshinweis: Bei der Zuständigkeit genügt ein feststellender Satz. Hierbei ist wiederum zwingend darauf zu achten, dass die Normkette in der o.g. Form korrekt zitiert wird, um nicht gleich zu Beginn der Prüfung Unmut beim Korrektor zu verursachen.
2. Beteiligtenfähigkeit (synonym auch als Parteifähigkeit oder Beschwerdefähigkeit bezeichnet)
Nach § 90 I BVerfGG ist „Jedermann“ das Recht gewährt, Verfassungsbeschwerde zu erheben. Mit der „Jedermann-Eigenschaft“ i.S.d. § 90 I BVerfGG ist derjenige gemeint, der Träger der im konkreten Fall in Betracht kommenden Grundrechte (Art. 1 – 19 GG) oder grundrechtsgleichen Rechte (Art. 20 IV, 33, 38, 101, 103, 104 GG) ist. Dies trifft einerseits auf natürliche Personen und andererseits – unter der Maßgabe des Art. 19 III GG – auch auf juristische Personen zu.
a) Natürliche Personen
Im Grundsatz sind alle natürlichen Personen Träger aller Grundrechte. Ausnahmen erfährt dieser Grundsatz nur bei den sog. „Deutschen-Grundrechten“ (Art. 8 I, Art. 9 I, Art. 11 I, Art. 12 I GG etc.), auf die sich nur Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 116 I GG) berufen können.
Ebenfalls von Bedeutung ist die Frage der Grundrechtsträgereigenschaft des Nasciturus (bereits gezeugtes, aber noch ungeborenes Kind) und von Toten. Der Nasciturus genießt zumindest in Bezug auf die Menschenwürde (Art. 1 I GG, vgl. BVerfGE 39, 1), das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG, vgl. BVerfGE 115, 118) sowie das garantierte Erbrecht (Art. 14 I GG, zur Vertiefung Spranger, AöR 127 (2002), 27 (32)) Grundrechtsschutz. Für Tote existiert lediglich ein sog. postmortaler Persönlichkeitsschutz (Art. 1 I GG, vgl. BVerfGE 30, 173).
b) Juristische Personen
Die Juristischen Personen sind nur dann beteiligtenfähig, wenn die Voraussetzungen des Art. 19 III GG vorliegen. Hierbei ist wiederum zu trennen nach Juristischen Personen des Privatrechts und Juristischen Personen des Öffentlichen Rechts.
aa) Juristische Personen des Privatrechts
Juristische Personen des Privatrechts können sich auf die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte berufen, soweit diese inländisch sind und eine wesensmäßige Anwendbarkeit vorliegt. Dies gilt auch dann, wenn der Staat Anteile an diesen hält (vgl. BVerfGE 115, 205). Fernerhin ist hierfür keine Vollrechtsfähigkeit erforderlich, sondern es genügt auch eine Teilrechtsfähigkeit. So sind etwa neben der GmbH oder AG auch die BGB-Gesellschaft (vgl. BGH NJW 2001, 1056), die OHG und KG (vgl. BVerfGE 4, 7), der nicht rechtsfähige Verein wie auch Parteien (vgl. BVerfGE 3, 383) und Gewerkschaften beteiligtenfähig.
(1) Inländische Juristische Person
Juristische Personen sind dann als inländisch anzusehen, wenn sie ihren (effektiven) Sitz, sprich das tatsächliche Zentrum ihrer Aktionen, im Inland hat, was jeweils selbständig und unabhängig etwa vom Sitz eines Mutterkonzerns zu prüfen und festzustellen ist (vgl. BVerfG NVwZ 2008, 670 (671)). Hierbei kommt es aber nicht darauf an, dass die natürlichen Personen, die die Juristische Person beherrschen, die deutsche Staatsangehörigkeit aufweisen, denn maßgeblich ist allein das Kriterium des Sitzes (instruktiv hierzu BVerfG ebd.). Vor dem Hintergrund zunehmender europäischer Integration gewinnt hierbei auch die Fallkonstellation an Bedeutung, in der die Juristische Person ihren Sitz im Ausland hat, aber gleichwohl innerhalb der EU. Werden diese im deutschen Inland und im Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 18 AEUV) tätig, so kommt ihnen entgegen des Wortlauts des Art. 19 III GG im Wege des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs Grundrechtsschutz zu (vgl. BVerfGE 129, 78 (81)).
(2) Wesensmäßige Anwendbarkeit
Der Grundrechtsschutz scheidet naturgemäß für diejenigen Grundrechte aus, die an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpfen, die nur natürlichen Personen aufweisen können, sodass das zusätzliche Kriterium der wesensmäßigen Anwendbarkeit in den Verfassungstext aufgenommen wurde (vgl. BVerfGE 106, 28). Dies gilt zunächst evidenter Weise für die Menschenwürde (Art. 1 I GG) wie auch für das allgemeine Persönlichkeitsrecht (APR, Art. 1 I GG i.V.m. Art. 2 I GG), nicht aber für die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG), da diese ein Interesse an äußerlich ungehinderter, möglichst freier Entfaltung und Verfolgung eigener Zwecke haben (vgl. BVerfGE 19, 206).
bb) Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
Juristische Personen des Öffentlichen Rechts können sich als Grundrechtsverpflichtete grundsätzlich nicht zugleich als Grundrechtsberechtigte auf diese berufen (Konfusionsargument). Dies gilt freilich nicht für die prozessualen Grundrechte (sog. „prozessuale Waffengleichheit“). So das BVerfG das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG) sowie das rechtliche Gehör (Art. 103 I GG) auch für Juristische Personen des Öffentlichen Rechts anerkannt (vgl. BVerfGE 61, 82). Das BVerfG billigt weitere Ausnahmen nur insoweit, als die „Einbeziehung … in den Schutzbereich der Grundrechte (gerechtfertigt ist), wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der „Durchgriff“ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll und erforderlich erscheinen lässt, mithin eine grundrechtstypische Gefährdungslage vorliegt“ (Zitiert nach BVerfGE 21, 362). Ausgehend von diesem Grundsatz wurden feste Fallgruppen entwickelt. So ist die Berufung für staatlichen Universitäten und Fakultäten in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III 1 GG, vgl. BVerfGE 15, 256), für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten auf die Rundfunkfreiheit (Art. 5 I 2 GG, vgl. BVerfGE 59, 231) und für die Religionsgemeinschaften auf die Religionsfreiheit (Art. 4 GG, vgl. BVerfGE 53, 366) anerkannt.
Bearbeiterhinweis: Die Beteiligtenfähigkeit bereitet bei natürlichen Personen i.d.R. keine Probleme. Bei den juristischen Personen des Privatrecht ist es besonders wichtig, die Voraussetzungen des Art. 19 III GG sauber zu subsumieren. Hinsichtlich der juristischen Personen des öffentlichen Rechts sollten die Fallgruppen sicher beherrscht werden, wobei ein einfacher Verweis darauf, dass die Fallgruppe anerkannt ist, nicht genügt. Vielmehr erfordert es auch dort einer substantiierten Begründung.
3. Prozess- und Postulationsfähigkeit
Zur Prozess- und Postulationsfähigkeit finden sich keine ausdrücklichen Regelungen im BVerfGG. Das BVerfG bedient sich daher der Regelungen des allgemeinen Prozessrechts, soweit der Verfassungsprozess nichts Abweichendes verlangt (vgl. BVerfGE 1, 74). Relevant wird dies vor allem dann, wenn entweder Kinder und Jugendliche am Verfahren beteiligt sind oder eine Juristische Person klagt.
Bei Kindern und Jugendlichen gilt, dass sie sich durch ihren gesetzlichen Vertreter (in aller Regel sind dies die Eltern) vertreten lassen müssen, es sei denn, dass sie reif und einsichtsfähig („grundrechtsmündig“) sind (vgl. BVerfGE 28, 243). Die Grundrechtsmündigkeit wiederum hängt stark von der Eigenart des jeweiligen Grundrechts ab. Beispielhaft wird hierbei immer auf die Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG verwiesen, bei der in Bezug auf diese Frage auf die Wertung des § 5 S. 1 RelKErzG zurückgegriffen wird, die ein Mindestalter von 14 Jahren vorsieht.
Bei Juristischen Personen gilt, dass sie sich vertreten lassen müssen. Das beliebteste Klausurbeispiel hierfür ist die im deutschen Raum sehr verbreitete GmbH, die sich gem. § 35 I GmbHG von ihrem Geschäftsführer vertreten lassen muss. Bei Aktiengesellschaften übernimmt der Vorstand die Vertretung (vgl. § 78 I AktG).
Bearbeiterhinweis: Ausführungen zur Prozess- und Postulationsfähigkeit sind nur zu treffen, wenn dafür Anhaltspunkte im Sachverhalt bestehen. Wenn dieser Punkt völlig unproblematisch ist, wäre bereits ein feststellender Satz häufig schon zu viel.
4. Beschwerdegegenstand
Beschwerdegegenstand ist ausweislich des Art. 90 I BVerfGG ein „Akt öffentlicher Gewalt“. Darunter zu fassen sind alle Handlungen und Unterlassungen (vgl. §§ 92, 95 I BVerfGG) der deutschen Staatsgewalt. Dies betrifft Akte aller drei Gewalten, sprich der Legislative, Exekutive und Judikative. Umfasst sind allerdings nur Akte der deutschen Gewalt, nicht jedoch die Europäischen Vertragswerke (EUV, AEUV) und völkerrechtliche Verträge.
Ein besonderer Fokus lag lange Zeit auf den Maßnahmen der Europäischen Union, worunter im weitesten Sinne alle Sekundärrechtsakte sowie Ausführungshandlungen deutscher Behörden zu verstehen sind. In seiner Solange I – Entscheidung führte das BVerfG hierzu zunächst aus, dass es sekundäres Unionsrecht „solange“ am Maßstab der deutschen Grundrechte prüft, wie das Unionsrecht keinen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtskatalog enthält (vgl. BVerfGE 37, 271). In Abkehr hierzu wurde bereits 1986 judiziert, dass das BVerfG „solange“ nicht tätig werde, wie der EuGH einen im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet (vgl. BVerfGE 73, 339). Dieses Judikat wirkt bis heute fort, sodass sekundäres Unionsrecht in den allermeisten Fällen kein tauglicher Beschwerdegegenstand ist, es sei denn, dass das Unionsrecht dem nationalen Recht Spielräume überlässt (vgl. BVerfGE 102, 147).
Bearbeiterhinweis: Dieser Prüfungspunkt ist selten ein Problemschwerpunkt, sodass häufig zwei Sätze hierzu genügen. Gerade in Examensklausuren, in denen das Öffentliche Recht vollumfänglich abgeprüft wird, können wiederum die Maßnahmen der Europäischen Union durchaus Klausurgegenstand sein, sodass Kenntnisse über die „Solange-Rechtsprechung“ hierzu unentbehrlich sind.
5. Beschwerdebefugnis
Aus dem Sachvortrag des Antragstellers muss sich die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergeben (vgl. Art. 90 I BVerfGG), wobei es explizit auf „spezifisches Verfassungsrecht“ ankommt (vgl. BVerfGE 18, 85). Zudem muss dieser beschwert sein, also selbst, gegenwärtig und unmittelbar von der geltend gemachten Grundrechtsverletzung betroffen sein.
a) Behauptung einer möglichen Grundrechtsverletzung
Wie bereits erläutert, muss die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung bestehen. Dies setzt voraus, dass die Bedeutung der Grundrechte nicht erkannt oder grundsätzlich verkannt worden ist. Dies liegt etwa dann nicht vor, wenn eine zweifelsfrei fehlerhafte Rechtsanwendung gegeben ist, die aber nicht auf einer fehlerhaften Anwendung der Grundrechte fußt. Soweit allerdings spezifisches Verfassungsrecht betroffen ist, zeigt das BVerfG sich großzügig und schließt die Möglichkeit der Verletzung nur dann aus, wenn dies offensichtlich und nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist (vgl. BVerfGE 38, 139).
b) Betroffenheitstrias
Um Popularklagen zu vermeiden muss der Beschwerdeführer im Rahmen der Betroffenheitstrias geltend machen, dass er selbst, gegenwärtig und unmittelbar beeinträchtigt ist. Einer tieferen Erörterung hierzu bedarf es zumeist nur im Rahmen der Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde, dennoch sind die nachstehenden Ausführungen auf alle drei Arten von Verfassungsbeschwerden übertragbar.
Selbst betroffen ist nur der Rechtsinhaber. Dies ist in aller Regel dann der Fall, wenn der Beschwerdeführer selbst Adressat der angegriffenen Maßnahme ist. Gegenwärtig ist die Betroffenheit, wenn die behauptete Grundrechtsverletzung im Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVerfG aktuell, ergo schon und noch vorliegt. Unmittelbar betroffen kann der Beschwerdeführer durch einen Rechtssatz nur sein, wenn dieser ohne weiteren vermittelnden Akt in den Rechtskreis des Beschwerdeführers einwirkt, also self-executing ist.
Bearbeiterhinweis: Die Beschwerdebefugnis ist stets zu prüfen. Zeigen Sie hier bereits eine gute Übersicht, indem Sie die „Spreu vom Weizen“ trennen und offensichtlich nicht einschlägige Grundrechte aussortieren. Achten Sie aber stets darauf, nicht schon einen Teil der Begründetheitsprüfung vorwegzunehmen. Sie werden in den allermeisten Fällen zumindest zu einer Teilzulässigkeit gelangen, denn andernfalls müssten Sie hilfsgutachterlich weiterprüfen, was die Ausnahme darstellt.
6. Grundsatz der Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität
Zur Entlastung des Gerichts und zur stärkeren Auslastung der Fachgerichte wurden die Grundsätze der Rechtswegerschöpfung und der Subsidiarität entwickelt.
a) Grundsatz der Rechtswegerschöpfung
Nach § 90 II 1 BVerfG kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden, soweit es für den in Rede stehenden Beschwerdegegenstand einen solchen gibt. Das BVerfG fasst unter den Begriff des „Rechtswegs“ jede gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts (vgl. BVerfGE 67, 157). Der Rechtsweg ist vor allem dann nicht als erschöpft anzusehen, wenn der Beschwerdeführer ein zulässiges Rechtsmittel nicht oder nicht rechtzeitig eingelegt hat (vgl. BVerfGE 1, 283), seine Anträge unklar formuliert (vgl. BVerfGE 87, 1) oder eine zulässige Rüge nicht erhoben hat (vgl. BVerfGE 110, 1).
b) Grundsatz der Subsidiarität
Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz der Subsidiarität als zusätzliches Korrektiv entwickelt (maßgeblich insoweit BVerfGE 107, 395). Dieser besagt, dass der Beschwerdeführer seinem Anliegen sowohl im gesamten Instanzenzug als auch die durch Nutzung aller dabei zur Verfügung stehenden weiteren prozessualen Möglichkeiten Geltung verschaffen muss. Darüber hinaus trifft ihn auch die Pflicht, sein Anliegen derart vorzubringen, dass bereits die Fachgerichte dessen verfassungsrechtliche Relevanz erkennen und beurteilen können. Von höchster Relevanz ist dieses Rechtsinstitut vor allem bei Rechtssatz-Verfassungsbeschwerden, im Rahmen derer umfassend zu prüfen ist, ob nicht auch eine Befassung der unteren Instanzen noch möglich ist.
c) Ausnahmen
90 II 2 BVerfG sieht zwei Ausnahmen vor, namentlich die Rechtsfragen von allgemeiner Bedeutung und die Entstehung schwerer und unzumutbarer Nachteile für den Beschwerdeführer, wenn er dem Gebot der Rechtswegerschöpfung Folge leisten müsste.
Rechtsfragen sind von allgemeiner Bedeutung, wenn die zu erwartende Entscheidung nicht nur die Belange einzelner, sondern das allgemeine Wohl berührt und aus diesem Grund die Klärung vor Erschöpfung des Rechtswegs geboten erscheint. Des Weiteren liegt diese Ausnahme dann vor, wenn die Entscheidung über den Einzelfall hinaus Klarheit über die Rechtslage in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle und über ähnliche Bestimmungen schafft.
Ein schwerer und unzumutbarer Nachteil entsteht dann, wenn ein entstehender Schaden andernfalls nicht mehr angemessen ausgeglichen werden kann, nicht aber dann, wenn die Beschreitung des Rechtswegs lediglich viel Zeit in Anspruch nimmt und Kosten verursacht.
Bearbeiterhinweis: Auf den Grundsatz der Rechtswegerschöpfung ist bei Rechtssatz-Verfassungsbeschwerden nur in einem feststellenden Satz dahingehend einzugehen, dass kein Rechtsweg gegen diese besteht. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gilt demgegenüber in besonderem Maße bei solchen Rechtssatz-Verfassungsbeschwerden. Ausführungen zur Subsidiarität können bei einer Urteils-Verfassungsbeschwerde oder einer Einzelakts-Verfassungsbeschwerde auch ganz entfallen, wobei dann wiederum auf den Grundsatz der Rechtswegerschöpfung einzugehen ist. Insgesamt gesehen gibt es also ein Wechselspiel zwischen beiden Voraussetzungen.
7. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis gehört zu den allgemeinen Instituten des Prozessrechts und ist Bestandteil nahezu jeder Klageart. Es fehlt dann, wenn sich die rechtliche Stellung des Beschwerdeführers nicht verbessern kann oder wenn ein einfacherer und schneller Weg zur Rechtsdurchsetzung gegeben ist. Da solche Fallgestaltungen aber für gewöhnlich bereits unter dem Prüfungspunkt VI. (Rechtswegerschöpfung und Grundsatz der Subsidiarität) aufgefangen werden können, fristet dieser Prüfungspunkt eher ein Schattendasein.
Bearbeiterhinweis: Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis birgt für gewöhnlich kaum Probleme. Daher ist auf das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis nur bei Anlass einzugehen.
8. Ordnungsgemäßer Antrag
Die Erhebung der Verfassungsbeschwerde hat schriftlich und begründet zu erfolgen (vgl. §§ 23 I, 92 BVerfGG). Hierbei ist auch eine Einsendung per Telefax möglich, nicht hingegen per E-Mail (vgl. BVerfG NJW 2000, 574).
Bearbeiterhinweis: Auch hier darf nur ein feststellender Satz hingeschrieben werden. Dafür gibt es in der Klausur keine Punkte, dennoch zeigt der Bearbeiter dadurch, dass er vollständig arbeitet.
9. Fristerfordernisse
Die Verfassungsbeschwerde ist grundsätzlich binnen eines Monats zu erheben und zu begründen (§ 93 I 1 BVerfGG; zum Fristbeginn siehe § 93 I 2, 3 BVerfGG).
Bearbeiterhinweis: Zu diesem Prüfungspunkt gilt das unter VIII. Gesagte.
IV. Das Annahmeverfahren gem. §§ 93a ff. BVerfGG
Um dem in der Einleitung umschriebenen Problem der starken Verfahrensdichte Herr zu werden, wurde in den §§ 93a ff. BVerfGG ein eigenes Annahmeverfahren geschaffen, um bereits vor der Befassung einer Kammer oder sogar des gesamten Senats mit dem Fall eine Auslege vorzunehmen. Kern des Annahmeverfahrens ist die Prüfung aller eingegangen Verfassungsbeschwerden durch den Präsidialrat und, falls sich diese nicht als offensichtlich unzulässig oder unbegründet erweisen, auch durch den zuständigen Richter zur Berichterstattung. Dieser erklärt nur dann die Annahme zur Entscheidung, wenn der Verfassungsbeschwerde grundlegende Bedeutung zukommt, also wenn eine Frage aufgeworfen wird, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und die noch nicht durch die Rechtsprechung geklärt wurde (vgl. BVerfGE 90, 22). Erst nachdem auch diese Hürde überwunden wurde, kann entschieden werden. Die Entscheidung wird dann zumeist von einer der Kammern getroffen, nur in Ausnahmefällen von dem Senat.
Bearbeiterhinweis: Wenngleich Ihnen das Annahmeverfahren im Grundstudium nicht begegnen wird, so ist dieses gerade mit Blick auf die mündliche Prüfung im Rahmen der ersten Juristischen Prüfung von großer Bedeutung und immer wieder beliebter Prüfungsstoff. Mit Kenntnissen zum Annahmeverfahren können Sie sich von Ihren Mitprüflingen absetzen.
V. Die Prüfung der Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch den angegriffen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte tatsächlich verletzt ist. Prüfungsmaßstab hierbei ist die gesamte Verfassung, sodass vor allem bei Verfassungsbeschwerden gegen Rechtssätze auch formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit zu prüfen ist.
Bearbeiterhinweis: Auf der Prüfung der Begründetheit liegt in der Klausur der klare Schwerpunkt, sodass Sie hier umfassend prüfen müssen. Da auch staatsorganisationsrechtliche Kenntnisse für eine optimale Klausurlösung vonnöten sind, sollten diese sicher beherrscht werden.
VI. Eilrechtsschutz
Im Bereich der Verfassungsbeschwerde ist bei besonderer Eilbedürftiger auch einstweiliger Rechtsschutz möglich, wobei die Voraussetzungen des § 32 BVerfGG vorliegen müssen.
Bearbeiterhinweis: Eine Prüfung im Eilverfahren ist in Klausuren äußerst unüblich. Gleichwohl kann es Ihnen im Studium begegnen, vor allem in mündlichen Prüfungen lassen sich hiermit hervorragende Bezüge zum Verwaltungsrecht herstellen, in welchem der Eilrechtsschutz zu den Prüfungsklassikern gehört.
VII. Resümee
Viele Zulässigkeitsprüfungen von Verfassungsbeschwerden weisen in der Klausurbearbeitung nur einige wenige Probleme auf, sodass präzises Arbeiten gefragt ist. Dann ist es auch besonders wichtig, die unproblematischen Punkte nur sehr kurz anzusprechen und nur dort ausschweifender zu werden, wo tatsächlich Probleme auftreten. Besonders durch die Fähigkeit, die richtigen Schwerpunkte zu setzen, können sich die jeweiligen Bearbeiter von den Kommilitonen absetzen, was vom Korrektor goutiert werden wird. Das besondere Augenmerk der Prüfung liegt jedoch stets auf der Begründetheit, sodass dort die großen Punkte zu holen sind, während es in der Zulässigkeit in den allermeisten Fällen nur wenige Punkte zu holen gibt.
Punkt III ist dahingehend falsch, dass die §§90 ff BVerfGG nichts mit der Zuständigkeit des BVerfG zu tun haben. Dort wird die Zuständigkeit bereits vorausgesetzt. Dies ist wichtig, weil mir das im Freischuss als Fehler markiert wurde.
Für viele Studenten wäre ein Schema wichtig, wie sich die Verfassungsmäßigkeit in die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage (vor allem beim Gesetz Gesetzgebungskompetenz-/verfahren) und des konkreten Einzelfalls aufspaltet. Eins von beiden wird oft vergessen.
Interessant finde ich persönlich die Frage, ob es überhaupt dazu kommen kann, dass eine konkrete Einzelfallanwendung geprüft wird, die nicht das Urteil ist. Schließlich wird es bei einem rechtswidrigen Vorgehen der Polizei letztlich auch um eine Urteilsverfassungsbeschwerde gehen. Dann könnte man sich merken, dass der Akt der öffentlichen Gewalt entweder einer der Judikative (Urteil) oder der Legislative(Gesetz) ist. Liege ich da richtig?