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Schlagwortarchiv für: Verfassungsbeschwerde

Yannick Peisker

Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung

Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht

Mit Beschluss vom 21. Juli 2022 hat das BVerfG entschieden, dass die Masernimpfpflicht nach § 20 IfSG verfassungsmäßig ist. Angesichts der noch ausstehenden Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-Impfpflicht besitzt die Entscheidung nicht nur Bedeutung für Examenskandidaten, sondern eine weit darüberhinausgehende Relevanz für die Gesamtgesellschaft, womöglich auch mit nicht zu unterschätzender sozialer Sprengkraft. Ein Blick in die Entscheidungsgründe lohnt sich daher umso mehr.

Der hiesige Beitrag setzt sich mit der Entscheidung technisch auseinander und beinhaltet eine klausurmäßige Aufbereitung für Examenskandidaten, damit die Bausteine der Entscheidung im juristischen Gutachten auch an der richtigen Stelle verortet werden. Dort wo Ausführungen in der Klausurlösung nicht unbedingt erwartet werden können oder wo davon auszugehen ist, dass der Sachverhalt hierzu keine Angaben macht oder machen kann, werden einige Passagen der Entscheidungsbegründung ausgelassen. Diese lassen sich natürlich hier aber noch einmal in der gesamten Länge nachlesen. Angesichts der Ausführlichkeit der Entscheidung wird hier auf eine Darstellung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verzichtet. Stattdessen wird sich auf eine Prüfung der Begründetheit konzentriert.

A. Der Sachverhalt

Die Beschwerdeführer richten sich gegen mehrere Regelungen des § 20 IfSG, im Einzelnen gegen § 20 Abs. 8 S. 1-3; Abs. 9 S. 1 und 6; Abs. 12 S. 1 und 3 sowie gegen Abs. 13 S. 1 IfSG.

Abs. 8 der Vorschrift regelt, dass Personen, die in einer bestimmten Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern, oder aber eine Immunität aufweisen müssen. Diese Pflicht gilt auch dann, wenn ausschließlich sogenannte Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die also mehrere Impfstoffkomponenten gegen verschiedene Krankheiten beinhalten. Für Personen, die in einer solchen Einrichtung tätig werden, gilt dies nach § 20 Abs. 9 ebenso. Kann eine betreute oder beschäftigte Person einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen, darf sie nach § 20 Abs. 9 S. 6 und 7 weder in der Einrichtung tätig werden, noch dort betreut werden. Es handelt sich also um eine sogenannte mittelbare Impfpflicht, da kein unmittelbarer Impfzwang ausgeübt wird, sondern lediglich nachteilige Maßnahmen an die Nichtimpfung geknüpft werden. Zu einer Impfung selbst zwingt das Gesetz nicht unmittelbar. Der Nachweis ist nach Abs. 12 S. 1 dem zuständigen Gesundheitsamt vorzulegen, ist das Kind minderjährig, trifft diese Pflicht die Eltern (§ 20 Abs. 13 S. 1).

Die hiesigen Beschwerdeführer waren die Eltern mehrerer Kinder, die in einer solchen Gemeinschaftseinrichtung untergebracht werden sollten. Die minderjährigen Kinder sind nicht geimpft und verfügen auch über keine Immunität gegen Masern. Gerügt wird die Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit der Kinder (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie eine Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Die Entscheidung setzt sich damit ausschließlich mit der Impfpflicht für betreute Personen, nicht aber für Beschäftigte auseinander. Die Erwägungen des BVerfG lassen sich aber übertragen. Sollte der Klausursachverhalt auf die Beeinträchtigung der Grundrechte der dort Beschäftigten abzielen, kann daher ähnlich verfahren werden. Zu prüfen wäre dann eine Verletzung des Art. 12 GG neben einer Verletzung des Art. 2 GG.

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die behauptete Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt ist.

I. Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

Zunächst könnte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers […]. Träger dieses Rechts ist „jeder“, mithin auch ein Kleinkind […]. Kindern kommt außerdem ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu (Art. 2 Abs. 1 GG). Dabei bedürfen sie des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verpflichtet den Gesetzgeber, die hierfür erforderlichen Lebensbedingungen des Kindes zu sichern. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen. Die vom Gesetzgeber näher auszugestaltende Schutzverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist sie in erster Linie den Eltern zugewiesen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 78-79.

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn durch zielgerichtetes staatliches Handeln in Form eines Rechtsaktes, welcher mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, unmittelbar in grundrechtlich geschützte Positionen eingegriffen wird. Nach dem modernen Eingriffsbegriff kann ein Eingriff auch dann vorliegen, wenn ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, unabhängig davon, ob die Wirkung final, unmittelbar, rechtlich erfolgt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, sofern die Grundrechtsbeeinträchtigung einer grundrechtsgebundenen Gewalt zugerechnet werden kann und nicht unerheblich ist. Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Eingriff vor:

„Nach Art und Gewicht wirken die beanstandeten Vorschriften in einer Weise auf die den sorgeberechtigten Eltern anvertraute Sorge über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder ein, dass sie als zielgerichteter mittelbarer Eingriff in das Recht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu bewerten sind. Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen […]. Diesen Förderformen misst der Gesetzgeber aber selbst erhebliche Bedeutung für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte kindliche Persönlichkeitsentwicklung zu. Wird eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, geht von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, kommt in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gleich. Da insbesondere der von dem Betreuungsverbot ausgehende Druck auf die entscheidungsbefugten Eltern nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die Gestattung der Impfungen befördern soll, handelt es sich ebenfalls um einen zielgerichteten mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 81

Mithin liegt ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor.

3. Rechtfertigung

Eine Verletzung des Grundrechts liegt nicht vor, wenn der Eingriff gerechtfertigt ist, dies wäre der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) Wahrung des Gesetzesvorbehalts

In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darf nach S. 2 nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, um ein solches handelt es sich bei den angegriffenen Regelungen des § 20 IfSG.

b) Formelle Verfassungsmäßigkeit

§ 20 IfSG müsste formell verfassungsmäßig sein.

aa) Zuständigkeit

Es handelt sich um ein Bundesgesetz, der Bund ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zuständig, es handelt sich um eine Maßnahme gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren.

bb) Verfahren

Die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren wurden eingehalten.

cc) Wahrung des Zitiergebots

Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wurde für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in § 20 Abs. 4 GG gewahrt.

c) Materielle Verfassungsmäßigkeit

Das Gesetz müsste materiell verfassungsmäßig sein.

aa) Verstoß gegen Art. 20 GG

Die Regelung des IfSG wäre nur dann verfassungsmäßig, wenn sie nicht gegen die Grundsätze des Art. 20 GG verstößt. In Betracht kommt vorliegend ein Verstoß gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorbehaltes des Gesetzes. Diese gebieten konkret, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. Zum einen ist der Gesetzgeber geboten die Fragen zu regeln, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind, zum anderen die Regelungen, die für Staat und Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sind.

„Diesen Anforderungen genügte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nicht, wenn er so zu verstehen wäre, dass § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG auch gilt, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten […]. Der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG enthält keine ausdrücklichen Beschränkungen von Impfstoffkomponenten „gegen andere Krankheiten“ als Masern, die in auch zur Masernimpfung verwendeten Kombinationsimpfstoffen enthalten sind. So verstanden, wirkte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG ähnlich wie eine dynamische Verweisung, nach der die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung auch zukünftig bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen mit beliebig vielen weiteren Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern gölte. Die tatsächlichen Bedingungen der Erfüllung der Auf- und Nachweispflicht wären dann davon abhängig, welche Impfstoffe mit welchen Komponenten nach der jeweiligen Marktlage verfügbar sind. Dann fänden die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, den Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nachzukommen, jedoch keine hinreichende Grundlage mehr im Gesetz […]. Das Gewicht des Eingriffs in die hier betroffenen Grundrechte der Kinder und ihrer Eltern wird aber durch die Anzahl der in einem Kombinationsimpfstoff enthaltenen Impfstoffkomponenten mitbestimmt. Die Frage, durch welche Impfstoffe die Pflicht erfüllt werden kann, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, ist daher wesentlich für die Grundrechte und grundsätzlich durch den Gesetzgeber zu klären. Inwieweit er darin den Verordnungsgeber einbeziehen kann, bestimmt sich nach Art. 80 Abs. 1 GG.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 96

Ein Verstoß kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG verfassungskonform ausgelegt werden kann:

„§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann verfassungskonform so auslegt werden, dass die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes getroffenen grundrechtlichen Wertungen […]. Damit werden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen wird jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen, noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt, oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt […].

So bietet die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Erfüllung der Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen auf die genannten Kombinationen beschränken wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs nennt allein Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln oder Masern-Mumps-Röteln-Windpocke […] und geht von der Anwendbarkeit von Satz 1 bei Verfügbarkeit nur dieser Kombinationsimpfstoffe aus. […] Die vom Paul-Ehrlich-Institut geführte Liste zugelassener Kombinationsimpfstoffe weist zudem aus, dass es sich bei den auch masernwirksamen Kombinationsimpfstoffen seit langem ausschließlich um solche mit den weiteren Komponenten gegen Mumps, Röteln und Windpocken handelt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass sich die seit Jahren unveränderte Lage dahingehend verändern könnte, dass sich Wirkstoffkombinationen der in Deutschland zugelassenen Masernimpfstoffe in absehbarer Zeit ändern und zu den Mumps-, Röteln- und Windpocken-Impfstoffkomponenten weitere hinzukommen könnten.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 98-100

Berücksichtigt man diese Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung, liegt kein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vor. Dieses Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung ist auch für die nachfolgenden Ausführungen zu unterstellen, die Norm besitzt ausschließlich diesen Rechtsgehalt.

bb) Verhältnismäßigkeit der Regelung

Die angegriffenen Normen müssten auch verhältnismäßig sein. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber einen legitimen Zweck verfolgt, die Regelung zur Verfolgung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist und die Regelung angemessen ist, das heißt die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu den ihn rechtfertigenden Gründen steht.

(1) Legitimer Zweck

Der Gesetzgeber müsste einen legitimen Zweck verfolgen:

 „Die angegriffenen Vorschriften des Masernschutzgesetzes bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen, insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen […]. Das soll nicht nur die Einzelnen gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Bevölkerung erfordert. So können auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe im Fall einer Infektion drohen. […] Zudem will der Gesetzgeber das von der Weltgesundheitsorganisation verfolgte Ziel unterstützen, die Masernkrankheit in den Mitgliedstaaten sukzessiv zu eliminieren, um die Krankheit schließlich weltweit zu überwinden […]. […] Damit kommt der Gesetzgeber erkennbar seiner in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Schutzpflicht nach. Lebens- und Gesundheitsschutz sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz Einzelner vor Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Gesundheit umfasst, kann daher auch eine Schutzpflicht des Staates folgen, Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu treffen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 106-107.

Die Impfpflicht verfolgt daher einen legitimen Zweck.

(2) Geeignetheit

Die gesetzliche Regelung müsste geeignet zur Erreichung dieses Zwecks sein, das heißt sie müsste in der Lage sein, diesen Zweck zu fördern:

„Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diejenige in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. Werden dort künftig grundsätzlich nur noch Kinder mit Impfschutz oder Immunität betreut, trägt das ‒ ebenso wie das Betreuungsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG ‒ zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei. Angesichts einer Betreuungsquote in Kindertagesbetreuung von 34,3 % bei unter 3-Jährigen und von 93 % bei 3- bis 5-Jährigen […] erhöht sich hierdurch auch insgesamt die Impfquote in der Bevölkerung. Bei einer von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG vorgegebenen zweifachen Impfung gegen Masern wird nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer Impfeffektivität von 95 bis 100 % im Mittel ausgegangen. Das gilt auch bei der Verwendung eines von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfassten Kombinationsimpfstoffs […] Der Impfschutz wirkt lebenslang.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 114-115

Die Impfpflicht ist zur Zielerreichung geeignet.

(3) Erforderlichkeit

Dies gesetzliche Regelung müsste erforderlich sein, das heißt es dürften keine gleich geeigneten, milderen Mittel zur Zweckerreichung zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht dabei grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative zu, die umso weiter reicht, je komplexer die zu regelnde Materie ist.

„Aus den ihm vorliegenden wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen konnte der Gesetzgeber daher […] den Schluss ziehen, dass diese Maßnahmen bislang nicht genügt haben, um eine Herdenimmunität gegen Masern herzustellen. […] Der Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen steht nicht entgegen, dass § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG den Aufweis einer durch Impfung erlangten Masernimmunität auch dann verlangt, wenn lediglich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen und es im Inland seit einigen Jahren auch keine zugelassenen Monoimpfstoffe mehr gibt. […] Denn die Frage der gleichen Eignung muss anhand des Gesetzeszwecks beurteilt werden. Die Bekämpfung sonstiger Krankheiten ist aber nicht Zweck der allein gegen Masern gerichteten Regelung. Gegen die gleiche Eignung einer nur auf Monoimpfstoffe gerichteten Regelung spricht jedoch, dass es im Inland mittlerweile keine Masernmonoimpfstoffe mehr gibt, für früher angebotene Monoimpfstoffe inzwischen mangels Nutzung sogar die Zulassung entfallen ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Zweck des Gesetzes mit einer auf Monoimpfstoffe beschränkten Verpflichtung weniger gut zu erreichen, weil alle Kinder ungeimpft blieben, deren Eltern der Verwendung eines Kombinationsimpfstoffs nicht freiwillig zustimmen. Auch eine gesetzliche Verpflichtung zuständiger staatlicher Stellen, solche Monoimpfstoffe herstellen zu lassen oder sonst für deren Verfügbarkeit im Inland zu sorgen, wäre keine gleich geeignete Maßnahme im Sinne der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit […] Ist allerdings der von § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG geforderte Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt worden, ist dies regelmäßig als zur Erreichung des Gesetzeszwecks ebenso geeignetes Mittel anzusehen […]. Die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Mehrfachimpfstoff ist dann nicht erforderlich und darf zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht gefordert werden.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 125-128

Die Impfpflicht ist daher zur Zielerreichung erforderlich.

(4) Angemessenheit

Die gesetzliche Regelung müsste angemessen sein, das heißt die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der verfolgten Zwecke stehen:

(aa) Eingriffsintensität

Fraglich ist, als wie gewichtig die Eingriffsintensität der Impfpflicht zu beurteilen ist.

„Der Eingriff in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgt mittelbar durch die Einwirkung auf die Ausübung des die Gesundheitssorge betreffenden Elternrechts. Entscheiden sich die sorgeberechtigten Eltern zwecks Meidung des Betreuungsverbots aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, ihr in einer betroffenen Einrichtung betreutes Kind impfen zu lassen, geht dies mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes einher. Allerdings ist dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend. Zwar kann selbst eine Impfung mit erprobten, weitgehend komplikationslosen Impfstoffen […] nicht ohne Weiteres als unbedeutender vorbeugender ärztlicher Eingriff eingeordnet werden […]. Die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion ist jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhen das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich […]. […] Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten […]. Zur Wahrnehmung dieser Autonomie ist ein Kind anfangs allerdings zunächst entwicklungsbedingt nicht in der Lage. […] Mit dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbindet sich darum kein ebenso weitreichendes Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidung wie bei Erwachsenen, die über den Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden können […]. Dem stärker an medizinischen Standards auszurichtenden körperlichen Kindeswohl dienlich ist regelmäßig die Vornahme empfohlener Impfungen, nicht ihr Unterbleiben. Das gilt auch für die Verabreichung von Kombinationsimpfstoffen […]. Daher kann den angegriffenen, gerade zur Vornahme einer empfohlenen Impfung anreizenden gesetzlichen Regelungen kein besonders hohes Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beigemessen werden. Dabei wird das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch dadurch abgemildert, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an […]. Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 142-145

Die Eingriffe wiegen nicht besonders schwer.

(bb) Überwiegen die verfolgten Interessen diese Intensität?

Die verfolgten Interessen müssten diese Eingriffsintensität überwiegen.

„Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis, SSPE) zu erleiden. Bei Kindern unter fünf Jahren liegt dieses Risiko bei etwa 0,03 und bei Kindern unter einem Jahr bei etwa 0,17 % […].

Demgegenüber treten bei einer Impfung nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahrscheinlich […]. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krankheitsfällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwerdeführenden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann, als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grundrechtsträger. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes. […]

Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorgeberechtigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masernimpfschutzes – wie es derzeit in Deutschland der Fall ist – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen […]. Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Das führt jedoch nicht zur Unangemessenheit der angegriffenen Regelungen. Sofern Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt wurde, ist die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Kombinationsimpfstoff ohnehin nicht erforderlich und darf dessen Verwendung nicht gefordert werden.

Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfachimpfstoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfachimpfstoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindeswohldienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können. Ausweislich der Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts und der Ständigen Impfkommission besteht zwischen dem Nebenwirkungsprofil eines Monoimpfstoffs und den in Deutschland zugelassenen Kombinationsimpfstoffen jedenfalls kein wesentlicher Unterschied. Dem steht die Dringlichkeit gegenüber, diejenigen Personen, die sich nicht selbst durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz zu schützen. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 %, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. Würde die Pflicht zum Auf- und Nachweis der Masernimpfung auf Situationen beschränkt, in denen ein Monoimpfstoff zur Verfügung steht, würde die erforderliche Impfquote weniger gut erreicht. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz für vulnerable Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombinationsimpfstoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. Angesichts des die Beeinträchtigungen deutlich überwiegenden Interesses am Schutz vulnerabler Personen gegen Masern erscheint zudem derzeit auch zur Wahrung der Angemessenheit nicht geboten, dass der Staat durch Beschaffung, Herstellung oder Marktintervention die Verfügbarkeit von Monoimpfstoff sichert.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 149-152
(cc) Zwischenergebnis

Die verfolgten Zwecke überwiegen damit das Gewicht des Eingriffs, die verfassungskonform ausgelegte Regelung ist angemessen.

(5) Zwischenergebnis

Die Regelung ist verhältnismäßig.

cc) Zwischenergebnis

Die Regelung ist materiell verfassungsmäßig.

4. Ergebnis

Die Regelung ist nach verfassungskonformer Auslegung sowohl formell als auch materiell verfassungsmäßig. Der Eingriff in das Grundrecht ist mithin gerechtfertigt. Die Beschwerdeführer sind in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht verletzt.

II. Verletzung von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG

Es könnte jedoch eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen […]. Das Elternrecht unterscheidet sich allerdings von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern eine solche zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt […]. Dazu gehört im Grundsatz die Sorge für das körperliche Wohl, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen fällt […]. Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes ([…] handelt es sich bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 67-69

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen:

„Wollen Eltern ihren vorhandenen Wunsch nach solcher Betreuung umsetzen, ist dies rechtlich grundsätzlich nur dann möglich, wenn sie einen Nachweis über die Masernimpfung ihrer Kinder vorlegen (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Die Entscheidung selbst, Kinder impfen zu lassen, ist wiederum wesentlicher Teil des durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten elterlichen Sorgerechts, das die Entscheidungsbefugnis über die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder umfasst. Bei Ausbleiben des Nachweises wirken die angegriffenen Vorschriften erheblich auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts in beiden Komponenten ein. Die gesetzlichen Regelungen über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das Betreuungsverbot bei Ausbleiben dieses Nachweises kommen in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 74-75

Auch ein Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liegt mithin durch § 20 IfSG vor.

3. Rechtfertigung

Der Eingriff in das Grundrecht ist nicht verfassungswidrig, wenn er gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) formelle Verfassungsmäßigkeit

Hinsichtlich Zuständigkeit und Verfahren wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Fraglich ist jedoch, ob auch in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das Zitiergebot eingehalten wurde.

Dafür müsste es für Art. 6 Abs. 2 S. 1 jedoch überhaupt Anwendung finden.

„Das Zitiergebot dient der Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können […]. Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt […]. Kommt es danach für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich auf das Vorhandensein grundrechtsspezifischer Gesetzesvorbehalte an, fällt das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in den Anwendungsbereich. Es unterliegt gerade keinem solchen Gesetzesvorbehalt und ist deshalb lediglich sich aus der Verfassung selbst ergebenden Einschränkungen zugänglich […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 92

Das Zitiergebot musste daher nicht gewahrt werden, es kann der Verfassungsmäßigkeit nicht entgegenstehen.

b) materielle Verfassungsmäßigkeit

Ein Verstoß gegen Art. 20 GG liegt bei verfassungskonformer Auslegung der Regelung nicht vor. Es handelt sich um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, welches nur durch verfassungsimmanente Schranken im Wege der praktischen Konkordanz eingeschränkt werden kann. Eine Rechtfertigung des Eingriffs im Wege der praktischen Konkordanz setzt voraus, dass ein kollidierendes Verfassungsgut vorliegt und ein verhältnismäßiger Ausgleich der kollidierenden Güter gewählt wurde. Dies ist der Fall, wenn die Maßnahme zum Ausgleich geeignet, erforderlich und angemessen ist.

aa) Verfolgung des Schutzes eines anderen Verfassungsgutes.

In Gestalt der staatlichen Schutzpflicht verfolgt die gesetzliche Regelung den Schutz eines anderen Verfassungsgutes.

bb) Eignung

Die Maßnahme ist zur Herstellung praktischer Konkordanz geeignet, siehe oben.

cc) Erforderlichkeit

Selbiges gilt für die Erforderlichkeit

dd) Angemessenheit

Der Interessenausgleich müsste angemessen erfolgt sein, dies ist der Fall, wenn die Einschränkung des einen Verfassungsgutes nicht außer Verhältnis zum Gewicht des den Eingriff rechtfertigenden Verfassungsgutes steht.

(1) Eingriffsgewicht

Fraglich ist, wie gewichtig der Eingriff ist.

„Die angegriffenen Regelungen greifen in das vom Elternrecht umfasste Recht auf Gesundheitssorge ein, da sie gebieten, dass Eltern einer Impfung ihrer Kinder zustimmen. Zwar sind sie letztlich nicht unausweichlich verpflichtet, einer Impfung zuzustimmen. Tun sie dies aber nicht, ist dies jedoch mit spürbaren Nachteilen für sie selbst und ihre Kinder verbunden. […] Mit der angegriffenen Nachweispflicht verengt das Infektionsschutzrecht die Wahlmöglichkeit der Eltern nicht unbeträchtlich, indem der Betreuungsanspruch ohne Impfnachweis entfällt oder zumindest nicht durchgesetzt werden kann […]. Dabei dient die Nachweispflicht nicht ihrerseits der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern im Alter vor Schuleintritt, sondern bezweckt neben deren Eigenschutz gegen eine Maserninfektion vor allem den Gemeinschaftsschutz vor den Gefahren von Maserninfektionen […]. Das verstärkt die Intensität des Eingriffs in das Elternrecht, weil die betroffenen Eltern im fremdnützigen Interesse des Schutzes der Bevölkerung entgegen den eigenen Vorstellungen zu einer Disposition über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder gedrängt werden. Da die Wahrnehmung des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 IfSG an den Auf- und Nachweis der Masernimpfung geknüpft ist (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG), wirken die beanstandeten Vorschriften auch auf das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht ein. […] (135) Bei den hier zu beurteilenden Regelungen ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab, und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko […]. Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die fachgerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus […]. Das lässt den Eingriff in das Gesundheitssorgerecht der Eltern zwar nicht entfallen. Deren Entscheidungen in Fragen der Gesundheitssorge für ihr Kind bleiben auch bei entgegenstehenden medizinischen Einschätzungen im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich schutzwürdig. Da das Grundgesetz ihnen aber die Gesundheitssorge wie alle anderen Bestandteile der elterlichen Sorge im Interesse des Kindes ‒ insoweit zum Schutz seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit ‒ überträgt, ist es jedoch für die Eingriffstiefe von Bedeutung, wenn die Einschränkung der Gesundheitssorge ihrerseits nach medizinischen Standards gerade den Schutz der Gesundheit des Kindes fördert. […] Das Elternrecht bleibt ein dem Kind dienendes Grundrecht. Ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge wiegt weniger schwer als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Dieser objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch das Betreuungsverbot. […]

Eingriffsintensivierend wirkt dagegen unter einem anderen Aspekt des Elternrechts das bei ausbleibendem Impfnachweis geltende Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. Denn dadurch wird die Vereinbarkeit von Familie und Elternschaft mit der Erwerbstätigkeit der Eltern […] beeinträchtigt. […] Betroffene Eltern müssen daher entweder auf Betreuung außerhalb von Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG ausweichen oder die eigene Erwerbstätigkeit umgestalten, um die Kinderbetreuung selbst wahrnehmen zu können. Daher geht mit dem Betreuungsverbot wegen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit von Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen, ein nicht unerhebliches Eingriffsgewicht einher. Das Gewicht des Eingriffs in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unter diesem Aspekt wird durch die Beeinträchtigung damit korrespondierender Rechtspositionen der Kinder verstärkt. […] Das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG versperrt aber betroffenen Kindern, auch den jeweiligen Beschwerdeführenden zu 3), die Wahrnehmung ihres Anspruchs, wenn die Eltern eine das Verbot auslösende Entscheidung zur Gesundheitssorge getroffen haben. Dem kommt Gewicht auch deshalb zu, weil nicht allein der dargestellte fachrechtlich eingeräumte Förderanspruch von Kindern betroffen ist, sondern wegen der in § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfolgten Ausgestaltung auch das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde, gegen den Staat gerichtete Recht von Kindern auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Person in der sozialen Gemeinschaft […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 134-139

Der Eingriff ist daher nicht besonders schwerwiegend, aber auch nicht unerheblich.

(2) Ausgleich der Interessen

In Bezug auf den Interessenausgleich lässt sich weitestgehend nach oben verweisen, die dort angeführten Argumente lassen sich hier erneut platzieren.

ee) Zwischenergebnis

Die gesetzliche Regelung stellt einen angemessenen Ausgleich her, der Eingriff ist im Wege praktischer Konkordanz gerechtfertigt.

4. Ergebnis

Auch der Eingriff in das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist gerechtfertigt

III. Gesamtergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet, die Beschwerdeführer sind nicht in ihren verfassungsrechtlich geschützten Rechten verletzt.

C. Eine kurze und abschließende Summa

Die wesentlichen Kernaussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine Impfpflicht für Masern ist zumutbar, auch wenn nur ein Kombinationsimpfstoff zur Verfügung steht. Die Vorschrift ist verfassungskonform so auszulegen, dass nur die Kombinationsimpfstoffe verwendet werden dürfen, die im Zeitpunkt des Erlasses der Norm vorliegen. Ein Impfstoff, der ausschließlich Wirkstoffe gegen Masern enthält, wäre jedoch ein milderes und gleichgeeignetes Mittel, sobald diese in Deutschland verfügbar sind, müssen diese verimpft werden. Letztlich sind sowohl Eingriffe in das Elternrecht, aber auch Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit angesichts der staatlichen Schutzpflicht für vulnerable Gruppen – also für Menschen, die nicht durch eine Impfung geschützt werden können – gerechtfertigt. Dies dürfte auch auf eine denkbare Beeinträchtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG zu übertragen sein. Auch mit Blick auf die Corona-Impfpflicht der in Gesundheitseinrichtungen tätigen Personen nach § 20a IfSG dürfte das BVerfG die entscheidenden Weichen gestellt haben.

18.08.2022/3 Kommentare/von Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Yannick Peisker2022-08-18 11:03:272022-08-18 15:18:28Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung
Dr. Lena Bleckmann

Neues zur Schmähkritik – Das BVerfG entscheidet zu Hasskommentaren bei Facebook

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Dass die in sozialen  Medien mögliche Anonymität einige Nutzer zuweilen verleitet, unter ihrem Deckmantel Hass und Hetze zu verbreiten, dürfte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Insbesondere Politiker sehen sich solchen Hasskommentaren besonders häufig ausgesetzt. Einzelne wissen sich jedoch zu wehren: Renate Künast, MdB und Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen, verlangte, nachdem ihr gegenüber auf Facebook Dinge geäußert wurden, die man ihr wohl kaum ins Gesicht gesagt hätte, von dem Unternehmen die Auskunft über die Bestandsdaten der jeweiligen Nutzer – zum Zwecke der Rechtsverfolgung wollte sie die Identität der Nutzer herausfinden.
Das Verfahren hat bereits erhebliche mediale Aufmerksamkeit erlangt. Zu mehreren Entscheidungen der Berliner Gerichte tritt nun ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.12.2021, Az. 1 BvR 1073/20. Die wichtigsten Eckpunkte der Entscheidung des BVerfG sollen im Folgenden überblicksweise dargestellt werden.


I. Was bisher geschah
Im Instanzenzug war Künast nur teilweise erfolgreich – so gestattete das LG Berlin (Beschl. v. 21.1.2020 – 27 AR 17/19) die Auskunft über die Bestandsdaten der Nutzer in sechs Fällen, das KG Berlin (Beschl. v. 11.3.2020 – 10 W 13/20) später für weitere sechs Kommentare. Im Übrigen sahen die Gerichte die Schwelle zur strafbaren Beleidigung nicht überschritten. Voraussetzung für einen Auskunftsanspruch über die Daten nach § 14 Abs. 3 Telemediengesetz a.F., der hier noch einschlägig war, ist jedoch eine Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidriger Inhalte, die von § 10a Abs. 1 des Telemediengesetzes oder § 1 Abs. 3 des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) in der damaligen Fassung erfasst werden, begehrt wird. Rechtswidrig i.d.S. sind insbesondere Äußerungen, die tatbestandlich eine Straftat gegen die persönliche Ehre nach §§ 185 ff. StGB darstellen.
Hinweis: Zur Wiederholung der Prüfung der §§ 185 ff. StGB siehe hier unseren Beitrag zu dem Thema.
Hinsichtlich von Äußerungen wie „Pädophilen-Trulla“, „Die ist Geisteskrank“, „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“ oder „Gehirn Amputiert“ führte das KG Berlin jedoch aus:
„Der Senat verkennt dabei keineswegs, dass es sich insoweit gleichfalls um erheblich ehrenrührige Bezeichnungen und Herabsetzungen der Ast. handelt. Unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben ist allerdings festzustellen, dass die Schwelle zum Straftatbestand der Beleidigung gem. § 185 StGB nicht überschritten wird. Denn es liegt kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung (Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik) vor und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Ast. erreicht auch nicht ein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des konkret zu berücksichtigenden Kontexts – anders als die zu Ziff. I. zu beurteilenden Äußerungen lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Ast. erscheinen (…)“  (KG Berlin, Beschl. v. 11.3.2020 – 10 W 13/20)
Insbesondere aufgrund eines Bezugs zu dem Ausgangspost bejahte das KG für einzelne Äußerungen einen Sachbezug und stützte darauf die Ansicht, die Grenze der Beleidigung sei, da der Kommentar damit nicht ausschließlich der Diffamierung diene, nicht überschritten. In dem Ausgangspost wurde eine Äußerung Künasts aus einer Bundestagsdebatte derart verkürzt wiedergegeben, dass für den Leser der Eindruck entstehen konnte, Künast billige pädophile Praktiken.


 II. Die Entscheidung des BVerfG im Überblick
Künast zog schließlich vor das Bundesverfassungsgericht – und dort bekam sie nun Recht. Das BVerfG sieht die Beschwerdeführerin in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Wie immer befasst sich das BVerfG nur mit der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Dieses müssen die Fachgerichte bei der Entscheidung hinreichend berücksichtigen. Zentrale Frage ist daher: Haben die Fachgerichte das Allgemeine Persönlichkeitsrecht so interpretationsleitend berücksichtigt, dass sein „wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“  (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 27).
In Fällen wie dem hier in Rede stehenden bewegt man sich im Spannungsbereich zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Aufhänger für die Grundrechtsprüfung musste vorliegend insbesondere § 185 StGB sein. Ist dessen Tatbestand erfüllt, liegt eine rechtswidrige Äußerung i.S.d. § 1 Abs. 3 NetzDG in der damaligen Fassung vor, ebenso wie eine Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 823 Abs. 2 BGB sowie die Verletzung des APR als absolut geschütztes Recht, was einen Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 BGB analog eröffnet.
Für die Prüfung, ob denn eine strafbare Beleidigung nach § 185 StGB vorliegt, haben die Gerichte nun schrittweise vorzugehen. Zunächst muss der Inhalt der Äußerungen erfasst und bei Interpretationsspielraum gedeutet werden. Zur Erinnerung: Schon auf dieser ersten Stufe ist die Meinungsfreiheit des sich Äußernden zu berücksichtigen, bei mehreren möglichen Auslegungsmethoden ist meinungsfreundliche Auslegungsvariante zugrunde zu legen (vgl. auch Kahl/Ohlendorf, JuS 2008, 682, 684)
Ist der Sinngehalt der Äußerung ermittelt, erfordert die Feststellung einer Beleidigung i.S.d. § 185 StGB weiterhin grundsätzlich eine Abwägung von Meinungsfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht. Der strafrechtliche Schutz der persönlichen Ehre darf nicht zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG führen, zugleich muss ein hinreichender Schutz des Persönlichkeitsrechts gleichwohl gewährleistet sein. Mit den Worten des BVerfG:
„Die Belange der Meinungsfreiheit finden demgegenüber vor allem in § 193 StGB Ausdruck, der bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen eine Verurteilung wegen ehrverletzender Äußerungen ausschließt und – vermittelt über  § 823 Absatz 2 BGB – auch im Zivilrecht zur Anwendung kommt. Diese Vorschriften tragen dem Umstand Rechnung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Nach  Artikel 2 Absatz 1 GG wird es durch die verfassungsmäßige Ordnung einschließlich der Rechte anderer beschränkt. Zu diesen Rechten gehört auch die Freiheit der Meinungsäußerung aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG. Auch diese ist nicht vorbehaltlos garantiert. Sie findet nach Artikel 5 Absatz 2 GG ihre Schranken unter anderem in den allgemeinen Gesetzen und in dem Recht der persönlichen Ehre (…)“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 26, Nachweise im Zitat ausgelassen).
Die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter kann allerdings im Einzelfall entbehrlich sein – dies insbesondere dann, wenn ein Fall von Schmähkritik vorliegt. Schmähkritik liegt vor, „wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 29).
Einen solchen Fall von Schmähkritik hatte das KG Berlin nun abgelehnt, der Sachbezug insbesondere der Äußerung „Pädophilen-Trulla“ wurde ausdrücklich betont (a.a.O.). Hier kann die Prüfung nun allerdings nicht stehen bleiben. Denn: Dass eine Äußerung keine Schmähkritik darstellt, heißt noch nicht, dass es sich auch nicht um eine strafbare Beleidigung handelt. Das BVerfG moniert in der aktuellen Entscheidung aber nun eine solche Gleichsetzung von Beleidigung und Schmähkritik:
„Es mag die im Ausgangsverfahren vertretene Auffassung der Beschwerdeführerin gewesen sein, dass es sich bei der Äußerung um Schmähkritik handele. Dies dispensiert aber das Fachgericht nicht davon, bei Nichtvorliegen einer besonderen Anforderungen unterworfenen Schmähkritik die einfache Beleidigung, die eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen erfordert, in Betracht zu ziehen und zu prüfen. Vorliegend hat sich das Fachgericht aufgrund einer fehlerhaften Maßstabsbildung, die eine Beleidigung letztlich mit der Schmähkritik gleichsetzt, mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls nicht auseinandergesetzt. Hierin liegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin. Bereits dieser – praktisch vollständige – Abwägungsausfall muss zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung führen.“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 45 f.)
Das Kammergericht hätte mithin nach der Ablehnung einer Schmähkritik noch eine weitere Abwägung der betroffenen Rechtsgüter – Meinungsfreiheit und Allgemeines Persönlichkeitsrecht – vornehmen müssen. Schon die Tatsache, dass dies nicht erfüllt ist, stellt nach Ansicht des BVerfG eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin dar und führt daher zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde. Welche Punkte in die vorzunehmende Abwägung mit einzubeziehen sind, ist im Beschluss des BVerfG unter den Randnummern 30 ff. nachzulesen.


III. Was aus der Entscheidung mitzunehmen ist
Was Klausur- und Examenskandidaten aus der Entscheidung mitnehmen sollten, lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Schmähkritik und strafrechtlich relevante Beleidigung sind keine Synonyme. Die Ablehnung des Vorliegens von Schmähkritik befreit nicht von der Notwendigkeit einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter. Die Entscheidung enthält damit wenig grundlegend Neues. Sie sollte aber allemal als Anlass genommen werden, die Grundsätze der Meinungsfreiheit, des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Verhältnisses zueinander zu wiederholen. Da strafrechtliche Erwägungen in Klausuren hier oft den Aufhänger bieten, sollten auch die §§ 185 ff. StGB in ihrer Relevanz nicht unterschätzt werden.

03.02.2022/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2022-02-03 14:33:112022-08-03 08:36:07Neues zur Schmähkritik – Das BVerfG entscheidet zu Hasskommentaren bei Facebook
Alexandra Ritter

Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG (Teil 2)

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Nach dem ersten Teil der Besprechung des Urteils des BVerfG zur sog. Bundesnotbremse im Hinblick auf Kontaktbeschränkungen, hier nun der zweite Teil, der die Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen in den Blick nimmt.
II. Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG geschützte Fortbewegungsfreiheit ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass die Beschwerdeführer als natürliche Personen vom Schutzbereich umfasst sind.
Der sachliche Schutzbereich bezieht sich auf die „im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen […]. Das Grundrecht gewährleistet allerdings von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt und überall hin bewegen zu können […]. Die Fortbewegungsfreiheit setzt damit in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicher Wille […].“ (Rn. 241)
Der Schutzbereich der Fortbewegungsfreiheit ist somit eröffnet.
b) Eingriff
aa) Fortbewegungsfreiheit
Ein Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit liegt vor, „wenn die betroffene Person durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum, der ihr an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen […].“ (Rn. 243)
Die Regelung des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG wirkt zunächst jedoch psychisch und nicht physisch. Zu dieser Eingriffskonstellation nimmt das BVerfG ausführlich Stellung. Im Einzelnen:
„Für den Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist konstitutiv, dass die Betroffenen durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert werden, einen Ort oder Raum, der ihnen an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen. […] In notwendiger Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit […] können aber auch staatliche Maßnahmen in die Fortbewegungsfreiheit eingreifen, die auf den Willen des Betroffenen zur Ausübung der Fortbewegungsfreiheit in vergleichbarer Weise wirken wie bei unmittelbarem Zwang. Hebt staatlich veranlasster körperlich wirkender Zwang die an sich tatsächlich und rechtlich bestehende Möglichkeit auf, von der Fortbewegungsfreiheit Gebrauch zu machen, handelt es sich stets um einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Regelmäßig genügt dafür aber auch bereits, dass solcher Zwang angedroht wird oder ein Akt der öffentlichen Gewalt die rechtliche Grundlage für die Anwendung derartigen Zwangs schafft […]. Dementsprechend kann in die Fortbewegungsfreiheit auch durch allein psychisch vermittelten Zwang eingegriffen werden. Um einen gegen den Willen auf Ausübung der Fortbewegungsfreiheit gerichteten staatlichen Eingriffsakt annehmen zu können, bedarf es einer davon ausgehenden Zwangswirkung, die nach Art und Ausmaß einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang vergleichbar ist […]. Ob eine vergleichbare Zwangswirkung gegeben ist, richtet sich nach den konkreten tatsächlichen und rechtlichen Umständen. Für einen Eingriff können staatlich angeordnete Verbote genügen, einen bestimmten Ort oder Bereich nicht ohne Erlaubnis zu verlassen […].“ (Rn. 246)
Die Ausgangsbeschränkungen vermitteln psychisch einen Zwang, sie einzuhalten und von der Fortbewegungsfreiheit keinen Gebrauch zu machen (Rn. 247). Bezüglich der Vergleichbarkeit der Zwangswirkung mit unmittelbar physisch wirkendem Zwang, stellt das BVerfG zum einen darauf ab, dass ein Verstoß gegen die Ausgangsbeschränkungen mit physisch wirkendem Zwang im Rahmen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts durchsetzbar ist – das allein genügt aber nicht, denn „ansonsten würde sich Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wegen der Möglichkeit, mit gefahrenabwehrrechtlichen Maßnahmen auf jeden Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung zu reagieren, zu einer Art Übergrundrecht wandeln.“ (Rn. 248)
Deshalb hält es zum anderen fest, dass das verbotene Verhalten selbst einen deutlichen Bezug zur Fortbewegungsfreiheit aufweist, indem es für ein knappes Drittel der Tageszeit verboten war, sich außerhalb einer Wohnung aufzuhalten (Rn. 248). Die Vergleichbarkeit sei somit gegeben.
bb) Freiheitsentziehung gem. Art 104 Abs. 2 GG
Die Schwelle der Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 104 Abs. 2 GG wurde durch § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nach Auffassung des BVerfG nicht überschritten (Rn. 250). Eine Freiheitsentziehung liegt vor, „wenn die Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird, was eine besondere Eingriffsintensität und grundsätzlich eine nicht nur kurzfristige Dauer der Maßnahme voraussetzt […]“ (Rn. 250). Dadurch dass der Ort – unter Wahrung der geltenden Kontaktbeschränkungen und soweit es sich um eine Wohnung oder Unterkunft handelte – frei ausgewählt werden konnte und die Maßnahme auf Zeiten geringer Mobilität beschränkt war, ist die Schwelle zur Freiheitsentziehung nicht überschritten (Rn. 250).
c) Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Die Fortbewegungsfreiheit unterliegt der Schranke von Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG
In Bezug auf die formelle Verfassungsmäßigkeit gelten die Ausführungen zu den Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Erneut sei an dieser Stelle auf die Darstellung der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und mit dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG verzichtet. Die Vereinbarkeit wird vom BVerfG bejaht.
(1) Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch ein Gesetz
Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG gestattet den Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit auf Grund eines Gesetzes. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG greift als selbst vollziehendes Gesetz jedoch unmittelbar ohne weiteren Vollzugsakt in den Schutzbereich ein. Eine enge Wortlautauslegung der Schranken würde dazu führen, dass Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit durch solche selbst vollziehenden Gesetze stets materiell verfassungswidrig sind.
Das BVerfG geht jedoch nicht von diesem engen Schrankenbegriff aus. Es erkennt an, dass der Wortlaut auf ein kompetenzielles Verständnis der Schranken (i.S.e. Verwaltungsvorbehalts), hindeuten kann (Rn. 268). Dagegen argumentiert es dennoch wie folgt:
„Wenn aber Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG auch auf selbstvollziehende Maßnahmen des Gesetzgebers Anwendung findet, obwohl diese für sich genommen nicht unmittelbar körperliche Zwangswirkung entfalten, ist es konsequent, dass auch ein solcher legislativer Grundrechtseingriff der Schrankenregelung des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG genügen kann.“ (Rn. 268)
Weiter führt es dazu aus:
„Nichts spricht dafür, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG nach ihrem Zweck gegenüber dem Gesetzgeber ein absolutes, uneinschränkbares Recht begründen soll. Wird der Gesetzgeber selbst unmittelbar an dieses Grundrecht gebunden, muss er umgekehrt auch von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit Gebrauch machen können. Der Schrankenvorbehalt steht dem nicht entgegen. Bei Eingriffen in die Fortbewegungsfreiheit unmittelbar durch Gesetz droht kein mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz. Die gesetzliche Anordnung des Freiheitseingriffs schafft keine Lage, die die Schutzmechanismen des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz und Satz 2 GG auslösen müsste. Teleologische Gründe sprechen daher bei einem erweiterten Eingriffsverständnis dagegen, die Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kompetenziell als Verwaltungsvorbehalt auszulegen.“ (Rn. 272)
(Zusätzlich nimmt das BVerfG eine gesetzeshistorische Betrachtung der Schranken vor. Diese ist nach Auffassung des BVerfG nicht nur unergiebig – in der Klausursituation ist eine Auslegung anhand der Gesetzmaterialien im Regelfall nicht möglich. Daher sei auf die Darstellung der diesbezüglichen Ausführungen verzichtet.)
Damit standen die Schranken der Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 GG den als selbstvollziehendes förmliches Gesetz geregelten Ausgangsbeschränkungen aus § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nicht entgegen.
(2) Verhältnismäßigkeit
(a) Legitimer Zweck
Bezüglich des verfassungsrechtlich legitimen Zwecks ergeben sich keine Unterschiede zu den Ausführungen bezüglich der Kontaktbeschränkungen.
(b) Geeignetheit
Bei der Geeignetheitsprüfung der Ausgangsbeschränkungen spielt der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers eine wichtige Rolle. Nach Auffassung des BVerfG lagen nachvollziehbare Gründe für die Annahme des Gesetzgebers vor, dass durch die Ausgangsbeschränkungen mittelbar auch die Anzahl und Dauer privater Zusammenkünfte reduziert werden kann, indem die An- und Abreisezeiten außerhalb der betroffenen Zeiträume liegen müssen (Rn. 277).
Auch sind die fachwissenschaftlichen Grundlagen, auf die sich die Annahmen des Gesetzgebers stützen nicht zu beanstanden (Rn. 278). Diese gehen davon aus, dass Infektionsschutzmaßnahmen in Innenräumen wie Abstandhalten, das Tragen von Masken, Lüften und allgemeine Hygieneregeln dem Infektionsrisiko nur eingeschränkt entgegenwirken können, dies aber zur Nachtzeit im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar ist (Rn. 278). Zudem lagen wissenschaftliche Erkenntnisse vor, nach denen nächtliche Ausgangsbeschränkungen zu einer Absenkung des R-Wertes (der R-Wert gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person in einer bestimmten Zeiteinheit im Mittel ansteckt) um 0,1 führen (Rn. 279).
Damit erfüllt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG die Anforderung der Geeignetheit.
(c) Erforderlichkeit
Als alternative Maßnahme kommt für die Ausgangsbeschränkungen die Kontrolle privater Zusammenkünfte zur Nachtzeit unter Verzicht auf die Ausgangsbeschränkungen in Betracht (Rn. 285). Damit diese Kontrolle dem Infektionsrisiko in Innenräumen mit gleicher Wirksamkeit entgegenwirken können, müssten sie zum einen flächendecken angelegt sein und zum anderen müssten die privaten Innenräume durch ein Betreten der Vollzugsbehörden kontrolliert werden (Rn. 285). Damit verbunden wären dann wiederum schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte sowie in die Schutzsphäre von Art. 13 GG. Kontrollen wären somit keine mildere Maßnahme (Rn. 285). Die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG waren somit auch erforderlich.
(d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Wie auch bei den Kontaktbeschränkungen erkennt das BVerfG in den Ausgangsbeschränkungen einen schwerwiegenden Eingriff, der sich auf unterschiedliche Weisen auswirken kann (Rn. 292). Das Gewicht des Eingriffs wird auch durch die Bußgeldvorschrift des § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG erhöht (Rn. 294).
Allerdings enthielt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 lit. a bis g IfSG zahlreiche Ausnahmeregelungen, die die Eingriffsintensität minderten (Rn. 296). Insbesondere die Härtefallklausel nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 lit. f IfSG „stand einer grundrechtsfreundlichen Auslegung und Anwendung offen, die ermöglichte, zwischen dem Lebens- und Gesundheitsschutz und weiteren legitimen Belangen im Einzelfall abzuwägen.“ (Rn. 296)
Im Übrigen wirken sich die tageszeitliche Begrenzung der Ausgangsbeschränkungen, die Befristung der Regelung und deren am Pandemiegeschehen flexible Ausrichtung mildernd aus (Rn. 297). Durch diese Mechanismen hat der Gesetzgeber nicht dem Lebens- Und Gesundheitsschutz sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems einseitig Vorrang eingeräumt, sondern einen angemessenen Interessenausgleich bewirkt (Rn. 299). Insbesondere die Härtefallklausel, die die Berücksichtigung besonderer Umstände im Einzelfall ermöglichte, trug dazu bei (Rn. 300).
d) Zwischenergebnis
28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2IfSG stellt einen Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG dar. Der Eingriff ist jedoch verfassungsmäßig gerechtfertigt.
2. Familien- und Ehegrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Zum Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG s.o.
b) Eingriff
Im vorliegenden Fall war es manchen der Beschwerdeführer nicht möglich, eine Zusammenkunft mit Ehe- oder Lebenspartnern so zu gestalten, dass die Anreise vor Einsetzen der Ausgangsbeschränkungen erfolgte. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG griff dadurch in das subjektive Recht dieser Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG ein (Rn. 251).
c) Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG unterliegen lediglich verfassungsunmittelbaren Schranken.
Bezüglich der Verhältnismäßigkeit gilt weitestgehend das zur Fortbewegungsfreiheit Gesagte. Zu ergänzen ist, dass der Eingriff durch die Beschränkung familiärer und partnerschaftlicher Kontakte an Gewicht gewinnt.
Allerdings enthielt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 lit. a bis g IfSG Ausnahmebestimmungen, sie sich gerade auf diese Kontakte auswirkten. Darauf stellte auch das BVerfG ab:
„Die Ausnahmen in Buchstabe c für die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts sowie in Buchtstabe d für die Durchführung unaufschiebbarer Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger milderten die Intensität des Eingriffs vor allem in die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ab. Das Zusammenwirken der genannten Ausnahmen kam unter anderem Alleinerziehenden in ihrer besonderen Belastungssituation entgegen (dazu oben Rn. 296).“ (Rn. 300)
So stellte das BVerfG auch hier im Ergebnis fest, dass der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt war.
3. Allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG
Auch der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ist eröffnet. Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt in der mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG korrespondierenden Bußgeldvorschrift § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG (Rn. 252). Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt den Schranken von Art. 2 Abs. 1 GG. Auch der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG ist gerechtfertigt (Rn. 304).
 
C. Fazit
Die Frage nach der Vereinbarkeit von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit den Grundrechten ist also mit dem bekannten Prüfungsaufbau zu meistern. Innerhalb der Zulässigkeit ist insbesondere bei der Beschwerdebefugnis darauf zu achten, ob eine Rechtssatz- oder Urteilsverfassungsbeschwerde vorliegt. Das sind aber keine neuen Probleme, sondern gehören zum Standardwissen der Grundrechtsvorlesung.
Im Rahmen der Begründetheit ist dem dynamischen Pandemiegeschehen Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber hatte zum Zeitpunkt, in dem er die Maßnahmen mit § 28b IfSG geregelt hat, einen bestimmten Kenntnisstand bezüglich der Eigenarten der Corona-Pandemie. Die Prüfung muss sich auf diesen Kenntnisstand beziehen und aus der derzeitigen Perspektive vorgenommen werden. Hilfreich dabei ist der weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, der jedoch keinen „Freifahrtschein“ bewirkt. Die Maßnahmen müssen auf tragfähiger Grundlage beruhen, nachvollziehbar sein und dürfen nicht einseitig zulasten der geschützten Freiheitsrechte gehen.
Im Grunde sollte auch die Kenntnis dieser Grundsätze bereits bekannt sein – dieser Beitrag zeigt unter Bezug auf die Erwägungen des BVerfG, wie sie sich in der konkreten Prüfung niederschlagen.

15.12.2021/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2021-12-15 09:08:572021-12-15 09:08:57Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG (Teil 2)
Alexandra Ritter

Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Darstellung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 zu den durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG für einen Zeitraum von gut zwei Monaten eingefügten bußgeldbewehrten Kontaktbeschränkungen (Teil 1) sowie bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen (Teil 2) nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG zur Eindämmung der Corona-Pandemie, der sogenannten Bundesnotbremse.
Die Begutachtung von Sachverhalten unter Berücksichtigung des Pandemiegeschehens ist auch in den (Examens)Klausuren angekommen. Die Fallgestaltungen dazu sind vielfältig und können das Zivil- und Strafrecht, aber insbesondere das öffentliche Recht betreffen. So hat das BVerfG in dem Beschluss geprüft, inwiefern die Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG (bußgeldbewehrte Kontaktbeschränkungen) und nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG (bußgeldbewehrte Ausgangsbeschränkungen) in Freiheitsgrundrechte eingriffen und ob die Eingriffe gerechtfertigt waren. Die Prüfung fand im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde statt und betrifft eine klassische Prüfungskonstellation für Klausuren. Die Folgende Darstellung ordnet die wesentlichen Erwägungen des BVerfG in den Prüfungsaufbau ein. Die behandelten Aspekte können in der Klausur jedoch nicht nur rein grundrechtlich, sondern auch verwaltungsrechtlich oder staatsorganisationsrechtlich (bspw. im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle) eingekleidet werden. Im Übrigen soll der Schwerpunkt der Darstellung auf der Begründetheitsprüfung liegen. Zuvor werden aber auch einzelne Aspekte der Zulässigkeitsprüfung aufgegriffen.
Die Verweise auf Randnummern beziehen sich auf die Randnummern in der vom BVerfG veröffentlichten Fassung des Beschlusses, die unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/11/rs20211119_1bvr078121.html (letzter Abruf v. 9.12.2021) abrufbar ist. Zur besseren Übersichtlichkeit und Lesbarkeit wurden die Verweise auf Quellen innerhalb der Zitate aus dem Beschluss ausgespart.
A. Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
I. Beschwerdebefugnis
In der Zulässigkeitsprüfung liegt nur ausnahmsweise der Schwerpunkt der Prüfung. Die Beschwerdebefugnis sollte dennoch nicht zu knapp bearbeitet werden. Die Beschwerdebefugnis einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass eine Möglichkeit der Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist.
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Zunächst müssen der Beschwerdeführer substantiiert die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung darlegen. Die reine Behauptung der Verletzung eines Grundrechts genügt nicht. In seinem Beschluss stellte das BVerfG fest, dass nicht hinreichend dargelegt wurde, wie die Kontaktbeschränkungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG die Grundrechte aus Art. 11 Abs. 1 GG, Art. 8 GG, Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG verletzen können. Bezogen auf diese Grundrechte hat das BVerfG die Möglichkeit einer Verletzung im konkreten Fall abgelehnt (Rn. 91 ff.)
Nicht abgelehnt hat das BVerfG aber die Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG, sowie die Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG und Art. 2 Abs. 1 GG  durch die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen
Die Beschwerdeführer machten die Verletzung eigener Rechte und damit Selbstbetroffenheit geltend. Zudem traten die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ab der Überschreitung des Inzidenzwertes von 100 ein, sodass keine Durchführungsmaßnahme notwendig war. Damit waren die Beschwerdeführer unmittelbar betroffen.
Gegenwärtige Betroffenheit setzt voraus, dass die angegriffene Maßnahme bereits Rechtswirkung entfaltet und sich noch nicht erledigt hat. Bei zwei der Beschwerdeführer lag im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde die Inzidenz noch unter dem die Maßnahmen auslösenden Schwellenwert. Das BVerfG stellte hierzu fest:
„Jedoch bestand bei beiden Beschwerdeführenden nicht lediglich eine vage Aussicht, dass sie irgendwann einmal in der Zukunft von den angegriffenen Regelungen betroffen sein könnten […]. Der Schwellenwert von 100 wurde am Wohnort der Beschwerdeführenden zu 1) und 2) schon ab 27. April bis einschließlich 3. Mai 2021 überschritten. Das zum maßgeblichen Zeitpunkt dynamische Infektionsgeschehen ließ auch für sie zeitnah nach Inkrafttreten des Gesetzes die Geltung der Beschränkungen erwarten. Das genügt für ihre gegenwärtige Betroffenheit in eigenen Rechten.“ (Rn. 86)
II. Rechtsschutzbedürfnis
Zum Rechtsschutzbedürfnis sind in aller Regel keine besonderen Ausführen anzustellen; in den meisten Fällen genügt die positive Feststellung, dass es vorliegt. In manchen Konstellationen ist es jedoch angezeigt, das Rechtsschutzbedürfnis ausführlicher darzulegen. Denn das Rechtsschutzbedürfnis muss auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVerfG vorliegen. Dem könnte hier entgegenstehen, dass in diesem Zeitpunkt die angegriffenen Regelungen nicht mehr galten (die Maßnahmen waren beschränkt auf einen Zeitraum bis zum 20. Juni 2021) oder dass die Inzidenzen in den örtlichen Bezugsräumen gesunken sind.
Trotz Erledigung kann das Rechtsschutzinteresse aber fortbestehen, „wenn andernfalls entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt […].“ (Rn. 98)
Das Pandemiegeschehen war weder mit Sinken der Inzidenzwerte noch mit Ablauf der Maßnahmen beendet, sodass auch in Zukunft „Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen werden [könnten], die sich in der Regelungstechnik und den Regelungsinhalten an den hier angegriffenen Vorschriften orientieren.“ (Rn. 99)
Damit besteht das Rechtsschutzinteresse fort.
III. Subsidiarität und Rechtswegerschöpfung
Bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde sind zuletzt noch Ausführungen bezüglich der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung angezeigt.
Nach Auffassung des BVerfG ist auch gegen eine Rechtsnorm der Rechtsschutz vor den Fachgerichten vorrangig zur Verfassungsbeschwerde zu ersuchen, im Wege der Feststellungs- oder Unterlassungsklage (Rn. 101). Dieses Erfordernis kann aber entfallen, wenn die betreffenden Normen entweder keine klärungsbedürftigen einfachrechtlichen Fragen beinhalten oder solche zwar beinhalten, aber das BVerfG bei seiner verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht auf deren Beantwortung angewiesen ist (vgl. Rn. 101).
Von letzterem ging das BVerfG hier aus (Rn. 103). Daher stehen die Subsidiarität und das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde hier nicht entgegen.
B. Zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Für die Prüfung der Begründetheit bietet es sich an, eine Aufteilung nach den einzelnen Normen und den damit verbundenen Maßnahmen vorzunehmen. Dies ermöglicht einen klaren und strukturierten Aufbau, der dem Leser und Korrektor eine bessere Nachvollziehbarkeit bietet. Die Prüfung der einzelnen Maßnahme erfolgt dann im Rahmen des klassischen Aufbaus nach Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung.
I. Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG
Die Beschwerdeführer könnten durch die Bestimmung des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG in ihren Grundrechten verletzt sein. In Betracht kommt eine Verletzung der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG.
1. Familien- und Ehegrundrecht gem. Art. 6 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Den Gewährleistungsgehalt von Art. 6 Abs. 1 GG beschreibt das BVerfG wie folgt:
„Das Ehe- und das Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisten ein Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen. Vom Familiengrundrecht erfasst sind die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern, unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind, wie auch weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr. 101/2021 vom 30. November 2021)
Gewährleistet wird ein „Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen“ (Rn. 108). Damit ist der Schutzbereich eröffnet.
b) Eingriff
In diesen Schutzbereich müsste durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG eingegriffen worden sein. Zu dem Eingriff führt das BVerfG aus:
„Die Regelung machte vollstreckungsfähige Vorgaben [§ 73 Abs. 1a Nr. 11b IfSG] für private Zusammenkünfte sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum. Damit beschnitten die Kontaktbeschränkungen die Möglichkeiten, über die Ausgestaltung sowohl des familiären als auch des ehelichen Zusammenlebens selbst frei zu entscheiden. […] In unterschiedlichen Haushalten lebenden Kindern verbot das Gesetz, gemeinsam ihre Eltern zu besuchen. Erst recht schlossen die Kontaktbeschränkungen im Grundsatz das Zusammenkommen von mehr als drei in die Schutzbereiche fallenden Personen aus. Zulässig blieb insoweit lediglich der Kontakt über Mittel der Fernkommunikation.“ (Rn. 109)
Damit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 I GG vor.
c) Rechtfertigung
Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Art. 6 Abs. 1 GG enthält keinen Schrankenvorbehalt und unterliegt damit lediglich verfassungsimmanenten Schranken (Rn. 116, wobei das BVerfG irrtümlicherweise von verfassungsunmittelbaren Schranken spricht). Das eingreifende Gesetz, das einem anderen Verfassungsgut dienen müsste, muss auch formell und materiell verfassungsgemäß sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Der Bund hat gem. Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten. Damit hatte er die Gesetzgebungskompetenz für Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens im Zusammenhang mit der ansteckenden Krankheit Covid-19 (Rn. 118). Fehler im Gesetzgebungsverfahren und in der Form liegen nicht vor. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war formell verfassungsmäßig.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
An dieser Stelle geht das BVerfG zunächst auf die von den Beschwerdeführern gerügten Umstände ein, dass die gewählte Regelungsmechanik gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoße und das Bestimmtheitsgebot i.S.v. Art 103 Abs. 2 GG nicht gewahrt sei. Beide Aspekte verneint das BVerfG. Auf eine Darstellung der Prüfung sei an dieser Stelle verzichtet, um eine ausführliche Darstellung der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermöglichen.

  • 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG müsste auch verhältnismäßig sein. Der Gesetzgeber muss dazu mit dem einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgen, das Gesetz muss geeignet sein diesen Zweck zu erreichen und dazu erforderlich sein und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.

(1) Legitimes Ziel
Der Gesetzgeber müsste zunächst einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt haben. Hierzu hält das BVerfG fest:
„Jedenfalls bei Gesetzen, mit denen der Gesetzgeber von ihm angenommenen Gefahrenlagen für die Allgemeinheit oder für Rechtsgüter Einzelner begegnen will, erstreckt sich die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht auch darauf, ob die dahingehende Annahme des Gesetzgebers hinreichend tragfähige Grundlagen hat […}. Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung ist also sowohl die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer solchen Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Allerdings belässt ihm die Verfassung für beides einen Spielraum, der vom Bundesverfassungsgericht lediglich in begrenztem Umfang überprüft werden kann […]. (Rn. 170 f.)
Hier bezweckte der Gesetzgeber den Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit die bestmögliche Krankenversorgung sicherzustellen (Rn. 174). Mit den Maßnahmen wollte der Gesetzgeber „ausdrücklich seine in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde Schutzpflicht erfüllen (vgl. BTDrucks 19/28444, S. 8). Dies umfasst den Schutz vor sämtlichen mit einer SARS-CoV-2-Infektion einhergehenden Gesundheits- und Lebensgefahren, insbesondere vor schweren Krankheitsverläufen und Langzeitfolgen (Long Covid).“ (Rn. 174).
Zur Bedeutung dieser Belange führt das BVerfG aus:
„Sowohl der Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke […]. Aus Art. 2 Abs. 2 GG, der den Schutz des Einzelnen vor Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Gesundheit umfasst […], kann zudem eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen umfasst […].“ (Rn. 176).
Die Annahmen des Gesetzgebers, die ihn zu seinem Tätigwerden veranlassten, stützten sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Robert Koch-Instituts, das das Pandemiegeschehen wissenschaftlich beobachtet und analysiert (Rn. 178). Dessen Einschätzungen schlossen sich mehrere wissenschaftliche Fachgesellschaften an (Rn. 181). Der Gesetzgeber stützte sich somit auf eine tragfähige Grundlage.
(2) Geeignetheit
Die Maßnahmen des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG müssten zur Erreichung des verfassungsrechtlich legitimen Zwecks geeignet sein. Zu den Anforderungen an die Geeignetheit stellt das BVerfG fest:
„Verfassungsrechtlich genügt für die Eignung bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen […]. Bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen […].“ (Rn. 185).
Dieser Spielraum ist jedoch nicht unbeschränkt. Zwar dürfen bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen (Rn. 185). Hier „war und ist insoweit gesicherte Erkenntnislage, dass SARS-CoV-2 über respiratorische Sekrete übertragen wird“ (Rn. 193).  Die sachkundigen Dritten führten aus, „dass jede Einschränkung von Kontakten zwischen Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen leistet“ (Rn. 195).
Die Kontaktbeschränkungen gem. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG waren somit zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung geeignet.
Auch wird durch geringere Infektionszahlen die Zahl der intensivpflichtig zu behandelnden Patienten verringert, sodass die Kontaktbeschränkungen auch geeignet sind, zur Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems beizutragen (Rn. 197).
(3) Erforderlichkeit
Die mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG getroffene Maßnahme müsste erforderlich sein. Das ist der Fall, wenn kein milderes aber gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht. Auch hierbei kommt dem Gesetzgeber Spielraum zu, „die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren“ (Rn. 204). Als alternative Maßnahmen kommen der Schutz durch Impfung und die Ausgestaltung von Verhaltensregeln bei Kontakten in Betracht.
Im Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war allerdings lediglich ein sehr geringer Teil der Bevölkerung doppelt geimpft und aufgrund der zu dieser Zeit herrschenden Impfstoffknappheit war mit einer schnell steigenden Impfquote nicht zu rechnen (Rn. 206). Der Schutz vor Infektionen mit SARS-CoV-2 bzw. vor einer Transmission der Erreger allein durch die Impfung erreicht damit nicht dieselbe Wirksamkeit (Rn. 206).
Zur Alternative der Ausgestaltung von Verhaltensregeln bei Kontakten führt das BVerfG aus: „Verhaltensregeln für ansonsten personell unbeschränkte Kontakte stellten ebenfalls kein gleich wirksames Mittel dar. Zwar können nach gesicherter Erkenntnis Vorkehrungen getroffen werden, um zwischenmenschliche Kontakte möglichst infektionsarm verlaufen zu lassen. Das ordnungsgemäße Tragen von Mund und Nase bedeckenden Masken kann das Infektionsrisiko […] ebenso reduzieren wie das Abstandhalten, Hygienemaßnahmen und das Lüften von Räumen. Gesicherte Erkenntnisse darüber, dass das Infektionsrisiko bei der Einhaltung solcher Regeln gleichermaßen ausgeschlossen wäre, wie bei dem gänzlichen Verbot menschlicher Ansammlungen, existieren dagegen nicht.“ (Rn. 210)
Damit stellen Verhaltensregeln keine gleich wirksame Alternative dar. Die mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG getroffenen Regelungen waren erforderlich.
(4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung dürfte nicht außer Verhältnis zur Schwere des damit verbundenen Eingriffs liegen (Rn. 216). In den Worten des BVerfG:
„Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt […]. Umgekehrt wird gesetzgeberisches Handeln umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können […].“ (Rn. 216)
Die Kontaktbeschränkungen führten dazu, dass es den Betroffenen verwehrt war,
„sich in frei gewählter Weise zusammenzufinden. Durch die Anknüpfung an einen Haushalt schlossen die Kontaktbeschränkungen auch persönliche Begegnungen zwischen Personen mit besonders nahen familiären, durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Bindungen aus, wie typischerweise im Eltern-Kind-Verhältnis, wenn es sich um Kinder in einem Alter über 14 Jahren handelte. Das Verbot privater Zusammenkünfte galt zudem auch in Konstellationen, in denen regelmäßig die persönliche Begegnung zwischen in verschiedenen Haushalten lebenden nahen Familienangehörigen besondere Bedeutung hat, wie dies etwa bei dem persönlichen Kontakt zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern beziehungsweise einem Elternteil der Fall sein kann. So ließ § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG etwa den zeitgleichen Besuch von erwachsenen, in verschiedenen Haushalten lebenden Geschwistern bei einem in einem eigenen Haushalt lebenden Elternteil nicht zu.“ (Rn. 220)
Das BVerfG geht in einem ersten Schritt somit von einem deutlich schwerwiegenden Eingriff aus. In einem zweiten Schritt geht es dann auf die Umstände ein, die die Intensität des Eingriffs mildern. Relevant sind hier die vom Gesetzgeber getroffenen Ausnahmeregelungen. So wird die Intensität des Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG insbesondere dadurch gemildert, dass für Personen eines Haushalts untereinander keine Beschränkungen galten (Rn. 226). Auch dass eine zusätzliche Person mit allen zu einem Haushalt gehörenden agieren durfte, sieht es als Erleichterung insbesondere für Alleinerziehende (Rn. 226). Zudem blieben Kontakte zur Ausübung des Sorge- oder Umgangsrechts blieben ohnehin vollumfänglich gestattet, § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz IfSG (Rn. 226). Außerdem sei die Eingriffsintensität „durch den dynamisch am Pandemiegeschehen ausgerichteten und regional differenzierenden Regelungsansatz in § 28b IfSG erheblich begrenzt“ und auch die zeitliche Befristung des Gesetzes wirke sich mindern aus (Rn. 226).
Auf der anderen Seite spricht das BVerfG den verfolgten Zwecken des Lebens- und Gesundheitsschutzes und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems „überragende Bedeutung“ (Rn. 227) zu. Angesichts des dynamischen Infektionsgeschehens bestand im maßgeblichen Zeitpunkt ein dringender Handlungsbedarf (Rn. 227 f.). Insbesondere ließ „[d]er Blick in teilweise noch stärker vom Pandemiegeschehen betroffene Nachbarstaaten […] eine weitergehende Eskalation befürchten“ (Rn. 229). Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, „dass es darauf ankam, die Dynamik des Infektionsgeschehens möglichst umfassend und rasch zu durchbrechen, um die Bevölkerung vor Gefahren für Leib und Leben durch ein außer Kontrolle geratenes Infektionsgeschehen und eine dadurch bewirkte Funktionsunfähigkeit des Gesundheitssystems zu bewahren.“ (Rn. 230).
Indem der Gesetzgeber Ausnahmeregelungen getroffen und die Kontaktbeschränkungen an sich begrenzt ausgestaltet hat, hat er die kollidierenden Verfassungsgüter in einen verfassungsgemäßen Ausgleich gebracht (Rn. 232). Die Maßnahme der Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war verhältnismäßig im engeren Sinne.
d) Zwischenergebnis

  • 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG greift in die Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG ein. Der Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

2. Allgemeine Handlungsfreiheit
a) Schutzbereich
Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass der persönliche Schutzbereich für die Beschwerdeführer als natürliche Personen eröffnet ist.
Der sachliche Schutzbereich umfasst „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt […]. Selbstverständlich erfasst das auch das Zusammentreffen mit beliebigen anderen Menschen.“ (Rn. 112)
Damit ist der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG eröffnet.
b) Eingriff
Indem die Kontaktbeschränkungen solche Zusammentreffen unter Bußgeldandrohung beschnitten, wurde dadurch in die allgemeine Handlungsfreiheit „über die Beeinträchtigung von Art. 6 Abs. 1 GG hinausgehend“ (Rn. 112) eingegriffen.
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt den Schranken von Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Im Ergebnis erkennt das BVerfG aus den oben genannten Gründen auch den Eingriff in die Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG als gerechtfertigt an. Zudem sieht es die ergänzende Bußgeldvorschrift als gerechtfertigt an (Rn. 237).
3. Allgemeines Persönlichkeitsrecht
a) Schutzbereich
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass der persönliche Schutzbereich für die Beschwerdeführer als natürliche Personen eröffnet ist.
Zum sachlichen Schutzbereich führt das BVerfG aus:
„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet solche Elemente der Persönlichkeitsentfaltung, die – ohne bereits Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes zu sein – diesen in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen […]. Danach schützt es zwar nicht jegliche Zusammenkunft mit beliebigen anderen Personen, bietet jedoch Schutz davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird. Anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung.“ (Rn. 113)
Auch dieser Schutzbereich ist eröffnet.
b) Eingriff
Die Maßnahmen könnten in diesen Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts insbesondere dann eingreifen, wenn alleinstehende und -lebende Personen betroffen sind. Bezüglich eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergänzt das BVerfG:
„Für sie [gemeint sind die alleinstehenden- und lebenden Personen] konnte es während der Geltungsdauer der Beschränkungen schwierig sein, überhaupt anderen Menschen zu begegnen. Insoweit halfen die Ausnahmen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz IfSG nicht. Sie waren auf familiäre Beziehungen ausgerichtet und konnten deshalb nicht verhindern, dass alleinstehende Personen Gefahr liefen, eine Zeit besonderer Isolation zu erleben. Sie waren jeweils darauf angewiesen, eine andere Person zu finden, die sich gerade mit ihnen treffen wollte und dafür bereit war, auf alternative Begegnungsmöglichkeiten zu verzichten. Für alleinstehende und -lebende Menschen konnte das die Möglichkeit der Begegnung mit anderen Menschen so sehr erschweren, dass dies vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gerechtfertigt werden musste.“ (Rn. 114)
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Auch hier sei auf die obigen Ausführungen verwiesen. Innerhalb der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist freilich auf die Schwere des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht abzustellen. Wie bei Art. 6 Abs. 1 GG stellte das BVerfG fest, dass der Eingriff besonders schwer wiegt, insbesondere für alleinstehende oder –lebende Personen (Rn. 221). Auch die Tatsache, dass das öffentliche Leben im Übrigen stark eingeschränkt war das Risiko der Vereinsamung bestand, führte zu einer erheblichen Schwere des Eingriffs (Rn. 221).
Im Ergebnis sei der Eingriff aus den oben aufgeführten Erwägungen jedoch gerechtfertigt.
4. Zwischenergebnis zu den Kontaktbeschränkungen
Die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG greifen in die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, in die allgemeine Handlungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Die Eingriffe sind jedoch verfassungsmäßig gerechtfertigt.
 
Teil 2 dieses Beitrags, der sich mit der Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen befasst, folgt kommende Woche hier auf www.juraexamen.info.

09.12.2021/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2021-12-09 11:33:052021-12-09 11:33:05Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG: Erhöhung des Rundfunkbeitrags nach erfolgreicher Verfassungsbeschwerde

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Vergangene Woche hat das Bundesverfassungsgericht seine lange erwartete Entscheidung zur Erhöhung des Rundfunkbeitrags veröffentlicht. Der Beitrag steigt rückwirkend ab dem 20.7.2021 (dem Tag des Beschlusses) um 86 Cent an. Dies ist das Ergebnis einer von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten angestrengten Verfassungsbeschwerde, nachdem die geplante Erhöhung zum 1.1.2021 ausgeblieben war.
 
Worum geht es?
Seit 2013 werden die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten unter anderem durch den Rundfunkbeitrag finanziert, der bis zur genannten Entscheidung des BVerfG 17,50€ pro Haushalt betrug. Das Verfahren zur Festsetzung sowie die Höhe des Rundfunkbeitrages sind im Medienstaatsvertrag festgelegt. Zum 1. Januar 2021 sollte der Beitrag um 86 Cent erhöht werden, was im Ersten Medienänderungsstaatsvertrags vorgesehen ist. 15 der 16 deutschen Bundesländer stimmten dieser Erhöhung bis Ende 2020 zu, lediglich das Land Sachsen-Anhalt verweigerte die Zustimmung. Dies verhinderte das Inkrafttreten des Vertrages und damit die Erhöhung des Rundfunkbeitrags. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sahen sich hierdurch in ihrer Rundfunkfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verletzt und erhoben Verfassungsbeschwerde, der das BVerfG nun stattgab.
 
Das Wichtigste im Überblick
Im Rundfunk existiert derzeit ein Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Anbietern, wobei die letzteren weniger strengen Anforderungen unterliegen als die erstgenannten. Nach den Ausführungen des BVerfG kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine besondere Rolle zu:

„Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt im Rahmen der dualen Rundfunkordnung, das heißt im Nebeneinander von öffentlich-rechtlichem und privatwirtschaftlichem Rundfunk, die Erfüllung des klassischen Funktionsauftrags der Rundfunkberichterstattung zu. Er hat die Aufgabe, als Gegengewicht zu den privaten Rundfunkanbietern ein Leistungsangebot hervorzubringen, das einer anderen Entscheidungsrationalität als der der ökonomischen Anreize folgt und damit eigene Möglichkeiten der Programmgestaltung eröffnet. Er hat so zu inhaltlicher Vielfalt beizutragen, wie sie allein über den freien Markt nicht gewährleistet werden kann“ (BVerfG, Beschl. v. 20.7.2021, 1 BvR 2756/20 u.a., Rn. 78).

Diese Bedeutung sieht das BVerfG durch die modernen Formen der Kommunikation, insbesondere das Internet, nicht geschmälert, sondern gestärkt. Es weist auf die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Fakten und Meinung sowie Unsicherheiten hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Quellen im Internet hin. Hierdurch wachse die Bedeutung der Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks „durch authentische, sorgfältig recherchierte Informationen, die Fakten und Meinungen auseinanderhalten, die Wirklichkeit nicht verzerrt darzustellen und das Sensationelle nicht in den Vordergrund zu rücken, vielmehr ein vielfaltsicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden“ (Rn. 81 der Entscheidung).
Zur Gewährleistung der Rundfunkfreiheit gehört die Sicherung der Funktionsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, insbesondere auch einer bedarfsgerechten Finanzierung. Das BVerfG leitet daher aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG einen grundrechtlichen Finanzierungsanspruch der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten her, dessen Erfüllung der „Ländergesamtheit als föderaler Verantwortungsgemeinschaft“ obliegt (Rn. 75 der Entscheidung).  

Zur Erinnerung: In einer Klausur müsste man sich mit der Grundrechtsfähigkeit der Rundfunkanstalten auseinandersetzen. Bei den Anstalten handelt es sich um juristische Personen des öffentlichen Rechts. Für juristische Personen gelten die Grundrechte nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG, soweit sie dem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Dem Wesen nach sind Grundrechte auf juristische Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht anwendbar. Es gilt das Konfusionsargument – wer grundrechtsgebunden ist, kann nicht zugleich grundrechtsverpflichtet sein. Hiervon gibt es wohlgemerkt Ausnahmen, insbesondere die sog. Ausnahmetrias von Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten. Letztere können sich auf die Rundfunkfreiheit berufen. Zu verorten ist das Problem bei der Beschwerdefähigkeit oder (bei materieller Fallfrage) beim persönlichen Schutzbereich.

Die Konstruktion dieser föderalen Verantwortungsgemeinschaft ist der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen geschuldet: Diejenige für die Rundfunkfinanzierung liegt bei den Ländern. Da der öffentlich-rechtliche Rundfunk aber deutschlandweit organisiert ist, ist auch eine länderübergreifende Regelung der Finanzierung geboten. (Rn. 68 der Entscheidung)
Die erforderliche Koordinierung kann in derartigen Fällen durch den Abschluss eines intraföderalen Staatsvertrages, d.h. eines Vertrages zwischen den Bundesländern erfolgen. Der Staatsvertrag ersetzt in einem solchen Fall nicht das Landesrecht, verpflichtet die Länder als Vertragsparteien aber dazu, die entsprechenden Regelungen in Landesrecht überzuleiten (vgl. insgesamt Bortnikov, JuS 2017, 27). Dies erfolgt durch den Erlass von Zustimmungsgesetzen auf Landesebene. Vertragsparteien des Medienstaatsvertrags sind alle 16 Bundesländer. Seine Änderung bedarf wiederum der Zustimmung aller. Das BVerfG macht in seiner Entscheidung darauf aufmerksam, dass diese Art der Regelung durch Staatsvertrag mit Erfordernis der Einstimmigkeit nicht der einzige Weg ist, die Rundfunkfinanzierung zu organisieren (s. Rn. 99 der Entscheidung) – da es aber die aktuell gewählte ist, bleibt es bei dem Zustimmungserfordernis aller Länder und der genannten Verantwortungsgemeinschaft für die Gewährleistung der ausreichenden Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Die Verfassungsbeschwerden richten sich nun gegen die unterlassene Zustimmung des Landes Sachsen-Anhalt. Hier tritt ein weiteres, in einer Klausur nicht zu vernachlässigendes Problem auf: Kann ein Unterlassen Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein? Das BVerfG bejaht dies mit ausführlicher Begründung.

„Ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt kann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (vgl. §§ 92, 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Voraussetzung ist hierfür, dass sich eine entsprechende Handlungspflicht aus dem Grundgesetz herleiten lässt (vgl. BVerfGE 6, 257 <264>; 23, 242 <249>; 56, 54 <70 f.>; 129, 124 <176>; 139, 321 <346 Rn. 82>). Eine solche Handlungspflicht ergibt sich hier aus der Rundfunkfreiheit im gegenwärtigen System auch für jedes einzelne Land. Für die funktionsgerechte Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als Ausprägung der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG besteht eine staatliche Gewährleistungspflicht (vgl. BVerfGE 90, 60 <91>; 119, 181 <224>), mit der ein grundrechtlicher Finanzierungsanspruch der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten korrespondiert.“ (Rn. 66 der Entscheidung)

Betont wird weiterhin, dass die gemeinschaftliche Verantwortung der Länder nichts an der Handlungspflicht des einzelnen Landes ändere. Ob diese Handlungspflicht und mit ihr die Gewährleistung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nun durch die Verweigerung der Zustimmung des Landes Sachsen-Anhalt verletzt wurde, hängt davon ab, ob die Zustimmung berechtigterweise verweigert wurde. Um dies zu beantworten ist ein Blick auf das Verfahren der Festsetzung des Rundfunkbeitrags erforderlich.
Dieses ist von der allgemeinen Rundfunkgesetzgebung strikt getrennt. Hierdurch soll einer Einflussnahme auf das Programm der Rundfunkanstalten vorgebeugt werden. Dessen Gestaltung obliegt den Rundfunkanstalten im Rahmen ihrer Programmfreiheit (Rn. 85 ff. der Entscheidung). Prozessual ist dieser Trennungsgrundsatz durch ein dreistufiges Verfahren abgesichert: Zunächst melden die Rundfunkanstalten Finanzbedarf an (1. Stufe). Dieser wird durch die Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) überprüft (2. Stufe). Der Beitragsvorschlag, den die KEF im Anschluss an ihre Prüfung macht, ist sodann Grundlage für die Entscheidung der Länder (3. Stufe), die im Staatsvertrag festgehalten wird. Nach der Empfehlung der KEF sollte der Rundfunkbeitrag ab Januar 2021 um 86 Cent erhöht werden.
An die Empfehlung der KEF sind die Länder nicht schlechterdings gebunden. Gemeinsam und mit guten Gründen können sie hiervon abweichen (vgl. Rn. 97 der Entscheidung). Diese Abweichungsmöglichkeit ist schon aufgrund des Demokratieprinzips geboten, ihre Grenzen dürfen im Lichte des Grundrechtsschutzes, den das beschrieben Verfahren gewährleisten soll, jedoch nicht zu weit gezogen werden.

„Der fachlich ermittelte Finanzbedarf muss dabei zwar die Grundlage für die Festsetzung der Beitragshöhe sein. Die Möglichkeit gehaltvoller politischer Verantwortungsübernahme setzt indessen die oben beschriebene Befugnis der Abweichung vom Vorschlag der KEF voraus. Bei der Bestimmung der Reichweite dieser Abweichungsbefugnis muss dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG) Rechnung getragen werden, ohne dass der prozedurale Grundrechtsschutz leerlaufen darf (vgl. BVerfGE 119, 181 <225 f.>). Erforderlich bleibt daher im gegenwärtigen System, der Bedarfsfeststellung durch die KEF maßgebliches Gewicht beizumessen, das über eine bloße Entscheidungshilfe hinausreicht.“ (Rn. 100 der Entscheidung)

Eine deutliche Absage erteilt das BVerfG jedoch Alleingängen der Länder. Im gegenwärtigen System genüge es nicht, wenn ein einzelnes Land die Erhöhung des Rundfunkbeitrags ablehne (Rn. 101 der Entscheidung). Will ein Land von der Empfehlung der KEF abweichen, sei es die Sache dieses Landes, das Einvernehmen aller Länder herbeizuführen (Rn. 108 der Entscheidung). Schon die Verweigerung der Zustimmung des Landes Sachsen-Anhalt an sich stellt demnach eine Verletzung des Gewährleistungsgehalts des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG dar. Darüber hinaus fehle es auch an einer tragfähigen Begründung für die geforderte Abweichung von der KEF-Empfehlung (Rn. 110 der Entscheidung). Hierauf kommt es indes nicht mehr entscheidend an – selbst wenn ein hinreichender Abweichungsgrund bestanden hätte, wäre das Einvernehmen aller Länder herbeizuführen gewesen.
Die Verfassungsbeschwerde der Rundfunkanstalten ist damit begründet – durch die infolge der fehlenden Zustimmung ausgeblieben Erhöhung des Rundfunkbeitrags wurde ihr grundrechtlicher Finanzierungsanspruch nicht erfüllt und ihre Rundfunkfreiheit verletzt. Hier bleibt das BVerfG jedoch nicht stehen: Auf Grundlage des § 35 BVerfGG nimmt es zur Vermeidung weiterer Beeinträchtigungen des Rundfunkfreiheit eine vorläufige Regelung vor und setzt die Regelung des Art. 1 des Ersten Medienänderungsstaatsvertrags, der die Beitragserhöhung vorsieht, übergangsweise in Kraft. Von einer rückwirkenden Änderung ab dem 1.1.2021 sah es ab, die Erhöhung gilt ab dem 20.7.2021, dem Tag der Entscheidung.
 
Ausblick
Die Entscheidung hat große mediale Aufmerksamkeit erfahren und wird kurz- oder langfristig sicherlich ihren Weg in Klausuren und mündliche Prüfungen finden. Neben klassischen Problemen wie dem der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts sowie dem Unterlassen als Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Prüfung auch mit anspruchsvolleren Fragen wie der Herleitung des Finanzierungsanspruchs aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und dem Umgang mit dem Konstrukt des Staatsvertrags verbunden. Die vorläufige Regelung nach § 35 BVerfGG kann insbesondere in mündlichen Prüfungen angesprochen werden. In der Prüfung dürfte es hilfreich – wenn natürlich auch nicht unverzichtbar – sein, das Argumentationsmuster des BVerfG zu kennen, um auf dieser Grundlage zu einer eigenen Lösung zu gelangen.

 

09.08.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-08-09 08:00:492021-08-09 08:00:49BVerfG: Erhöhung des Rundfunkbeitrags nach erfolgreicher Verfassungsbeschwerde
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG als Klimaschützer: Teilweiser Erfolg von Verfassungsbeschwerden gegen Klimaschutzgesetz

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In einer mit Spannung erwarteten Entscheidung des BVerfG vom gestrigen Tage hat sich das Gericht zu Fragen des Klimawandels und der Verantwortung des deutschen Gesetzgebers geäußert. Die wichtigsten Punkte der Entscheidung, die insbesondere durch allgemeine Aussagen zum Klimaschutz im Lichte des Verfassungsrechts auffällt, sollen im Folgenden übersichtsartig dargestellt werden.
Worum geht es?
Mehrere, nach Angaben des Gerichts überwiegend junge Personen auch aus dem außereuropäischen Ausland haben Verfassungsbeschwerden gegen das deutsche Klimaschutzgesetz eingereicht. Das Gesetz enthält die Verpflichtung, Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 55 % im Vergleich zum Jahre 1990 zu reduzieren. Hierfür werden für näher bestimmte Bereiche jeweils sog. Reduktionspfade festgelegt. Für die Zeit nach dem Jahr 2030 trifft das Gesetz keine Festlegungen, hierzu sieht § 4 Abs. 6 KSG lediglich vor, dass die Bundesregierung im Jahre 2025 weitere Regelungen durch Rechtsverordnung trifft. In diesem Kontext ist wichtig zu wissen, dass auf Grundlage des Pariser Klimaabkommens als Zielmarke gilt, die Erderwärmung auf möglichst 1,5 °C, jedenfalls deutlich unter 2 °C zu begrenzen. Zur Erderwärmung trägt eine Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre bei, wobei einmal in die Atmosphäre gelangtes CO2 nur schwer wieder entfernt werden kann. Dies berücksichtigend hat das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ein sog. CO2-Restbudget errechnet, d.h. eine Restmenge an CO2, die noch ausgeschieden werden kann und die sich anteilig auf die Staaten der Welt aufteilen lässt. Das vom deutschen Sachverständigenrat für Umweltfragen ermittelte Restbudget für Deutschland wäre bei Geltung der Vorgaben des Klimaschutzgesetzes bis zum Jahr 2030 weitgehend aufgebraucht.
Die Beschwerdeführer sehen die grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und aus Art. 14 GG, sowie ihr „Grundrecht auf menschenwürdige Zukunft“ und ihr „Grundrecht auf das ökologische Existenzminimum“ aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20a GG und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG verletzt.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Gericht setzt sich zunächst mit der gerügten Schutzpflichtverletzung auseinander. Hierbei erkennt es grundsätzlich einen Schutzanspruch vor den Gefahren der Erderwärmung an, gestützt auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit:

„Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels, etwa vor klimabedingten Extremwetterereignissen wie Hitzewellen, Wald- und Flächenbränden, Wirbelstürmen, Starkregen, Überschwemmungen, Lawinenabgängen oder Erdrutschen, zu schützen.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Auch aus dem Grundrecht auf Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG könne in diesem Kontext eine Schutzpflicht folgen, da etwa Grundeigentum durch den steigenden Meeresspiegel oder Trockenheit beschädigt werden kann. Dass auch die Gefährdung von Leib und Leben schon eine Beeinträchtigung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darstellen kann, ist nicht neu (siehe etwa BVerfGE 49, 89 (141)). Ebenso wenig neu ist auch die Begründung, mit der das BVerfG eine Schutzpflichtverletzung letztlich ablehnt: Angesichts des dem Gesetzgeber bei der Erfüllung von Schutzpflichten zukommenden Spielraums könne eine Verletzung nicht festgestellt werden.
Während das BVerfG die Pflicht des Gesetzgebers, Maßnahmen zum Schutze von Leib, Leben und Eigentum vor den Gefahren des Klimawandels zu ergreifen, also ausdrücklich anerkennt, so tut es dies nur in den bereits zuvor anerkannten Grenzen solcher Schutzpflichten. Es gilt das Untermaßverbot: Nur gänzlich ungeeignete oder vollkommen unzulängliche Maßnahmen bedeuten letztlich eine Verletzung der Grundrechte (siehe schon BVerfGE 77, 170 (215); 88, 203 (254 f.)). Das sieht das Gericht hier nicht gegeben.

„Zum grundrechtlich gebotenen Schutz vor den Gefahren des Klimawandels offensichtlich ungeeignet wäre ein Schutzkonzept, das nicht das Ziel der Klimaneutralität verfolgte; die Erderwärmung könnte dann nicht aufgehalten werden, weil jede Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre zur Erderwärmung beiträgt und einmal in die Atmosphäre gelangtes CO2 dort weitestgehend verbleibt und absehbar kaum wieder entfernt werden kann. Völlig unzulänglich wäre zudem, dem Klimawandel freien Lauf zu lassen und den grundrechtlichen Schutzauftrag allein durch sogenannte Anpassungsmaßnahmen umzusetzen. Beides ist hier nicht der Fall.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Daher konnte hier auch offenbleiben, ob und inwiefern die grundrechtlichen Schutzpflichten auch gegenüber Beschwerdeführern aus dem außereuropäischen Ausland gelten.
Hier bleibt die Entscheidung jedoch nicht stehen. In der Folge setzt sich das Gericht mit der Bedeutung der CO2-Restbudgets und der Tatsache auseinander, dass das für Deutschland errechnete Budget nach Umsetzung der Vorgaben des Klimaschutzgesetzes bis 2030 weitgehend aufgebraucht würde. Denn das bedeutet, sofern man das Ziel der Klimaneutralität und das 1,5 bzw. 2°C-Ziel verfolgt, dass nach 2030 nur noch sehr begrenzte Emissionsmöglichkeiten bestehen würden. Die entscheidende Last wird damit in die Zukunft und daher auf jüngere Generationen verlagert. „CO2-relevanter Freiheitsgebrauch“ wäre damit in der Zukunft nur noch in engen Grenzen möglich. Unter Verweis auf die Wechselwirkung, dass jede heute zugelassene Emissionsmenge eine Einschränkung der zukünftig zulässigen Menge darstellt, sieht das BVerfG gerade hierin die entscheidende Grundrechtsbeschränkung. Zwar müsse der CO2-relevante Freiheitsgebrauch ohnehin irgendwann weitgehend unterbunden werden, ein umfangreicher Verbrauch der noch zur Verfügung stehenden Emissionen vor 2030 gefährdet aber nach Einschätzung des Gerichts die Möglichkeit eines schonenden Übergangs von der heutigen Lebensweise zu einer klimaneutralen. Dies stelle eine eingriffsähnliche Vorwirkung der durch das Grundgesetz umfassend geschützten Freiheit dar. Um welche Grundrechte es geht, präzisiert das Gericht nicht, vielmehr könne praktisch jegliche Freiheit potentiell betroffen sein. Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung formuliert das Gericht zwei Voraussetzungen:

„Die Verfassungsmäßigkeit dieser nicht bloß faktischen, sondern rechtlich vermittelten eingriffsähnlichen Vorwirkung aktueller Emissionsmengenregelungen setzt zum einen voraus, dass sie mit dem objektivrechtlichen Klimaschutzgebot des Art. 20a GG vereinbar ist. Grundrechtseingriffe lassen sich verfassungsrechtlich nur rechtfertigen, wenn die zugrundeliegenden Regelungen den elementaren Grundentscheidungen und allgemeinen Verfassungsgrundsätzen des Grundgesetzes entsprechen. Das gilt angesichts der eingriffsähnlichen Vorwirkung auf grundrechtlich geschützte Freiheit auch hier. Zu den zu beachtenden Grundsätzen zählt auch Art. 20a GG. Zum anderen setzt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung voraus, dass die Emissionsmengenregelungen nicht zu unverhältnismäßigen Belastungen der künftigen Freiheit der Beschwerdeführenden führen.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Einen Verstoß gegen die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG als solchen sieht das Gericht nun zunächst nicht gegeben. Zwar verpflichte der dort enthaltene Klimaschutzauftrag eine Lösung des Klimaschutzproblems auf internationaler Ebene zu suchen sowie eigene, innerstaatliche Maßnahmen zum Klimaschutz zu treffen. Auch gewinne das Klimaschutzgebot mit fortschreitendem Klimawandel an Gewicht. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Klimaschutzgebots sei auch nicht aufgrund der offenen Formulierung des Art. 20a GG ausgeschlossen, denn der Gesetzgeber habe das Klimaschutzziel dahingehend konkretisiert, dass der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber 1990 begrenzt werden soll. Dies erfolgte durch § 1 S. 3 Klimaschutzgesetz, der dieses Ziel zur Grundlage desselben erklärt. Letztlich scheitert die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 20a GG jedoch wiederum an der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers sowie der Unsicherheiten, die bei der Berechnung des CO2-Restbudgets bestehen.

„Derzeit kann ein Verstoß gegen diese Sorgfaltspflicht nicht festgestellt werden. Zwar folgt daraus, dass Schätzungen des IPCC zur Größe des verbleibenden globalen CO2-Restbudgets zu berücksichtigen sind, obwohl darin Ungewissheiten enthalten sind. Durch die in § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 geregelten Emissionsmengen würde das vom Sachverständigenrat für Umweltfragen auf der Grundlage der Schätzungen des IPCC ermittelte Restbudget bis zum Jahr 2030 weitgehend aufgebraucht. Das Maß an Verfehlung bildete jedoch verglichen mit den derzeit in der Berechnung des Restbudgets enthaltenen Unsicherheiten keine hinreichende Grundlage für eine verfassungsgerichtliche Beanstandung.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Die zweite Voraussetzung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ist nach Ansicht des Gerichts hingegen nicht erfüllt. Zwar besteht insoweit aktuell noch keine Grundrechtsbeeinträchtigung – durch den nur wenig beschränkten CO2-Ausstoß zum jetzigen Zeitpunkt sind jedoch stärkere Einschränkungen für die Zukunft sicher. Hierin sieht das BVerfG einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil die erforderlichen Einschränkungen nicht in grundrechtsschonender Weise über die Zeit verteilt werden:

„Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. Künftig können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein; gerade deshalb droht dann die Gefahr, erhebliche Freiheitseinbußen hinnehmen zu müssen. Weil die Weichen für künftige Freiheitsbelastungen bereits durch die aktuelle Regelung zulässiger Emissionsmengen gestellt werden, müssen die Auswirkungen auf künftige Freiheit aber aus heutiger Sicht verhältnismäßig sein.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Zwar ist noch nicht sicher, ob tatsächlich unzumutbare Grundrechtsbeschränkungen aufgrund der zukünftigen Treibhausgasminderungslast eintreten. Das Risiko ist nach Einschätzung des Gerichts jedoch hoch, was bereits jetzt die Berücksichtigung der dann potentiell betroffenen Freiheitsrechte notwendig macht. Wie ein mit der Verfassung in Einklang stehender Zustand erreicht werden könnte, gibt das BVerfG ebenfalls vor: Frühzeitig müssten transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert werden, die Orientierung bieten und Planungssicherheit vermitteln. Auch eine Planung weit über das Jahr 2030 hinaus sei erforderlich. Dass die Bundesregierung im Jahr 2025 einmalig verpflichtet wird, durch Rechtsverordnung weitere Festlegungen zu treffen, genüge nicht. Schon an der Rechtzeitigkeit solcher Festlegungen werden Zweifel erhoben. Die Verordnungsermächtigung nach § 4 Abs. 6 Klimaschutzgesetz genüge weiterhin nicht den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG sowie dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts. Schon das Klimaschutzgesetz selbst müsse nähere Maßgaben zur Bestimmung der Jahresemissionsmengen durch den Verordnungsgeber treffen.
Was bleibt?
Die Entscheidung ist in ihrer Bedeutung sicherlich nicht zu unterschätzen und wird von Klimaschützern als Erfolg gefeiert. Der Gesetzgeber wird bereits jetzt verpflichtet, eine langfristige Planung zur Erreichung des 1,5 bzw. 2 °C-Ziels zu erarbeiten. Eine Planung lediglich bis zum Jahr 2030, die entscheidenden Veränderungen letztlich weitgehend nach hinten verschiebt, dafür dann aber umso dringlicher macht, genügt nicht. Das BVerfG stärkt hiermit der Klimaschutzbewegung und der jüngeren Generation den Rücken und trifft auch einige grundlegende Aussagen zur Bedeutung des Klimaschutzes für die Grundrechte des Einzelnen. Zugleich betont es jedoch wiederholt den weiten Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Wie dieser genutzt wird, ist nun abzuwarten. Mit den von den Beschwerdeführern geltend gemachten „Klimagrundrechten“ setzte sich das Gericht – soweit aus der Pressemitteilung ersichtlich – nicht direkt auseinander. Die Entscheidung basiert vielmehr auf der Prämisse, durch eine in Zukunft notwendige, sehr viel strengere Regulierung des CO2-Ausstoßes könnten sämtliche anerkannten Freiheitsrechte beeinträchtigt werden. Ein Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum etwa erkennt das Gericht also nicht ausdrücklich an. Die vom BVerfG monierte Grundrechtsgefahr folgt nicht aus dem Klimawandel als solchem, sondern aus den Einschränkungen, die er dem Einzelnen abverlangt. Dennoch kann die Entscheidung insgesamt als Ermahnung aufgefasst werden, auch heute schon an morgen zu denken – oder eben an 2030 und alles, was darauf folgt.

30.04.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-04-30 08:06:092021-04-30 08:06:09BVerfG als Klimaschützer: Teilweiser Erfolg von Verfassungsbeschwerden gegen Klimaschutzgesetz
Redaktion

Öffentliches Recht II – Oktober 2020 – Berlin/Brandenburg

Berlin, Brandenburg, Examensreport

Nachfolgend erhaltet ihr ein Gedächtnisprotokoll zu einer Examensklausur im Öffentlichen Recht, die im Oktober 2020 in Berlin und Brandenburg gestellt wurde. Ergänzungen und Korrekturanmerkungen sind wie immer gerne gesehen. Wir danken sehr herzlich für die Zusendung.
Unser Examensreport lebt von Eurer Mithilfe. Deshalb bitten wir Euch, uns Gedächtnisprotokolle Eurer Klausuren zuzuschicken, damit wir sie veröffentlichen können. Nur so können eure Nachfolger genauso von der Seite profitieren, wie ihr es getan habt.
 
Die Stadt S betreibt mehrere öffentliche Schwimmbäder, deren Benutzung mit einer formell rechtmäßigen „Bade- und Benutzungsordnung“ geregelt ist. In dieser Ordnung heißt es u.a.:

5.1 Das Baden ist nicht gestattet, soweit Personen an ansteckenden Krankheiten oder    offenen Wunden leiden (z.B. Hautausschlag).
5.2 Beim Baden ist es untersagt, lange Badebekleidung (Neoprenanzug, Badeshirts,       Burkini) zu tragen. Eine Ausnahme gilt für das Tragen eines Burkinis während des     schulischen Schwimmunterrichts.
5.3 Bei Zuwiderhandlungen darf der Badegast dem Gelände verwiesen werde.

Die 38-jährige, streng gläubige, französische Muslimin F lebt in S und möchte mit einem Burkini baden gehen. F empfindet die islamischen Bekleidungsvorschriften, wonach Frauen ab dem zehnten Lebensjahr ihren Körper (u.a. Arme, Beine, Haare) vor den Blicken von Männern verbergen sollen, als für sich bindend. Sie hält die Badeordnung für rechtswidrig.
Die Stadt S hält dem Ansinnen der M entgegen, dass die Maßnahme dem Gesundheitsschutz anderer Badegäste diene. Außerdem sei nicht nur das Tragen von Burkinis, sondern das Tragen jeglicher langer Badebekleidung unzulässig. Zulässig sind danach Bikini, Badeanzug, Herren Bade Slip oder Badehose. Außerdem würden mittlerweile – was zutrifft – auch andere, nicht religiöse Personen Burkinis tragen.
M erhebt vor dem OVG ein Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO. Das OVG entscheidet, dass die Badeordnung rechtmäßig sei. Die zulässige Revision zum BVerwG wird ebenfalls als unbegründet abgewiesen und der M am 21.01.2020 zugestellt. Das BVerwG weist darüber hinaus auf die höchstrichterliche Rechtsprechung hin, wonach es muslimische Mädchen im Schwimmunterricht teilnehmen können, wenn sie einen Burkini tragen. Dies diene dazu, einer Ausgrenzung der Betroffenen entgegenzuwirken und eine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu fördern.
M fühlt sich in ihren Grundrechten  aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Weiter könne es nicht sein, dass Schulmädchen einen Burkini tragen dürfen, M aber nicht.
M erhebt Verfassungsbeschwerde gegen das letztinstanzliche Urteil des BVerwG. Dafür schickt sie ein Fax am 21.02.2020 an das BVerfG, welches dort auch am selben Tag eingeht. Aufgrund eines, für M nicht erkennbaren, Defekts des Empfangsgerätes beim BVerfG druckt das Gerät aber nur viele leere Seiten aus. Trotzdem ist erkennbar, dass das Fax von M stammt. Weiter schickt M das unterschriebene Original der Verfassungsbeschwerde am 21.02.2020 per Post los. Das Schreiben kommt am 24.02.2020 beim BVerfG an.
Hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
Bearbeitervermerk:
1. Die Fallfrage ist umfassend zu klären, gegebenenfalls ist ein Hilfsgutachten zu erstellen.
2. Europarecht ist bei Beantwortung der Frage nicht zu berücksichtigen.

07.12.2020/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2020-12-07 09:00:252020-12-07 09:00:25Öffentliches Recht II – Oktober 2020 – Berlin/Brandenburg
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG: Strafrechtliche Verurteilung wegen „Containerns“ verfassungsgemäß

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Wie schon die vorangegangenen Entscheidungen der Strafgerichte hat auch die Entscheidung des BVerfG (Az. 2 BvR 1985/19, 2 BvR 1986/19) zur strafrechtlichen Relevanz des sogenannten „Containerns“ große mediale Aufmerksamkeit erfahren. Die wesentlichen Entscheidungsgründe des BVerfG sollen Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein.
I. Worum es geht
Die beiden Beschwerdeführerinnen wenden sich in ihren Verfassungsbeschwerden jeweils gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Diebstahls nach § 242 Abs. 1 StGB. Die Studentinnen hatten mehrere Lebensmittel aus einem Abfallcontainer eines Supermarktes entwendet. Der Abfallcontainer war für solche Lebensmittel vorgesehen, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war oder die wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes nicht mehr verkauft werden konnten. Er war – in Reaktion auf vorangegangene Entnahmen von Lebensmitteln – verschlossen und befand sich auf dem Gelände des Supermarktes.
Während sich die Beschwerdeführerinnen in den strafrechtlichen Verfahren darauf beriefen, die Lebensmittel seien infolge des Wegwerfens, das eine Eigentumsaufgabe darstelle, keine fremden Sachen i.S.d. § 242 Abs.1 StGB, sondern vielmehr herrenlos gewesen, sahen die Strafgerichte dies anders.
Eine Eigentumsaufgabe durch den Supermarktinhaber setze den vorherrschenden Willen voraus, sich der Sache ungezielt zu entäußern. Dies sei bei der Entsorgung in dem Abfallcontainer nicht gegeben, sodass die Lebensmittel weiterhin im Eigentum des Supermarktinhabers standen und taugliche Tatobjekte i.R.d. § 242 Abs. 1 StGB darstellten. Die Beschwerdeführerinnen wurden zu acht Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.
Hiergegen legten sie Verfassungsbeschwerden ein, mit der Begründung, die Verurteilung verletze sie in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Der Supermarkt habe kein schutzwürdiges Interesse an den Lebensmitteln und die Strafbarkeit des Verhaltens verstoße gegen das Übermaßverbot. Insbesondere sei die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG zu beachten, die auch zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln verpflichte.
II. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig. In der Begründetheitsprüfung setzte sich das BVerfG zunächst mit einem möglichen Verstoß der Entscheidung gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot auseinander. Maßgeblich dafür, ob eine Gerichtsentscheidung gegen das Willkürverbot verstößt, ist, ob sie auf sachfremdem Erwägungen beruht:

„Willkürlich ist ein Richterspruch, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung allerdings nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Eine Maßnahme ist willkürlich, die im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich.“ (BVerfG, NJW 2010, 1349 (1350)).

Einen solchen Verstoß konnte das BVerfG in der vorliegenden strafrechtlichen Entscheidung nicht erkennen. Die Erwägungen der Strafgerichte zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Fremdheit, wonach die Wertlosigkeit allein nicht entscheidend sei und allein die Entsorgung in einem Abfallcontainer nicht zwingend auf einen Eigentumsaufgabewillen schließen lasse, zumal der Container verschlossen war, beruhen nach Ansicht des BVerfG auf sachgemäßen und nachvollziehbaren Erwägungen und sind daher nicht willkürlich.
Weiterhin ging das BVerfG auf die Verfassungsmäßigkeit der strafrechtlichen Beweiswürdigung ein. Entscheidend war hier, ob die Feststellung, dass die Entsorgung der Lebensmittel in dem Abfallcontainer keine Eigentumsaufgabe i.S.d. § 959 BGB darstelle, verfassungsrechtlich zu beanstanden sei. Hierzu führte das BVerfG aus:

„Die Feststellung, ob die Entnahme von Lebensmitteln aus einem Abfallbehälter eine strafbare Wegnahme einer fremden Sache darstellt, obliegt grundsätzlich den Fachgerichten. Diese haben unter Würdigung der konkreten Umstände des jeweiligen Sachverhalts zu entscheiden, ob die Abfälle durch eine Eigentumsaufgabe gemäß § 959 BGB herrenlos geworden sind, ob ein Übereignungsangebot an beliebige Dritte vorlag oder ob die Abfälle im Eigentum des bisherigen Eigentümers verblieben. Die Fachgerichte haben maßgeblich darauf abgestellt, dass sich der Abfallcontainer in der Anlieferzone des Supermarktes und damit auf dessen eigenem Gelände befunden habe und darüber hinaus verschlossen gewesen sei. Zudem hätten die Abfälle zur Übergabe an ein spezialisiertes und vom Inhaber bezahltes Entsorgungsunternehmen bereitgestanden. Schließlich habe das Verschließen der Container eine Reaktion auf vorherige, unbefugte Entnahmen Dritter dargestellt. Aufgrund dieser Umstände sei auf den Willen des Unternehmens zu schließen, dass es weiterhin Eigentümer der Abfälle habe bleiben wollen. Gegen diese Beweiswürdigung ist aus Verfassungssicht nichts einzuwenden.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr. 75/2020).

Schließlich setzt sich die Entscheidung mit der Verhältnismäßigkeit der Verurteilung auseinander. Hierbei lässt das BVerfG jedenfalls im Rahmen der bislang veröffentlichten Pressemitteilung offen, welches der von den Beschwerdeführerinnen gerügten Grundrechte verletzt sein könnte, jedenfalls eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG kommt jedoch in Betracht.
Die Verurteilung zu acht Stunden gemeinnütziger Arbeit stellt eindeutig einen Eingriff dar. Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs kommt es darauf an, ob das Grundrecht beschränkbar ist und die Grenzen der Einschränkungsmöglichkeit gewahrt wurden. Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Bei der Prüfung einer Urteilsverfassungsbeschwerde ist eine zweistufige Prüfung erforderlich: Zunächst muss die Einschränkung auf einem seinerseits verfassungsgemäßen Gesetz beruhen (Normprüfungsebene).
In Bezug auf § 242 Abs. 1 StGB führt das BVerfG aus:

„Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht kann diese Entscheidung nicht darauf prüfen, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat. Es wacht lediglich darüber, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit der Verfassung steht. Der Gesetzgeber, der bisher Initiativen zur Entkriminalisierung des Containerns nicht aufgegriffen hat, ist insofern frei, das zivilrechtliche Eigentum auch in Fällen der wirtschaftlichen Wertlosigkeit der Sache mit Mitteln des Strafrechts zu schützen.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr. 75/2020).

Weiterhin muss auch die gerichtliche Entscheidung verfassungsgemäß sein (Einzelaktsebene). Bei Vorliegen eines einfachen Gesetzesvorbehalts kommt es hier maßgeblich auf die Verhältnismäßigkeit der Entscheidung an. Das BVerfG führt zur Rechtfertigung vor allem den Schutz des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 GG an:

„Im vorliegenden Fall dient die Strafbarkeit des Verhaltens der Beschwerdeführerinnen dem Schutz des Eigentumsgrundrechts nach Art. 14 Abs. 1 GG als Rechtsgut von Verfassungsrang. Der Eigentümer der Lebensmittel wollte diese bewusst einer Vernichtung durch den Abfallentsorger zuführen, um etwaige Haftungsrisiken beim Verzehr der teils abgelaufenen und möglicherweise auch verdorbenen Ware auszuschließen. Bereits das Interesse des Eigentümers daran, etwaige rechtliche Streitigkeiten und Prozessrisiken auszuschließen und keinen erhöhten Sorgfaltspflichten im Hinblick auf die Sicherheit der Lebensmittel ausgesetzt zu sein, ist im Rahmen der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG grundsätzlich zu akzeptieren.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr. 75/2020).

Weiterhin biete das Straf- und Strafprozessrecht die Möglichkeit, der geringen Schuld des Täters im Einzelfall Rechnung zu tragen, was auch im vorliegenden Fall erfolgt sei. Insgesamt sei die Entscheidung daher nicht verfassungsgerichtlich zu beanstanden.
Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet.
III. Ausblick
Im Hinblick auf die Berücksichtigung der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG stellte das BVerfG lediglich fest, diese sei vorliegend ohne Bedeutung, sie betreffe lediglich die Fragen, ob der Gesetzgeber auch eine alternative Regelung hinsichtlich des Umgangs mit entsorgten Lebensmitteln treffen könnte. Gerade die fehlende Berücksichtigung dieser Bestimmung für die vorliegende Entscheidung ist auf Kritik in den Medien gestoßen. Hatte man sich von der Entscheidung des BVerfG einen Schritt hin zu mehr Nachhaltigkeit im Umgang mit Lebensmitteln erhofft, so wurde dies nicht erfüllt. Soll sich hier etwas ändern, ist nun der Gesetzgeber gefragt.

31.08.2020/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-08-31 08:51:532020-08-31 08:51:53BVerfG: Strafrechtliche Verurteilung wegen „Containerns“ verfassungsgemäß
Dr. Maike Flink

BVerfG: „Kuttenverbot“ für Rocker verfassungsgemäß

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Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 9.7.2020 (Az. 1 BvR 2067/17, 1 BvR 424/19, 1 BvR 4423/18) die Verfassungsbeschwerden mehrerer lokaler Teilgruppierungen sowie einzelner Mitglieder verschiedener Motorradclubs (MC Gremium, Hells Angels und Bandidos) gegen das aus § 9 Abs. 3 VereinsG folgende „Kuttenverbot“ und die damit verbundene Strafnorm in § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG abgewiesen (vgl. unseren Bericht zur Erhebung der Verfassungsbeschwerden: Vereinsrecht: Verschärfung des Kennzeichenverbotes).
 
I. Sachverhalt
Der Gesetzgeber hatte mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes (VereinsG) vom 10.3.2017 den § 9 Abs. 3 VereinsG ins das Vereinsgesetz eingefügt und die damit verbundene Strafnorm in § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG verändert. § 9 Abs. 1 VereinsG regelte schon bislang ein Verbot öffentlich, in einer Versammlung oder medial die Kennzeichen eines verbotenen Vereins zu verwenden. Der neu gefasste § 9 Abs. 3 VereinsG erstreckt dieses in § 9 Abs. 1 VereinsG enthaltene Verbot nunmehr auch auf Kennzeichen, die in „im Wesentlichen gleicher Form“ von nicht verbotenen Teilorganisationen oder von selbstständigen Vereinen verwendet werden. Die Norm lautet:

„Absatz 1 gilt entsprechend für Kennzeichen eines verbotenen Vereins, die in im Wesentlichen gleicher Form von anderen nicht verbotenen Teilorganisationen oder von selbständigen Vereinen verwendet werden. Ein Kennzeichen eines verbotenen Vereins wird insbesondere dann in im Wesentlichen gleicher Form verwendet, wenn bei ähnlichem äußerem Gesamterscheinungsbild das Kennzeichen des verbotenen Vereins oder Teile desselben mit einer anderen Orts- oder Regionalbezeichnung versehen wird.“

Zuwiderhandlungen gegen dieses Verbot stellt § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG unter Strafe: Möglich sind eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe.
Die Beschwerdeführer richteten sich gegen die geänderten Normen: Ihre Mitglieder tragen typische Symbole wie den „Death Head“ der Hells Angels oder den „Fat Mexican“ der Bandidos als einheitlich genutztes Vereinslogo auf ihren „Kutten“ und haben dieses Logo nicht selten auch auf dem Körper tätowiert. Allerdings seien die Teilorganisationen, denen sie angehören – was insbesondere einzelne Ortsverbände betrifft –, nicht verboten, sodass das Kennzeichenverbot sich für sie als nachträglich ausgesprochene „Sippenhaft“ darstelle. Durch die Neuregelung sei das Kennzeichenverbot eben nicht mehr – wie bislang – streng akzessorisch zum Vereinsverbot, sondern erstrecke sich auch auf von dem Verbot nicht Betroffene. Dadurch sehen sich die Beschwerdeführer unter anderem in ihrem Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), in ihrer Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG) und ihrer Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) verletzt.
 
II. Die Entscheidung des Gerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführer jedoch abgelehnt. Dabei hat das Gericht bewusst offen gelassen, ob die vereinsrechtlichen Kennzeichenverbote vorrangig an der Versammlungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG oder an der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG zu messen sind, da die Eingriffe in diese Grundrechte ohnehin gerechtfertigt seien. Dennoch ließ das Gericht eine Tendenz erkennen, vorrangig Art. 9 Abs. 1 GG heranzuziehen, wozu es ausführt:

„Es spricht viel dafür, die Kennzeichenverbote in erster Linie an Art. 9 GG zu messen (vgl. BVerfGE 28, 295 <310>; 149, 160 <192 Rn. 98; 200 f. Rn. 113 f.>). Das gilt jedenfalls für die Rechte von Vereinigungen selbst und von deren Mitgliedern. Daneben kann die Verwendung von Kennzeichen durch nicht organisierte Einzelpersonen – wie bei § 86a StGB – auch als Ausdruck einer Meinung an Art. 5 Abs. 1 GG zu messen sein (vgl. BVerfGE 93, 266 <289>), doch knüpft die Verbotsnorm weiter an das Verbot einer Vereinigung an, deren Symbole aus der Öffentlichkeit verbannt werden sollen (vgl. BTDrucks 14/7386 [neu], S. 49; BTDrucks 18/9758, S. 7).“

 
1.Verletzung von Art. 9 Abs. 1 GG
 Auf dieser Grundlage hat sich das Gericht zunächst mit einer möglichen Verletzung der Vereinigungsfreiheit auseinander gesetzt.
 
a) Eingriff in den Schutzbereich
Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Eine Vereinigung ist dabei ein freiwilliger Zusammenschluss mehrerer Personen, der auf eine gewisse Dauer angelegt ist und über eine gewisse organisatorische Festigkeit sowie eine gemeinsame Willensbildung verfügt und zu einem gemeinsamen Zweck erfolgt. Geschützt ist sowohl für die Mitglieder als auch für die Vereinigung selbst das Recht auf Entstehen und Bestehen in der gemeinsamen Form, aber auch die Mitgliederwerbung und die Selbstdarstellung sowie das Namensrecht. Die öffentliche Verwendung der Vereinskennzeichen stellt in diesem Zusammenhang einen Beitrag zur Erhaltung der Vereinigung dar, dient aber auch der Mitgliederwerbung und der Selbstdarstellung.

„Für die Identität der hier beteiligten Motorrad-Vereinigungen ist das öffentliche Verwenden der Kennzeichen auf ihren „Kutten“ sogar von grundlegender Bedeutung. Die für die jeweilige Dachorganisation stehenden „Top-Rocker“ und „Central Patches“ sind aus ihrer Sicht wie der Name der Vereinigung (vgl. BVerfGE 30, 227 <241 f.>) Ausdruck des Zusammenhalts und der gemeinsamen Identität; sie werden seit Jahrzehnten weitgehend unverändert genutzt, haben einen hohen Wiedererkennungseffekt und dienen auch der Anwerbung neuer sowie der Anbindung aktueller Mitglieder (dazu u.a. Bock, JZ 2016, S. 158 ff.).“

Durch die Neuregelung des § 9 Abs. 3 VereinsG sowie des § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG wird die Verwendung des Vereinskennzeichens verboten bzw. die Zuwiderhandlung gegen dieses Verbot unter Strafe gestellt, sodass sie als zwangsläufige Folge eines Vereinsverbots zu einer gezielten Verkürzung der Vereinigungsfreiheit führt. Sie stellt mithin einen Eingriff dar.
 
b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Dieser Eingriff ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts allerdings gerechtfertigt, da er insgesamt keine unverhältnismäßige Einschränkung der Vereinigungsfreiheit bedeutet:
Zunächst verfolgt der Gesetzgeber mit dem Kennzeichnungsverbot ein legitimes Ziel: Er möchte abstrakte Gefahren abwehren, die mit dem Kennzeichen verbunden sind und das Vereinsverbot tatsächlich durchsetzen. Daher ist auch nur die Verwendung solcher Kennzeichen verboten, die „in im Wesentlichen gleicher Form“ verwendet werden, bei denen also erkennbar ist, dass sich die Träger des Kennzeichens eindeutig mit der verbotenen Vereinigung identifizieren, die dieses Kennzeichen in ähnlicher Form ebenfalls verwendet. Entscheidend ist ein ähnliches äußeres Gesamterscheinungsbild. Davon ist – wie § 9 Abs. 3 S. 2 VereinsG klarstellt ­– beispielsweise auszugehen, wenn die nicht verbotene Vereinigung das Kennzeichen der verbotenen Vereinigung lediglich mit einer abweichenden Ortsbezeichnung weiter verwendet.
Darüber hinaus ist das Kennzeichenverbot zur Erreichung dieser Ziele auch geeignet, wie das Gericht ausführt:

„Wären die Kennzeichen der im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 GG verbotenen Vereinigung mit einer abweichenden Ortsbezeichnung weiter präsent, liefe der Versuch, organisierte Aktivitäten zu unterbinden, die der Rechtsordnung fundamental zuwiderlaufen, weitgehend leer. Der Gesetzgeber darf insoweit davon ausgehen, dass eine Schwestervereinigung, die sich wie der verbotene Verein nach außen präsentiert, gleichermaßen für die strafbaren Aktivitäten oder verfassungswidrigen Bestrebungen des verbotenen Vereins steht (BTDrucks 18/9758, S. 8). Die hier angegriffenen Regelungen fördern jedenfalls den Zweck, die Kennzeichen verbotener Vereine effektiv aus der Öffentlichkeit zu verbannen.“

Das Kennzeichenverbot ist auch erforderlich, um die verfolgten Ziele zu erreichen. Insofern steht dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, wobei nicht erkennbar ist, dass er diese mit seiner Einschätzung, dass weniger einschneidende, ebenso effektive Mittel nicht ersichtlich sind, überschritten hat. 
Das Kennzeichenverbot ist auch angemessen, die eintretenden Nachteile stehen nicht außer Verhältnis zu den erstrebten Vorteilen. Zwar stellt das Verbot für die Beschwerdeführer einen schweren Eingriff in ihre Vereinigungsfreiheit dar. Denn gerade das öffentliche Tragen der Vereinskennzeichen als Teil ihrer Selbstdarstellung ist für sie besonders wichtig, um ihre Zugehörigkeit zur Vereinigung zu verdeutlichen. Die besondere Bedeutung des Vereinskennzeichens zeigt sich bereits dadurch, dass die betroffenen Vereinigungen regelmäßig detailliert regeln, wer unter welchen Voraussetzungen ihre Kennzeichen in der Öffentlichkeit verwenden darf. Verschärft wird die Schwere des Verbots zudem dadurch, dass die Verwendung der Kennzeichen in der Öffentlichkeit, in einer Versammlung sowie ihre mediale Verbreitung nunmehr nach § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG strafbewehrt ist. Demgegenüber muss jedoch ebenfalls berücksichtigt werden, dass eben nicht jedwede Verwendung des Kennzeichens untersagt ist, sondern die private Verwendung weiterhin zulässig bleibt. Außerdem wird nur die Verwendung „in wesentlich gleicher Form“ verboten, sodass das Kennzeichenverbot nur dann eingreift, wenn das äußere Gesamterscheinungsbild dem Kennzeichen der verbotenen Vereinigung insgesamt erkennbar ähnelt. Zwar wirkt die Strafbewehrung des Verbots eingriffserhöhend, allerdings handelt es sich allein um ein Vergehen, das mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe belegt wird, wobei das Gericht nach § 20 Abs. 2 Nr. 1 VereinsG unter Umständen sogar ganz von einer Bestrafung absehen kann. Demgegenüber verfolgt der Gesetzgeber gewichtige Interessen:

„Insbesondere ist das Kennzeichenverbot untrennbar mit einem Vereinsverbot verknüpft, das als Instrument präventiven Verfassungsschutzes auf den Schutz von Rechtsgütern hervorgehobener Bedeutung zielt (vgl. BVerfGE 149, 160 <196 Rn. 104>). Nur in Art. 9 Abs. 2 GG ausdrücklich genannte Gründe – der eine Vereinigung prägende, also organisierte Verstoß gegen Strafgesetze (a.a.O., Rn. 106), die kämpferisch-aggressive Ausrichtung gegen die verfassungsmäßige Ordnung (a.a.O., Rn. 108) und die Ausrichtung auf Gewalt in den internationalen Beziehungen oder vergleichbare völkerrechtswidrige Handlungen und damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung (a.a.O., Rn. 112) – rechtfertigen ein Verbot. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Verwendung von Kennzeichen verboten werden, da dieses Verbot dem Vereinsverbot materiell folgt. Damit tragen die Rechtsgüter, zu deren Schutz eine Vereinigung nach Art. 9 Abs. 2 GG ausdrücklich verboten werden kann, auch das Verbot ihre Kennzeichen, öffentlich, in einer Versammlung oder medial verbreitet zu verwenden.“

Vor diesem Hintergrund ist der Eingriff in Art. 9 Abs. 1 GG gerechtfertigt.
 
2. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG
 Diese Erwägungen überträgt das Gericht auch auf die Prüfung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var 1 GG: Auch ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist gerechtfertigt: Die angegriffenen Normen sind allgemeine Gesetze i.S.v. Art. 5 Abs. 2 S. 1 GG, da sie die in Art. 9 Abs. 2 GG benannten Rechtsgüter schützen und nicht an den konkreten Inhalt des Kennzeichens, sondern allein an das formale Verbot der Vereinigung anknüpfen. Zudem kann dem Bedeutungsgehalt des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG bei der Auslegung und Anwendung von § 9 Abs. 3 VereinsG sowie § 20 Abs. 1 Nr. 5 VereinsG ohne Weiteres Rechnung getragen werden, sodass auch kein Verstoß gegen die Wechselwirkungslehre vorliegt.
 
3. Verletzung von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG
Letztlich lehnt das Gericht auch eine Verletzung der Eigentumsfreiheit des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ab. Zwar erkennt das Bundesverfassungsgericht an, dass die Kennzeichen, die auf den „Kutten“ der Vereinsmitglieder angebracht sind, ebenso wir die „Kutten“ selbst in den Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG fallen und sie damit durch das Verbot, diese in der Öffentlichkeit zu verwenden, in der Nutzung ihrer Eigentumsposition eingeschränkt werden. Diese Beeinträchtigungen seien jedoch gerechtfertigt, wie das Gericht knapp ausführt:

„Die angegriffenen Normen bewirken keine Enteignung (vgl. BVerfGE 20, 351 <359>), sondern eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Verwendungsverbote sind insofern Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums und aus den für die Einschränkungen der Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 GG geltenden Gründen verhältnismäßig.“

Damit scheidet auch eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG aus.
 
III. Ausblick
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt nicht nur Anlass, sich erneut mit der in Klausuren immer wieder beliebten Meinungsfreiheit sowie der Eigentumsfreiheit auseinanderzusetzen, sondern sollte auch als Anknüpfungspunkt genutzt werden, um sich vertieft mit dem in der Prüfungsvorbereitung häufig stiefmütterlich behandelten Art. 9 Abs. 1 GG zu beschäftigen. Denn wie die Entscheidung zeigt, kann das Grundrecht nicht allein im Hinblick auf ein vollständiges Vereinsverbot, sondern auch für damit zusammenhängende Maßnahmen erhebliche Bedeutung gewinnen. Die dargestellte Entscheidung hat der Thematik erneut Aktualität verliehen, wodurch auch in Prüfungen jederzeit erwartet werden muss, dass sie aufgegriffen wird.
 
 

24.08.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-08-24 08:40:122020-08-24 08:40:12BVerfG: „Kuttenverbot“ für Rocker verfassungsgemäß
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG: EZB-Anleihekäufe teilweise kompetenzwidrig

Europarecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.5.2020 (Az. 2 BvR 859/15 u.a.), das mehreren Verfassungsbeschwerden im Hinblick auf das Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise stattgab, hat große mediale Aufmerksamkeit erhalten. Neben spezifischen Fragen der Währungs- und Wirtschaftspolitik werden vor allem europarechtliche Fragestellungen zur Kompetenzverteilung innerhalb der Europäischen Union relevant, die jedem Examenskandidaten geläufig sein sollten. Dies führt – neben der politischen Tragweite der Entscheidung – zu einer besonders hohen Examensrelevanz. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die wesentlichen Verfahrensfragen und Entscheidungspunkte bieten.
Worum es geht
Im Jahre 2015 beschloss die EZB das Staatsanleihekaufprogramm „PSPP“. Ziel des Programms ist es, durch den Kauf von Staatsanleihen und ähnlichen Schuldtiteln die Geldmenge im Wirtschaftskreislauf auszuweiten, was Investitionen fördern und langfristig zu einer Erhöhung der Inflationsrate auf ca. 2 % führen soll. Die EZB sieht sich hierbei der fortlaufenden Kritik ausgesetzt, nicht nur die ihr übertragene Währungs-, sondern darüber hinaus kompetenzwidrig Wirtschaftspolitik zu betreiben. Der EuGH entschied indes nach Vorlage des BVerfG am 11.12.2018 (C-493/17), das PSPP halte sich im Rahmen der Kompetenzen der EZB. Das BVerfG hatte nun über mehrere Verfassungsbeschwerden zu entscheiden, die sich u.a. gegen das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages, darauf hinzuwirken, dass die Beschlüsse des EZB hinsichtlich des PSPP aufgehoben bzw. nicht durchgeführt werden, richteten. Die Beschwerdeführer machten weiterhin geltend, das Urteil des EuGH vom 11.12.2018 sei im Geltungsbereich des Grundgesetzes als Ultra-Vires-Akt nicht anwendbar.
Europarechtliche Grundlagen
Der Beschwerdegegenstand bedarf der Erläuterung: Während es den Beschwerdeführern maßgeblich darum gehen dürfte, die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse der EZB feststellen zu lassen, wenden sie sich gegen das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages. Dies ist darin begründet, dass Gegenstand der Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 1 BVerfGG nur Akte der öffentlichen Gewalt sein können, womit ausschließlich die deutsche Staatsgewalt gemeint ist (siehe BeckOK BVerfGG/Grünewald, § 90 Rn. 71). Dennoch ist die Überprüfung des Handelns von Unionsorganen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde möglich, und zwar soweit sie Grundlage von Handlungen deutscher Staatsorgane sind oder aus der Integrationsverantwortung folgende Handlungspflichten dieser auslösen (BVerfG v. 19.7.2016 – 2 BvR 2752/11, Rn. 17 und BVerfG v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13 u.a., Rn. 23). Die Beschwerdebefugnis des Einzelnen leitet das BVerfG in einem solchen Fall aus der möglichen Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG her:

„Das dem Einzelnen in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag erschöpft sich nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt. Der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf demokratische Selbstbestimmung gilt auch in Ansehung der europäischen Integration und schützt sie im Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 GG vor offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union sowie davor, dass solche Maßnahmen die Grenze der durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze des Art. 1 oder des Art. 20 GG überschreiten.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 98, Verweise im Zitat ausgelassen).

Die Kompetenzkontrolle durch das BVerfG ist also als Unterfall der Identitätskontrolle zu verstehen – der unantastbare Verfassungskern, der gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG auch den Maßstab für die Kontrolle des Unionshandelns bildet, ist berührt, wenn Unionsorgane ihre Kompetenzen überschreiten. Ein solcher Ultra-Vires-Akt ist nicht hinreichend durch die deutschen Wähler legitimiert, eine Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ist möglich.
Bei der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten ist stets das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 1 EUV zu beachten: Die EU-Organe dürfen sich stets nur im Rahmen der Kompetenzen bewegen, die ihnen ausdrücklich durch die Mitgliedsstaaten übertragen wurden. Wird die Kompetenzordnung missachtet, sieht das BVerfG den Bundestag und die Bundesregierung in der Pflicht:

„Überschreitet eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenzen des Integrationsprogramms in offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Weise, so haben sich Bundesregierung und Bundestag aktiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die Kompetenzordnung wiederhergestellt werden kann, und eine positive Entscheidung darüber herbeizuführen, welche Wege dafür beschritten werden sollen.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 109)

Prüft das BVerfG nun die Einhaltung dieser Verpflichtungen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, ist entscheidend, ob tatsächlich ein Ultra-Vires-Akt eines Unionsorgans vorliegt. Für die Ultra-Vires-Kontrolle gelten dabei folgende Grundsätze:

„Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzte Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und innerhalb des Kompetenzgefüges zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen führt.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 110)

Diese Kontrolle ist zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben (siehe BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 112). Hierzu sieht das BVerfG vor, die Entscheidung über die Kompetenzüberschreitung vorrangig dem EuGH zu überlassen und dessen Entscheidung zu respektieren, solange sie sich auf methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint. An dieser Stelle zeigt sich die Brisanz der vorliegenden Entscheidung: Zum ersten Mal setzt sich das BVerfG im Rahmen der Ultra-Vires-Kontrolle über eine Entscheidung des EuGH hinweg und beanstandet diese als methodisch fehlerhaft und willkürlich.
Entscheidung des BVerfG: Anleihekäufe überschreiten Kompetenz der EZB
Denn nach Ansicht des BVerfG handelt es sich bei den Beschlüssen zum PSPP offensichtlich um eine Kompetenzüberschreitung. Das Gericht beanstandet hier allerdings weniger die Tatsache, dass Anleihekäufe getätigt werden, sondern vielmehr die Begründung der EZB. Diese genügten nicht den Anforderungen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung: Die rechtmäßige Umsetzung eines solchem Programms setze voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen würden. Dass die weitreichenden ökonomischen und sozialen Folgen des PSPP mit dessen währungspolitischen Ziel, die Inflationsrate von ca. 2 % zu erreichen, abgewogen wurde, sei aber nicht ersichtlich. Die unbedingte Verfolgung dieses Ziels, ohne die wirtschaftlichen Auswirkungen zu berücksichtigen, missachte offensichtlich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und begründe so letztlich die Kompetenzwidrigkeit des Handelns.
Eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Programms hielt das BVerfG nicht für möglich, bis eine solche Abwägung durch die EZB stattgefunden habe.
Keine Bindung an Entscheidung des EuGH
Ausführlich begründet das BVerfG auch, warum es sich nicht an die Entscheidung des EuGH vom 11.12.2018 gebunden sieht, die die Einhaltung der Kompetenzordnung hinsichtlich des PSPP festgestellt hatte. Es erkennt zwar eine grundsätzliche Bindung an die Auslegung des EuGH an, nicht jedoch in Fällen wie dem vorliegenden, in dem das BVerfG die Entscheidung für schlechterdings nicht mehr vertretbar hält. Indem auch der EuGH bei seiner Beurteilung die tatsächlichen wirtschaftlichen Folgen außer Acht ließ, missachte er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sodass auch die Entscheidung des EuGH teilweise als Ultra-Virus-Akt anzusehen sei:

„Die Auffassung des Gerichtshofs in seinem Urteil vom 11. Dezember 2018, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP-Programm und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkennt Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) offensichtlich und ist wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Wirkungen des PSPP methodisch nicht mehr vertretbar. Das Urteil des Gerichtshofs vom 11. Dezember 2018 überschreitet daher offenkundig das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat und bewirkt eine strukturell bedeutsame Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten. Da es sich selbst als Ultravires-Akt darstellt, kommt ihm insoweit keine Bindungswirkung zu. (…) Der Ansatz des Gerichtshofs, auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen des PSPP außer Acht zu lassen und eine wertende Gesamtbetrachtung nicht vorzunehmen, verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats von ESZB und EZB. Damit kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die ihm in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht mehr erfüllen. Diese Auslegung lässt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV im Grunde leerlaufen.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 119, 123, Verweise im Zitat ausgelassen)

Einen offensichtlichen Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung aus Art. 123 Abs. 1 AEUV sowie die Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages durch das PSPP stellte jedoch auch das BVerfG nicht fest.
Folgen der Entscheidung
Bundesregierung und Bundestag seien dazu verpflichtet, dem als Ultra-Vires-Akt zu qualifizierenden PSPP entgegenzutreten und sich schützend vor den durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Anspruch auf Demokratie zu stellen (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 229 f.). Hierzu müssten sie auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinwirken. Nach Ablauf einer Übergangsfrist von drei Monaten sei es der Deutschen Bundesbank untersagt, an der Umsetzung des PSPP mitzuwirken, wenn die EZB die Verhältnismäßigkeit der fraglichen Beschlüsse bis dahin nicht hinreichend dargelegt habe (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 335).
Ausblick
Eine Entscheidung, der eine solche Aufmerksamkeit zu Teil wird, darf von Examenskandidaten keinesfalls ignoriert werden – sie dürfte alsbald Einzug in schriftliche und mündliche Prüfungen finden. Dies gilt umso mehr, als dass sich das BVerfG zum ersten Mal über eine Entscheidung des EuGH hinwegsetzt. Neben der vertieften Auseinandersetzung mit der Entscheidung sollten auch die Grundlagen der Identitätskontrolle im Rahmen der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG wiederholt werden.

11.05.2020/4 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-05-11 08:50:002020-05-11 08:50:00BVerfG: EZB-Anleihekäufe teilweise kompetenzwidrig
Dr. Sebastian Rombey

BVerfG verwirft § 217 StGB und entwickelt Grundrecht auf Suizid

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Der Donnerschlag, mit dem die heutige Entscheidung des BVerfG nicht nur in der rechtswissenschaftlichen Welt eingeschlagen ist, wird noch lange widerhallen: § 217 StGB ist verfassungswidrig. Damit kippt das BVerfG jene umstrittene Norm, die seit 2015 die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellt (s. zur Einführung von § 217 StGB unseren damaligen Grundlagenbeitrag hier). Denn nur auf diese Weise kann das in der heutigen Entscheidung vom 26.02.2020 (2 BvR 2347/15 u.a.) neu geschaffene Grundrecht auf Suizid verwirklicht werden – so jedenfalls die Karlsruher Richter. Mit diesen knappen Sätzen lässt sich die polarisierende Entscheidung des BVerfG zusammenfassen, die von manchen frenetisch gefeiert, von manchen kategorisch abgelehnt wird. Ein heißes Eisen für jeden Examenskandidaten! Im Einzelnen:
I. Entscheidungskontext und Hintergrund
Die zum 10. Dezember 2015 eingeführte Verbotsnorm des § 217 StGB stellte bislang geschäftsmäßige Sterbehilfe in Deutschland unter Strafe. Erfasst wurden hiervon nach der Intention des Gesetzgebers insbesondere Sterbehilfevereine (BT-Drucksache 17/11126), die zuvor – ebenso wie Privatpersonen – innerhalb einer rechtlichen Grauzone Suizidwilligen auf meist straffreie Weise letale Medikamente verschaffen konnten. Mangels teilnahmefähiger Haupttat – die Selbsttötung ist in § 212 StGB nicht unter Strafe gestellt; die Tötung eines Menschen meint dort begriffslogisch die Tötung „eines anderen“ Menschen – ist eine Beihilfe im Sinne des § 27 StGB straffrei. § 217 StGB sollte jedenfalls dem Handeln von Sterbehilfevereinen, wie sie aus der Schweiz bekannt sind (man denke etwa an Dignitas) einen Riegel vorschieben, erfasste aber – und darin lag das zentrale Problem – reflexiv auch Ärzte. Denn: Geschäftsmäßigkeit im Sinne des § 217 StGB erfordert eben keine Gewinnerzielungsabsicht; die alleinige Wiederholungsabsicht, die eben auch bei Ärzten anzunehmen sein kann, war entscheidend.
Daher keimten verfassungsrechtliche Bedenken, die alsbald nach Karlsruhe getragen wurden und in dem heutigen Urteil ihre Bestätigung gefunden haben. Im Jahre 2015 hatte der 2. Senat des BVerfG einen Eilantrag nach § 32 BVerfGG auf Außervollzugsetzung der Norm noch abgelehnt (Beschl. v. 21.12.2015 – 2 BvR 2347/15, NJW 2016, 558, s. unsere Besprechung hier). In der Hauptsache erhielten die Beschwerdeführer (Schwerkranke und von der Norm betroffene Menschen, aber auch Ärzte, in diesem Bereich beratende Rechtsanwälte und nicht zuletzt Sterbehilfevereine) nun Recht.
II. Wesentliche Erwägungen des 2. Senats (der PM Nr. 12/2020 entnommen)
Dem BVerfG oblag es nun, § 217 StGB am Maßstab des Grundgesetzes zu messen:
1. Grundrechte der betroffenen Sterbewilligen
a) Schutzbereich
Nach dem BVerfG umfasst der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben, das es jedem Einzelnen gewährleistet, sich das Leben zu nehmen und sich hierbei der Hilfe Dritter zu bedienen. Damit folgt das BVerfG ähnlichen Judikaten des EGMR (Urteil vom 19.07.2012 – 497/09, NJW 2013, 2953) und des BVerwG (Urteil vom 02.03.2017 – 3 C 19/15, NJW 2018, 1524):
„Welchen Sinn der Einzelne in seinem Leben sieht und ob und aus welchen Gründen er sich vorstellen kann, sein Leben selbst zu beenden, unterliegt höchstpersönlichen Vorstellungen und Überzeugungen. […] Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst deshalb nicht nur das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen. Es erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden.“
Doch damit nicht genug. Die Karlsruher Richter gehen noch viel weiter:
„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist.“
Eine extensivere Interpretation ist kaum vorstellbar. Jeder Suizidwunsch soll also von Verfassung wegen akzeptiert sein, unabhängig von einer unheilbaren Krankheit. Dem Staat könne es nicht zustehen, über die Motive der Selbsttötung zu befinden.
Den Einwand, dass derjenige, der sich selbst das Leben nehme, gerade auf seine Würde verzichte, verwarf das BVerfG, da es gerade „Ausdruck der Würde“ sei, menschenwürdig sterben zu dürfen. Das wird jedoch von namhaften Verfassungsrechtlern anders gesehen, da der Einzelne nicht frei von staatlichem Einfluss über das Recht auf Leben entschieden dürfe, zumal der Staat eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflicht diesbezüglich habe, die die Dispositionsbefugnis des Einzelnen einschränke (man denke nur an Fälle des Zwergenweitwurfs, in denen der Einzelne ebenfalls nicht über Art. 1 Abs. 1 GG verfügen darf).
b) Eingriff
Nach dem modernen Eingriffsbegriff greift § 217 StGB in grundrechtsverkürzender Weise in das Grundrecht auf Suizid der sterbewilligen Patienten ein, auch wenn sie nicht unmittelbare Adressaten der Strafnorm sind:
„Es [gemeint ist das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe] macht es dem Einzelnen faktisch weitgehend unmöglich, Suizidhilfe zu erhalten. Diese Einschränkung individueller Freiheit ist von der Zweckrichtung des Verbots bewusst umfasst und begründet einen Eingriff auch gegenüber suizidwilligen Personen.“
c) Rechtfertigung
Die Rechtfertigung richtet sich nach einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung:
aa) Legitimes Ziel
§ 217 StGB verfolgt das von der Verfassung selbst in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorgeschriebene Ziel des Autonomie- und Lebensschutzes, also ein legitimes Ziel. Dass hiermit zugleich Gefahren begegnet werden soll, die von Sterbehilfevereinen ausgehen, die assistierte und kommerzialisierte Suizidhilfe anbieten, ist ebenso legitim: Ihre alleinige Existenz kann psychischen wie sozialen Druck auf schwerkranke Menschen ausüben, Sterbehilfe auch in Anspruch zu nehmen. Die darin liegende Gefahrprognose des Gesetzgebers ist mangels anderweitiger wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht zu beanstanden:
„Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass geschäftsmäßige Suizidhilfe zu einer ‚gesellschaftlichen Normalisierung‘ der Suizidhilfe führen und sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne, die geeignet sei, autonomiegefährdende soziale Pressionen auszuüben, ist nachvollziehbar.“
bb) Geeignetheit und Erforderlichkeit
Eben diese legitimen Ziele fördert § 217 StGB auch, da das strafbewehrte Verbot ein Instrument ist, das gefahrträchtige Handlungen zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe unterbindet. An diesem Punkt musste das BVerfG keine längeren Ausführungen machen, da sich Sterbehilfevereine weitestgehend aus Deutschland zurückgezogen haben und Verurteilungen auf Grundlage von § 217 StGB nicht ersichtlich sind. Das Verbot wirkt also.
Mit der Erforderlichkeit wiederum setzt sich das BVerfG nicht auseinander (wenngleich man die Entscheidungsgründe wird abwarten müssen), da es die Unangemessenheit der Norm offenbar für offensichtlich hält.
cc) Angemessenheit
§ 217 führt nach dem BVerfG dazu, „dass das Recht auf Selbsttötung in weiten Teilen faktisch entleert ist. Die Regelung des § 217 StGB ist zwar auf eine bestimmte – die geschäftsmäßige – Form der Förderung der Selbsttötung beschränkt. Auch der damit einhergehende Verlust an Autonomie ist aber jedenfalls soweit und solange unverhältnismäßig, wie verbleibende Optionen nur eine theoretische, nicht aber die tatsächliche Aussicht auf Selbstbestimmung bieten.“
Damit spielt das BVerfG auf die verbleibende Möglichkeit Sterbewilliger an, Angehörige oder Freunde darum zu bitten, ihnen Sterbehilfe zu leisten. Die Möglichkeit, einen Arzt immerhin um die Verschreibung letal wirkender Medikamente zu bitten, sei rechtstatsächlich nahezu ausgeschlossen:
„Ärzte zeigen bislang eine geringe Bereitschaft, Suizidhilfe zu leisten, und können hierzu auch nicht verpflichtet werden; aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab.“
Und auch bestehende palliativmedizinische Angebote seien nicht ausreichend, um dem Grundrecht auf Suizid zur Entfaltung zu verhelfen. Denn: „Die Entscheidung für die Beendigung des eigenen Lebens umfasst zugleich die Entscheidung gegen bestehende Alternativen [wie die Palliativmedizin] und ist auch insoweit als Akt autonomer Selbstbestimmung zu akzeptieren.“
Damit seien Sterbewillige faktisch auf ausländische Sterbehilfeangebote angewiesen (bspw. die Niederlande oder die Schweiz), was die deutsche Verfassung wegen Art. 1 Abs. 3 GG nicht akzeptieren könne; sie müsse vielmehr eigene Möglichkeiten bereithalten. Mit dieser Argumentation freilich lassen sich viele Dinge, die im Ausland bereits möglich sind, verfassungsrechtlich begründen. Stichhaltig ist der Verweis auf das, was im Ausland erlaubt ist, freilich nicht.
Und auch der Schutz Dritter sei nicht in der Lage, die von § 217 StGB ausgehende Beschränkung der individuellen Selbstbestimmung zu rechtfertigen:
„Allerdings muss dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben. Anliegen des Schutzes Dritter wie die Vermeidung von Nachahmungseffekten rechtfertigen nicht, dass der Einzelne die faktische Entleerung des Rechts auf Selbsttötung hinnehmen muss.“
d) Ergebnis
Daraus folgt: § 217 StGB ist nach dem BVerfG wegen eines nicht gerechtfertigten Eingriffs in das Grundrecht auf Suizid betroffener Sterbewilliger verfassungswidrig.
2. Grundrechte der betroffenen Ärzte, Rechtsanwälte und Sterbehilfevereine
Der verfassungsrechtliche Schutz geschäftsmäßiger Sterbehilfe ergibt sich – so jedenfalls das BVerfG – „aus einer funktionalen Verschränkung der Grundrechte von Suizidhilfe leistenden Personen und Vereinigungen, insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 GG oder subsidiär Art. 2 Abs. 1 GG, mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Schließlich sei die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte auch bereit seien, eben diese auch zu leisten. Daher müssen diese Dritten ihre Sterbehilfe auch in straffreier Weise durchführen können. Anders ausgedrückt: Das Grundrecht auf Suizid korrespondiert mit einem weitreichenden grundrechtlichen Schutz des Handelns von Suizidassistenten. Zudem verletze das strafbewehrte Verbot aus § 217 StGB Suizidhelfer in ihrem aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG folgenden Recht auf Freiheit. Das umfasse nicht nur Ärzte und Sterbehilfevereine, sondern auch auf diesem Gebiet beratende Rechtsanwälte.
Auf Bestimmtheitsbedenken, die zuweilen an § 217 StGB geäußert wurden, ging das BVerfG nicht ein. Dabei wäre gerade das ein wichtiger Punkt gewesen, war doch nicht eindeutig, wie nach § 217 StGB eine (strafbare) geschäftsmäßige Sterbehilfe mit Wiederholungsabsicht von einer (straflosen) Sterbehilfe im Einzelfall exakt abgegrenzt werden sollte. Bei Vereinen und im Gegensatz dazu bei Privatpersonen erschien die Abgrenzung in der Regel ohne weiteres möglich; bei Ärzten hingegen war sie alles andere als eindeutig.
Eine verfassungskonforme Auslegung (die Ärzte bspw. von der Strafbarkeit hätte ausnehmen können) lehnte der 2. Senat indes schon deshalb ab, weil sie den oben dargelegten Zielen des Gesetzgebers zuwiderliefe, der mit der Geschäftsmäßigkeit eindeutig die Wiederholungs- und nicht die Gewinnerzielungsabsicht zum zentralen Merkmale erhoben hat.
III. Einordnung, Kritik und Schluss
§ 217 StGB ist verfassungswidrig und ab sofort nichtig. Das ist im Ergebnis sicherlich richtig; die Begründung aber führt viel zu weit. Das Urteil dürfte im Ergebnis dazu führen, dass mehr Menschen von ihrem „Grundrecht auf Suizid“ Gebrauch machen. Häufigerer „Grundrechtsgebrauch“ – das klingt toll. Doch wollen wir das wirklich? Wollen wir eine höhere Suizidrate? Das ist eine Frage, die Juristen anhand des Grundgesetzes nicht beantworten können. Die Beantwortung sollte allein dem Parlament obliegen, doch das BVerfG hat nun gesprochen. Das ist zu akzeptieren, auch wenn unklar bleibt, warum der Gesetzgeber nicht einfach nachbessern und anstelle der „geschäftsmäßigen“ die „gewerbsmäßige“ Sterbehilfe unter Strafe stellen darf. Dann wären Ärzte straffrei; Sterbehilfevereine könnten dagegen nicht legal agieren.
Immerhin, das ist zuzugeben, erlaubt das BVerfG dem Gesetzgeber, die Sterbehilfe in einem engen Rahmen zu reglementieren: Prozedurale Sicherungsmechanismen, Aufklärungs- und Wartepflichten oder auch Erlaubnisvorbehalte seien denkbar, die auch strafrechtlich abgesichert werden könnten. Nur: Das Grundrecht auf Suizid verbiete es, die Zulässigkeit der Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, da in jeder Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an die Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Sterbewillens gelten müssten. Die Hürde einer unheilbaren oder tödlichen Krankheit kann also nicht etabliert werden. Mit diesen weitreichenden Aussagen wird das Grundrecht auf Suizid noch auf viele andere einfachgesetzliche Normen ausstrahlen.
Wie der Gesetzgeber all das konkret umsetzen soll, bleibt offen. Große Rechtsunsicherheit ist damit schon jetzt für künftige Regelungen vorprogrammiert. Bis dahin aber gilt: Geschäftsmäßige Sterbehilfe geht nun in den Grenzen der §§ 211, 212, 216 StGB auch in Deutschland.
 

26.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Sebastian Rombey
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Sebastian Rombey https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Sebastian Rombey2020-02-26 12:54:482020-02-26 12:54:48BVerfG verwirft § 217 StGB und entwickelt Grundrecht auf Suizid
Dr. Maike Flink

BVerfG: Keine „rechte“ Versammlung vor links-geprägtem Kulturzentrum

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Versammlungsrecht

Das Bundesverfassungsgericht hat am 11.1.2020 (Az. 1 BvQ 2/20) einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung einer dem rechten politischen Spektrum zuzuordnenden Gruppierung abgelehnt. Diese hatte unter Berufung auf ihre Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 Abs. 1 GG begehrt, eine Demonstration – entgegen der Entscheidung der zuständigen Behörde – an dem von ihr gewünschten Versammlungsort durchführen zu dürfen. Die Entscheidung des Gerichts ist dabei gleich unter mehreren Gesichtspunkten von hoher Examensrelevanz: Wegen ihrer enormen Aktualität bietet sie sich hervorragend als Anknüpfungspunkt verfassungsrechtlicher Fragen in einer mündlichen Prüfung an, zudem gibt sie Gelegenheit sich noch einmal umfassend mit den Voraussetzungen der – in der Examensvorbereitung häufig zu Unrecht vernachlässigten – einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG und der in Prüfungen beliebten Versammlungsfreiheit auseinanderzusetzen.
 
I. Sachverhalt
Der – dem rechten politischen Spektrum zuzuordnende – Antragsteller wollte im Zeitraum vom 11.1.2020 (15 Uhr) bis zum 12.1.2020 (7 Uhr) eine Versammlung in einer Entfernung von 20 Metern zur „Roten Flora“ in Hamburg durchführen. Die „Rote Flora“ gilt als Zentrum der Autonomen-Szene, der unter anderem Mitglieder linksradikaler Bewegungen angehören. Das Motto der Veranstaltung sollte „Rote Flora – ein Ort undemokratischer Denkweise und Verfassungsfeindlichkeit“ lauten. Die Versammlungsbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg erteilte dem Antragsteller die – für sofort vollziehbar erklärte – Auflage, die Veranstaltungen an einem anderen, etwa einen Kilometer von der „Roten Flora“ entfernten Ort stattfinden zu lassen. Dies begründete die Behörde damit, dass andernfalls mit gewalttätigen Ausschreitungen gerechnet werden müsse. Denn der Antragsteller – und damit der Veranstalter der Versammlung – sei eher dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen, sodass eine Versammlung vor der „Roten Flora“, die gerade Zentrum des linksextremistischen Spektrums sei, als besondere Provokation verstanden werden könnte. Gestützt auf die in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen sei mit einer Mobilisierung der linksextremen Szene und mit einer von ihr ausgehenden massiven Gewalttätigkeit zu rechnen. Insbesondere sei davon auszugehen, dass mit gefährlichen Gegenständen von den Dächern der „Roten Flora“ und umliegenden Gebäuden geworfen werden könnte. Die Behörde sehe sich – unabhängig von der Zahl der eingesetzten Polizisten – nicht in der Lage, diese Gefahr zu verhindern. Der Antragsteller erhob daraufhin Widerspruch und beantragte – erfolglos – verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz.
 
II. Die Entscheidung des Gerichts
Das Bundesverfassungsgericht trifft eine vorläufige Regelung eines Zustandes im Wege der einstweiligen Anordnung „wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist“ (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Maßgebliches Kriterium sind insofern die Erfolgsaussichten des Rechtsstreits in der Hauptsache, d.h. einer durch den Antragsteller erhobenen Verfassungsbeschwerde (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814). Daher beschränkt sich die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG regelmäßig darauf, ob eine solche Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814). Ist der Ausgang einer möglichen Verfassungsbeschwerde jedoch vollkommen offen, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde jedoch später keinen Erfolg hätte.
 
1. Die Anforderungen des Art. 8 GG
Dem Antragsteller entstehen indes für den Fall, dass die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, nur dann Nachteile, wenn eine spätere Verfassungsbeschwerde überhaupt denkbar wäre, er sich also auf eine möglicherweise verletzte Grundrechtsposition stützen kann. In Betracht kommt insofern eine mögliche Verletzung der aus Art. 8 Abs. 1 GG folgenden Versammlungsfreiheit. Gemäß Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln, wobei dieses Recht gem. Art. 8 Abs. 2 GG für Versammlungen unter freiem Himmel durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden kann.
In diesem Zusammenhang steht es dem Veranstalter auch frei, die Modalitäten der Versammlung frei zu wählen, d.h. sowohl die Versammlungszeit als auch den Versammlungsort selbst zu bestimmen.

„Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll. Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet das Grundrecht den Grundrechtsträgern so nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung (vgl. BVerfGE 69, 315 <343>). Die Bürger sollen damit selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen – gegebenenfalls auch in Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen – am wirksamsten zur Geltung bringen können.“ (BVerfG v. 22.2.2011– 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201, 1204 Rn. 64)

Jedoch ist kein Zutrittsrecht zu nicht allgemein oder nur zu bestimmten Zwecken zugänglichen Orten vom Gewährleistungsinhalt des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst. Denn Art. 8 Abs. 1 GG verbürgt die Durchführung von Versammlungen an Orten, die einem allgemeinen öffentlichen Verkehr geöffnet sind und Orte öffentlicher Kommunikation bilden. Klassischerweise fällt hierunter insbesondere der öffentliche Straßenraum. Für die Frage, ob ein anderer Ort als der öffentliche Straßenraum ein öffentlicher Kommunikationsraum ist, ist das Leitbild des öffentlichen Forums maßgeblich. Dieses ist dadurch charakterisiert, dass dort, im Gegensatz zu Orten, die nur eine bestimmte Funktion haben, eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht. Ein solchermaßen für die Allgemeinheit geöffneter Ort kann nicht gegen politische Auseinandersetzung in Form einer Versammlung abgeschirmt werden. Denn die kollektive Meinungskundgabe und die Möglichkeit, in öffentlichen Foren Aufmerksamkeit zu erregen, sind konstitutive Elemente der Demokratie.
Im vorliegenden Fall sollte die Versammlung auf der Straße in unmittelbarer Nähe zur „Roten Flora“ durchgeführt werden. Die Wahl dieses Veranstaltungsortes – nämlich der öffentliche Straßenraum – ist ohne Zweifel von der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst. Eine spätere, darauf gestützte Verfassungsbeschwerde ist mithin denkbar. Dem Antragsteller können somit bei Ablehnung der einstweiligen Anordnung Nachteile entstehen.
 
2. Die Folgenabwägung des Gerichts im Einzelnen
Daher kommt es entscheidend darauf an, welche Folgen eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, und welche Nachteilen demgegenüber entstünden, wenn die bergehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde jedoch später keinen Erfolg hätte. Seitens des Antragstellers ist – wie dargestellt – eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG denkbar. So formuliert auch das BVerfG:

„Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung eines Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass die versammlungsbeschränkende Auflage mit der Verfassung nicht vereinbar ist, so wäre der Antragsteller in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, das grundsätzlich auch die Bestimmung des Versammlungsorts umfasst. Der von dem Antragsteller ins Auge gefasste Versammlungsort in unmittelbarer Nähe der „Roten Flora“ ist für die geplante Versammlung und ihr gerade auf die „Rote Flora“ bezogenes kommunikatives Anliegen von erheblicher Bedeutung. Der Antragsteller hätte aber die Möglichkeit gehabt, die Versammlung – wenngleich an einem etwa einen Kilometer entfernten anderen Ort – unter dem vorgesehenen Motto und in der vorgesehenen Form überhaupt durchzuführen.“

Insofern muss in die Waagschale geworfen werden, dass der Antragsteller zwar in seinem Recht zur freien Wahl des Versammlungsortes verletzt ist, ihm aber – wenngleich unter der Auflage einer abweichenden Ortswahl – die Durchführung der Versammlung dennoch möglich gewesen wäre. Demgegenüber steht eine drohende Beeinträchtigung höchstwertiger Rechtsgüter wie Leib und Leben auch unbeteiligter Dritter, wie beispielsweise von Passanten, die das Gebiet um die „Rote Flora“ lediglich zufälligerweise betreten. So führt auch das Gericht aus:

„Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass die Versammlung am ursprünglich vorgesehenen Ort […] wegen der von der Versammlungsbehörde befürchteten, nicht anders abwendbaren gewalttätigen Ausschreitungen nach § 15 Abs. 1 VersG hätte untersagt werden dürfen, so wäre es zu einer Gefährdung und gegebenenfalls auch Schädigung auch höchstwertiger Rechtsgüter einer ganz erheblichen Zahl von Personen gekommen, obwohl der Auslöser hierfür – die Versammlung an dem ursprünglich vorgesehenen […] Ort – wegen Vorliegens der Voraussetzungen eines polizeilichen Notstands rechtmäßigerweise hätte verhindert werden können.“

Angesichts der erheblichen Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben auch Unbeteiligter muss das Interesse des Veranstalters an der freien Wahl des Versammlungsortes zurücktreten. Die ihm entstehenden Nachteile wiegen nicht so schwer, dass dies die zu befürchtenden Folgen auch für gänzlich unbeteiligte Dritte aufwiegen könnte.
 
III. Ausblick
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt nicht nur Anlass, sich mit den Voraussetzungen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG auseinander zu setzen, sondern greift zugleich bekannte Probleme der Versammlungsfreiheit auf. Insbesondere eine saubere Herausarbeitung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit sollte jedem Examenskandidaten gelingen. Dabei gilt es nicht nur, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Leitbild des öffentlichen Forums zu verinnerlichen. Jedenfalls in der mündlichen Prüfung erscheint auch eine Anknüpfung an die Problematik gewaltbereiter Gegendemonstrationen denkbar: Was wäre, wenn der Veranstalter seine Versammlung hätte durchführen dürfen, diese auch friedlich verlaufen wäre, die Polizei sie aber dennoch wegen der gewalttätigen Gegendemonstration linksextremistischer Gruppierungen aufgelöst hätte? Zudem bietet die Entscheidung die Möglichkeit, verwaltungsrechtliche Problemstellungen mit den Prüflingen zu erörtern, denn sie weist einerseits mit Blick auf die vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen einen Bezug zum vorläufigen Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren und insbesondere den Voraussetzungen des § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO auf. Andererseits ist auch der Sprung in das Versammlungsrecht nicht weit.

17.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-02-17 10:00:462020-02-17 10:00:46BVerfG: Keine „rechte“ Versammlung vor links-geprägtem Kulturzentrum
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG zur Versammlungsfreiheit: Strafrechtliche Verurteilung eines nur „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungsgemäß

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verfassungsrecht, Versammlungsrecht

In einem nun veröffentlichten Nichtannahmebeschluss vom 9.7.2019 (Az. 1 BvR 1257/19) hatte das Bundesverfassungsgericht sich mit der Frage zu befassen, ob eine strafrechtliche Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG (Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung) gegen die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers sowie gegen das strafrechtliche Analogieverbot und das Schuldprinzip verstößt.
Sowohl in Klausuren im Grundstudium als auch im Examen ist die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG ein sehr beliebtes Prüfungsthema. Zusätzlich wandte sich der Beschwerdeführer vorliegend gegen ein Urteil, sodass eine Urteilsverfassungsbeschwerde zu prüfen ist, deren Prüfung vielen Studierenden Probleme bereitet. Die Entscheidung gibt Anlass, die Wesenszüge beider Themengebiete zu wiederholen. 
I. Sachverhalt (verkürzt und abgewandelt)
Der Beschwerdeführer A organisierte im Februar 2017 eine Demonstrationsveranstaltung auf einer Autobahnbrücke, an der neben ihm vier weitere Personen teilnahmen. Die Veranstaltung erfolgte als Ausdruck einer „Anti-Atom-Bewegung“. Zwei Teilnehmer seilten sich von der Brücke ab und spannten ein beschriftetes Banner zwischen sich auf. Die gesamte Veranstaltung wurde vom Beschwerdeführer durch Anweisungen koordiniert und auch beendet. Eine Anmeldung nach § 14 VersG erfolgte nicht. Die Teilnehmer waren mit dem Auto angereist und hatten Banner und Schilder vorbereitet. Zuvor hatten sie auch die Presse über die Veranstaltung informiert. A wurde vom Amtsgericht als faktischer Leiter der Versammlung wegen Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung nach § 26 Abs. 2 VersG verurteilt. Hierdurch fühlt er sich in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
II. Lösung
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A durch die gerichtliche Entscheidung in spezifisch verfassungsrechtlicher Weise in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. (Hier sollte der Bearbeiter kurz ausführen, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist und Verletzungen des einfachen Rechts somit außer Betracht bleiben).
1. In Betracht kommt eine Verletzung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
(Anm: Das BVerfG prüfte in seinem Beschluss zunächst die Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG sowie des Gebots „Keine Strafe ohne Schuld“ aus Art. 2 Abs. 1 GG. Um jedoch den Aufbau der Urteilsverfassungsbeschwerde besser darstellen zu können, erfolgt hier zunächst die Prüfung der Versammlungsfreiheit, deren Aufbau Studenten geläufiger sein dürfte).  
a. In den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fällt die Zusammenkunft mehrerer Personen (nach hM mindestens zwei) zu einem gemeinsamen Zweck, wobei die Anforderungen an den Zweck umstritten sind (siehe dazu hier unseren Beitrag zu Art. 8 GG). Die Teilhabe an der Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten, wie vorliegend die Demonstration gegen den Einsatz atomarer Energie, genügt den Anforderungen jedenfalls. Die Versammlung muss friedlich und ohne Waffen verlaufen, was hier der Fall ist. Die Veranstaltung auf der Brücke fällt somit unter Art. 8 Abs. 1 GG. Es handelt sich um ein Deutschengrundrecht, von der deutschen Staatsangehörigkeit des A gem. Art. 116 Abs. 1 GG ist auszugehen.
b. Indem das Gericht strafrechtliche Sanktionen an die Ausübung der nach Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Tätigkeit anknüpft, hat es auch in den Schutzbereich eingegriffen.
c. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
Für Versammlungen unter freiem Himmel (d.h. solche, die nicht durch eine seitliche Abgrenzung vor unkontrolliertem Zugang von jedermann geschützt sind) sieht Art. 8 Abs. 2 GG einen einfachen Gesetzesvorbehalt vor. Die Versammlung auf der Brücke war jedermann zugänglich und fand so unter freiem Himmel statt. In diesem Fall ist Art. 8 Abs. 1 GG durch oder auf Grund eines Gesetzes beschränkbar.
(Anm: An dieser Stelle folgt die Prüfung der „Schranken-Schranken“, deren Aufbau vielen Bearbeitern bei der Urteilsverfassungsbeschwerde Schwierigkeiten bereitet. Wichtig ist es zunächst zu prüfen, ob die Norm, aufgrund derer die Einschränkung vorgenommen wird, unabhängig von den Umständen des Falles den Anforderungen des GG standhält. Erst danach folgt die Prüfung des Einzelakts, d.h. hier des Urteils. Wo der Schwerpunkt liegt, richtet sich nach den Umständen des Falles. Der Schwerpunkt bei dieser Falllösung liegt eher auf der Ebene des Einzelaktes, nicht bei der Normprüfung.)
Die Verurteilung erfolgt auf Grundlage des § 26 Abs. 2 VersG i.V.m. § 14 VersG. An deren Wirksamkeit können insoweit Zweifel angestellt werden, als dass Art. 8 Abs. 1 GG das Recht verbürgt, sich ohne Anmeldung zu versammeln. Hier sollte der Bearbeiter ausführen, dass die Anmeldepflicht aus § 14 VersG den legitimen Zweck verfolgt, die Sicherheit der Versammlungsteilnehmer zu garantieren und die Belastung Dritter etwa durch Verkehrsregelungen zu mindern. Sie kann im Einzelfall (etwa bei Eil- oder Spontanversammlungen) verfassungskonform ausgelegt werden. Nach Ansicht des BVerfG ist § 14 VersG ebenso verfassungsgemäß wie § 26 VersG. Insbesondere ist die Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG auf den Veranstalter und den Leiter der nicht angemeldeten Versammlung beschränkt, die bloße Teilnahme ist nicht mit Strafe bedroht.
(Anm: Im Rahmen einer Urteilsbeschwerde kann es erforderlich sein, auf der Normebene bereits die Vereinbarkeit mit anderen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten zu prüfen, da es um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes insgesamt geht. Im vorliegenden Fall betreffen die Fragen der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG und dem Schuldprinzip allerdings die Auslegung im Einzelfall, nicht die Norm selbst, sodass die Prüfung getrennt erfolgt.)
Das Urteil des Amtsgerichts (Einzelaktsprüfung!) müsste im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG verfassungskonform sein.
Ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 GG könnte vorliegen, wenn im Fall keine Anmeldepflicht bestand, weil es sich um eine Spontanversammlung handelte. Für solche Versammlungen, die ungeplant und ohne Veranstalter stattfinden, ist in verfassungskonformer Auslegung eine Ausnahme von der Anmeldepflicht zu machen. Indes war die Versammlung auf der Brücke angesichts der vorangegangenen Planung (Anreise, Organisation von Kletterausrüstung, Information der Presse) ersichtlich nicht spontan, sodass die Ausnahme nicht greift.
Art. 8 Abs. 1 GG könnte verletzt sein, weil § 26 Abs. 2 VersG eine Strafbarkeit nur des „Leiters“ der Versammlung vorsieht. Hierbei könnte es sich ausschließlich um den in der Anmeldung gem. § 14 Abs. 2 VersG bezeichneten Leiter handeln. Die vorliegende Versammlung war nicht angemeldet, sodass A auch nicht der angegebene Leiter sein konnte.
Nach Auffassung der Rechtsprechung soll Leiter jedoch der sein, „der persönlich bei der Veranstaltung anwesend sei, die Ordnung der Versammlung handhabe und den äußeren Gang der Veranstaltung bestimme, insbesondere die Versammlung eröffne, unterbreche und schließe“ (vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1978, 118).
Das BVerfG führt aus:

„Im Gegenteil legt es der Wortlaut des § 26 Nr. 2 VersammlG nahe, als Leiter im Sinne der Bestimmung auch denjenigen anzusehen, der die Rolle des Versammlungsleiters tatsächlich ausfüllt. Denn die Norm begründet ausdrücklich eine Strafbarkeit nicht nur des Veranstalters, sondern auch des Leiters von Versammlungen oder Aufzügen, die ohne die erforderliche Anmeldung durchgeführt werden.“

„Denn eine solche Auslegung ist geeignet, einer Umgehung des Erfordernisses einer Anmeldung unter Benennung eines Versammlungsleiters entgegenzuwirken, die ansonsten nur gegenüber dem Veranstalter – der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht ohne weiteres festgestellt werden kann – sanktioniert werden könnte. Sie verwirklicht somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken (…).“

A kontrollierte die Versammlung durch seine Anweisungen und beendete sie auch. Er nahm die Position eines faktischen Leiters ein. Eine Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nachdem nur der strafrechtlich sanktioniert werden könnte, der in einer Anmeldung nach § 14 Abs. 2 VersG als Leiter angegeben wurde, ließe die Norm faktisch ins Leere laufen, da es bei einer unangemeldeten Versammlung nie einen Leiter geben könnte. Mithin ist die Auslegung des Gerichts, nach der auch der faktische Leiter von § 26 Abs. 2 VersG erfasst ist, mit Art. 8 Abs. 1 GG vereinbar, insbesondere verhältnismäßig.
(Anm: Die Verhältnismäßigkeit ist vom Bearbeiter selbstverständlich im bekannten Schema Legitimer Zweck – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit zu prüfen).
A ist durch das Urteil nicht in seiner Versammlungsfreiheit verletzt.
2. Die Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nach der auch der faktische Leiter erfasst sein soll, könnte gegen das strafrechtliche Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.

BVerfG: „Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein striktes Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie.“

Nach Ansicht des BVerfG schließe der Begriff es zwar aus, die bloße Teilnahme zu bestrafen, der Begriff des Leiters unterliege aber einem Auslegungsspielraum (siehe dazu bereits die Argumentation oben). Aus § 14 Abs. 2 VersG könne nicht entnommen werden, dass nur der in der Anmeldung genannte Leiter von der Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG erfasst sein soll, da vorgenannte Norm nur die Anforderungen einer ordnungsgemäßen Anmeldung regle. Die Wortlautgrenze ist nicht überschritten, das Analogieverbot ist nicht verletzt.
3. Die Auslegung könnte gegen das Schuldprinzip verstoßen, weil dem faktischen Leiter die unterbliebene Anmeldung (die dem Veranstalter, nicht dem Leiter obliegt) nicht zur Last gelegt werden kann. Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ ist als Verfassungsprinzip anerkannt. Er besagt, dass Handeln nur bestraft werden kann, wenn es vorwerfbar ist. Der Grundsatz hat keinen Niederschlag im Wortlaut des Grundgesetzes gefunden, wird vom BVerfG aber aus einem Zusammenspiel von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet (siehe Adam/Schmidt/Schumacher, NStZ 2017, 7 ff.; BVerfG, NvwZ 2003, 1504 m.w.N.). Indes sanktioniert § 26 Abs. 2 VersG nicht die unterbliebene Anmeldung, sondern die Durchführung der nicht angemeldeten Versammlung. Wer in leitender Funktion tätig wird, führt aber die Versammlung gleichwohl durch. Dazu das BVerfG:

„Insoweit steht es jedoch jedem Teilnehmer einer Versammlung frei, an dieser nicht in leitender Funktion mitzuwirken und sie so nicht selbst durchzuführen. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip ist insoweit nicht ersichtlich.“

A ist nicht in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
 
III. Ausblick
Fragen zum Versammlungsrecht sind häufiger Prüfungsgegenstand öffentlich-rechtlicher Klausuren. Sie können in Gestalt einer Grundrechtsklausur oder verbunden mit Fragen des Polizeirechts auftauchen. Die Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde anhand einer Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG dürfte eher ungewöhnlich sein, bietet sich aber gerade deswegen besonders für zukünftige Klausuren an. Es gilt, sich nicht von der unbekannten Norm verunsichern zu lassen, und anhand der bekannten Schemata eine vertretbare Lösung zu erarbeiten. Insbesondere bei der verschachtelten Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde sollte dabei darauf geachtet werden, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und des Urteils getrennt zu prüfen.

28.08.2019/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2019-08-28 08:45:212019-08-28 08:45:21BVerfG zur Versammlungsfreiheit: Strafrechtliche Verurteilung eines nur „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungsgemäß
Dr. Sebastian Rombey

BVerfG zur Form einer Verfassungsbeschwerde nach § 23 I 1 BVerfGG

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Das BVerfG hat sich mit Beschluss vom 19.11.2018 (1 BvR 2391/18, NVwZ 2019, 162) mit der Frage beschäftigt, ob eine per De-Mail eingereichte Verfassungsbeschwerde zulässig ist bzw. genauer gesagt, ob sie die Formerfordernisse des § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG an einen ordnungsgemäßen Antrag erfüllt. Da diese Problematik leicht in Klausuren eingebaut werden kann, lohnt sich ein Blick auf die wesentlichen Erwägungen – zumal die 4. Kammer des Ersten Senats nahezu mustergültig die juristischen Auslegungsmethoden zur Klärung der Streitfrage heranzieht. Daher bietet es sich an, sich die Anforderungen an die Form eines Antrags nach § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG am Beispiel der De-Mail genauer vor Augen zu führen.
Zum Hintergrund: „De-Mail-Dienste sind Dienste auf einer elektronischen Kommunikationsplattform, die einen sicheren, vertraulichen und nachweisbaren Geschäftsverkehr für jedermann im Internet sicherstellen sollen“, so die Legaldefinition des § 1 Abs. 1 De-Mail-G. Damit handelt es sich bei De-Mails um nichts weiter als gewöhnliche E-Mails, nur dass erstere sicherer, vertraulicher und besser nachweisbar sein sollen als letztere. Sichergestellt werden soll dies dadurch, dass eine De-Mail „eine sichere Anmeldung, die Nutzung eines Postfach- und Versanddienstes für sichere elektronische Post sowie die Nutzung eines Verzeichnisdienstes“ ermöglichen muss, zusätzlich „Identitätsbestätigungs- und Dokumentenablagedienste ermöglichen“ kann (§ 1 Abs. 2 S. 1 De-Mail-G) und ferner nur durch einen „akkreditierten Diensteanbieter“ angeboten werden darf (§ 1 Abs. 2 S. 2 De-Mail-G). Doch begründet das einen Unterschied zu dem bereits von der Rechtsprechung als unzulässig bewerteten Fall des Einreichens einer Verfassungsbeschwerde per E-Mail?
Den Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage bildet das Schriftformerfordernis des § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG, wonach verfahrenseinleitende Anträge – und damit nicht nur Verfassungsbeschwerden – „schriftlich beim Bundesverfassungsgericht einzureichen“ sind. Doch was heißt eigentlich schriftlich? Mangels nachfolgender Definition im BVerfGG bedarf der nicht ganz eindeutige Begriff, der vom Wortlaut her jedenfalls nach dem allgemeinen Sprachgebrauch lediglich einen „in geschriebener Form“ erhobenen Antrag meint (Duden, Stichwort „schriftlich“), der Auslegung. In Betracht kommt eine weite, quasi BVerfGG-autonome Auslegung, die den Grundsatz berücksichtigt, dass Grundrechtsschutz nicht von einer – durch den einfachen Gesetzgeber eingefügten – Förmelei abhängen darf, oder aber ein an anderen Gesetzen orientierter Schriftlichkeitsbegriff im Sinne der Einheit der Rechtsordnung. Für die zuletzt angedeutete Sichtweise kann ein systematischer Seitenblick auf die § 130a ZPO, § 55a VwGO, § 46c ArbGG, § 65a SGG, § 52a FGO geworfen werden, die allesamt eine De-Mail als sicheren Übermittlungsweg anerkennen, oder auch auf § 126 Abs. 3 i.V.m. § 126a BGB, wonach die schriftliche durch die elektronische Form ersetzt werden kann, soweit eine qualifizierte elektronische Signatur vorhanden ist. Das BVerfG jedoch liest aus den aufgezählten Normen heraus, dass der Gesetzgeber in bestimmten Bereichen De-Mail und Schriftlichkeit gleichgesetzt hat, während er das BVerfGG trotz Einführung des elektronischen Behördenpostfachs (§ 1 ERVV) bewusst unangetastet gelassen habe, woraus im Umkehrschluss folge, dass eine De-Mail dort gerade nicht zulässig sein solle (Rn. 4). Der Gesetzgeber müsse die Regelungen erst für das BVerfGG öffnen. Damit folgt das BVerfGG dem bislang herrschenden Schrifttum (s. nur BeckOK-BVerfGG/Scheffczyk, 7. Ed. 2019, § 23 Rn. 5 f.). Mithin wird man von einem BVerfGG-eigenen Schriftlichkeitsbegriff ausgehen können, der sich von anderen Gesetzen abgrenzt und die De-Mail nicht umfasst. Aber was heißt dann „schriftlich“ im Sinne des BVerfGG?
Schriftlichkeit meint, dass zwar keine eigenhändig unterschriebene Urkunde im Original vorliegen muss, aber doch, dass ein körperliches Schriftstück beim BVerfG eingeht (Rn. 2). Ein Fax genügt diesem weiten Schriftlichkeitsverständnis ausnahmsweise deshalb, weil es – so jedenfalls das BVerfG – anders als eine De-Mail zum sofortigen Ausdruck bestimmt ist. Das muss vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck der Regelung ausreichen, die sicherstellen will, dass die Identität des Antragsstellers verlässlich erkennbar ist (BeckOK-BVerfGG/Scheffczyk, 7. Ed. 2019, § 23 Rn. 5).
Ein anderes könnte sich indes daraus ergeben, dass das BVerfG auf seiner Internetpräsenz bewusst eine eigene E-Mail-Adresse angibt. Das jedoch kann insoweit nicht ausreichen, als dort deutlich gemacht wird, dass die betreffende E-Mail-Adresse allein für Verwaltungsangelegenheiten vorgesehen ist, nicht aber für das Einreichen verfahrenseinleitender Anträge (Rn. 4) – zumal ein Antragssteller, der eine Verfassungsbeschwerde über das E-Mail-Postfach erhebt, per automatisch generierter Antwort-E-Mail gerade darauf hingewiesen wird, dass das E-Mail-Postfach nur für Verwaltungsangelegenheiten offensteht (BeckOK-BVerfGG/Scheffczyk, 7. Ed. 2019, § 23 Rn. 6). Irrtümer seitens des Antragsstellers werden damit ausgeschlossen.
Man merke sich also: Eine per De-Mail erhobene Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Damit wird den typischen Fallgruppen im Rahmen des § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfG (der zulässigen Erhebung per Telegramm, Fax oder Computerfax und der unzulässigen Erhebung per E-Mail oder Telefon) eine weitere hinzugefügt: die (unzulässige) De-Mail. Da sich ein solches Formproblem leicht in eine jede Verfassungsrechtsklausur einbauen lässt, dürfte die Entscheidung von nicht allzu geringer Bedeutung sein – sowohl für die Ausbildung, als auch für die Praxis.
Wer sich vertiefend mit den Anforderungen an einen ordnungsgemäßen Antrag nach den §§ 23 Abs. 1, 92 BVerfGG auseinandersetzen will, sei auf den Aufsatz von Gas, JA 2007, 375 verwiesen.
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05.08.2019/1 Kommentar/von Dr. Sebastian Rombey
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Sebastian Rombey https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Sebastian Rombey2019-08-05 09:05:532019-08-05 09:05:53BVerfG zur Form einer Verfassungsbeschwerde nach § 23 I 1 BVerfGG
Redaktion

Schema: Individualverfassungsbeschwerde

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Schema: Individualverfassungsbeschwerde

A. Zulässigkeit
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde ergeben sich aus Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90, 92ff. BVerfGG.

I. Zuständigkeit des BVerfG

Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG

II. Beschwerdefähigkeit: „Jedermann“, § 90 I BVerfGG
– Natürliche Personen
– Juristische Personen nach Art. 19 III GG, soweit das jeweilige Grundrecht seinem Wesen nach auch auf juristische Personen anwendbar ist.

III. Prozessfähigkeit

- Fähigkeit, einen Rechtsstreit führen zu können.
-Ausschlaggebend ist die Grundrechtsmündigkeit, d.h. die nötige Einsichtsfähigkeit, im grundrechtlich geschützten Bereich eigenverantwortlich agieren zu können.

IV. Beschwerdegegenstand: Akt öffentlicher Gewalt, § 90 I BVerfGG
= „jeder Akt der öffentlichen Gewalt“, d.h. Legislative, Exekutive und Judikative

V. Beschwerdebefugnis, § 90 I BVerfGG

1. Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten
- d.h. Verletzung eines solchen Rechts darf nicht offensichtlich ausgeschlossen sein.
- (P) Drittwirkung der Grundrechte

2. Betroffenheit

a) Selbst
= Die Maßnahme betrifft den Beschwerdeführer.

b) Gegenwärtig
= Die Beeinträchtigung ist nicht nur irgendwann in Zukunft möglicherweise zu erwarten.

c) Unmittelbar
= Es bedarf keines weiteren Vollzugsakts mehr um die Betroffenheit herbeizuführen.

VI. Rechtswegerschöpfung, § 90 II BVerfGG

VII. Subsidiarität
d.h. über § 90 II BVerfGG hinaus müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen.

VIII. Frist, § 93 BVerfGG

IX. Form, §§ 23 I, 92 BVerfGG 

B. Begründetheit

I. „Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde“
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer durch die angegriffene Maßnahme in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.

II. „Urteils-Verfassungsbeschwerde“

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer durch die gerichtliche Entscheidung in spezifisch verfassungsrechtlicher Weise in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.
 
Das Schema ist in den Grundzügen entnommen von myjurazone.de.

17.08.2017/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-08-17 10:00:362017-08-17 10:00:36Schema: Individualverfassungsbeschwerde
Dr. Maximilian Schmidt

BVerfG: Türkischer Wahlkampf in Deutschland?

Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Völkerrrecht

Im Rahmen eines Nichtannahmebeschlusses vom 08. März 2017 – 2 BvR 483/17 hat das BVerfG sich zu Wahlkampfveranstaltungen türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland geäußert. Konkret ging es um den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim am 18. Februar in Oberhausen, der für das in einem Referendum am 16.4.2017 zur Abstimmung gestellte Präsidialsystem warb. Die Debatte, ob derartige Kundgebungen durch türkische Regierungsmitglieder verboten werden sollten, ist in den letzten Tagen immer lebendiger geworden. Das BVerfG hat nun in rechtlicher Hinsicht klar Stellung bezogen. 
Erstens: Staatsoberhäupter und Mitglieder ausländischer Regierungen haben keinen Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet und die Ausübung amtlicher Funktionen in Deutschland. Ein solcher kann weder aus der Verfassung noch aus allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG hergeleitet werden. Damit kann bereits die Einreise und nicht nur der Auftritt verboten werden. 
Zweitens: Die Entscheidung über die Zulassung von Wahlkampfveranstaltungen ausländischer Regierungsmitglieder liegt in der alleinigen Entscheidung der Bundesregierung im Rahmen ihrer Kompetenz für die Außenpolitik. Es besteht demnach ein regierungsseitiges Zustimmungserfordernis.

Hierzu bedarf es der – ausdrücklichen oder konkludenten – Zustimmung der Bundesregierung, in deren Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten eine solche Entscheidung gemäß Art. 32 Abs. 1 GG fällt (vgl. BVerfGE 104, 151 <207>; 131, 152 <195>; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Juli 2016 – 15 B 876/16 -, juris, Rn. 15 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 32 Rn. 11).

Drittens: Ausländische Staatsoberhäupter genießen keinen grundrechtlichen Schutz in Deutschland bei Ausübung ihrer amtlichen Funktionen. Es liegt kein Ober-Unterordnungsverhältnis vor, wie dies für die unmittelbare Anwendung der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG notwendig ist. Überzeugend führt das BVerfG hierzu aus: 

(…) bei einer Versagung der Zustimmung würde es sich nicht um eine Entscheidung eines deutschen Hoheitsträgers gegenüber einem ausländischen Bürger handeln, sondern um eine Entscheidung im Bereich der Außenpolitik, bei der sich die deutsche und die türkische Regierung auf der Grundlage des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten begegnen.

Auch wenn die Verfassungsbeschwerde mangels subjektiver Betroffenheit des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung angenommen wurde, ist sie ein wichtiger Diskussionsbeitrag in der hitzigen Diskussion um Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland. Nicht nur im Hinblick auf konkrete polizeirechtliche Gefahrenlagen, sondern auch aus außenpolitischen Erwägungen können diese verboten werden. Mit Blick auf die politischen Unruhen in der Türkei und den teils hetzerischen Charakter der bisher in Deutschland durchgeführten Veranstaltungen sprechen gute Gründe dafür, den türkischen Wahlkampf nicht unmittelbar auf deutschem Boden auszutragen. Dies ist aber – wie das BVerfG zurecht ausführt – eine politische Entscheidung, die die Bundesregierung zu treffen hat. Es bleibt spannend, ob und wie sich diese positionieren wird.  

11.03.2017/0 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2017-03-11 09:00:102017-03-11 09:00:10BVerfG: Türkischer Wahlkampf in Deutschland?
Dr. Patrick Christian Otto

Die Verfassungsbeschwerde in der Klausurbearbeitung – Übersicht und Hilfestellungen für eine erfolgreiche Klausur

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Die Verfassungsbeschwerde ist für viele Studierende einer der ersten Klagearten, die sie für die Klausurbearbeitung beherrschen müssen. Vom Grundstudium bis zum Examen werden sie regelmäßig damit konfrontiert sein. In der Klausurpraxis zeigt sich jedoch, dass die Handhabung dieses Verfahrens erhebliche Probleme bereitet, sodass viele bereits an den Grundzügen der Zulässigkeit scheitern. Dieser Beitrag gibt einen systematischen Überblick über die wichtigsten Konstellationen und hilft dabei, in der Klausur die richtigen Schwerpunkte zu setzen. Fernerhin werden zahlreiche Hinweise und Tipps gegeben, wie die Klausurlösung souverän gemeistert werden kann.
I. Vorbemerkungen
„Das Bundesverfassungsgericht ist unter Volllast“ – mit dieser lakonischen Formulierung lässt sich der Bedeutungsgehalt der Verfassungsbeschwerde zutreffend beschreiben. Wie kein anderes Verfahren beschäftigt die Verfassungsbeschwerde die sechzehn Richter der beiden Senate, die allein im Jahr 2013 nach der veröffentlichen Jahresstatistik des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) 6.686 Mal erhoben wurde, womit sie ca. 96 % der Gesamtverfahren darstellt. Allein diese hohe Zahl an Verfahrenseingängen zeigt schon dessen praktische Relevanz, sodass es sich auch hervorragend für Prüfungen eignet. In prozessualer Hinsicht weist das Verfahren einige Besonderheiten auf, die bisweilen von vielen Studierenden nicht beherrscht werden, was häufig zu massiven Punktabzügen führt, die jedoch leicht vermeidbar sind.
In den verschiedenen Lehrbüchern finden sich häufig unterschiedliche Schemata, sodass die folgende Übersicht nur einen Vorschlag darstellt, der jedoch aus Sicht des Verfassers sehr gut handhabbar ist. Dieses Schema dient vor allem als „Checkliste“, damit alle relevanten Prüfungspunkte zumindest gedanklich durchdacht werden. Ergänzt wird die Darstellung durch Verweisung auf zentrale Leitentscheidungen des BVerfG. Lernen Sie die folgenden Darstellungen aber bitte nicht einfach nur auswendig, sondern versuchen Sie, sich anhand der einschlägigen Normen ein grundlegendes Strukturverständnis aufzubauen. Im Verlaufe des Studiums werden Sie merken, dass gerade dies den Unterschied ausmacht und auch ungewöhnliche Fallkonstellationen mit bewährtem Handwerkszeug bewältigt werden können.
II. Einleitung
Im Grundsatz handelt es sich bei der Verfassungsbeschwerde um ein Verfahren zur Sicherung der Grundrechte, das als Primärziel dem Individuum hinreichend effektive Rechtsschutzmöglichkeiten garantiert. Sekundärziel ist die Einhaltung, Auslegung und Fortbildung des objektiven Verfassungsrechts (vgl. BVerfGE 33, 247). Diese ist dabei als außerordentlicher Rechtsbehelf ausgestaltet worden, sodass sie sich nicht in den Kanon der üblichen prozessualen Klagearten einfügt, sondern eine Sonderstellung genießt (vgl. BVerfGE 18, 315). Diese Sonderstellung drückt sich auch in den einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen aus, die sogleich näher erläutert werden. Grundsätzlich gibt es die Verfassungsbeschwerde in drei verschiedenen Ausprägungen (Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde, Urteils-Verfassungsbeschwerde und Einzelakts-Verfassungsbeschwerde), auf deren Unterschiede im Rahmen der einzelnen Prüfungspunkte eingegangen wird.
III. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen im Einzelnen
Die Verfassungsbeschwerde ist dann zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen des Art. 93 I Nr. 4a GG und der §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG vorliegen.
1.Zuständigkeit des BVerfG
Das BVerfG ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden berufen.
Bearbeitungshinweis: Bei der Zuständigkeit genügt ein feststellender Satz. Hierbei ist wiederum zwingend darauf zu achten, dass die Normkette in der o.g. Form korrekt zitiert wird, um nicht gleich zu Beginn der Prüfung Unmut beim Korrektor zu verursachen.
2. Beteiligtenfähigkeit (synonym auch als Parteifähigkeit oder Beschwerdefähigkeit bezeichnet)
Nach § 90 I BVerfGG ist „Jedermann“ das Recht gewährt, Verfassungsbeschwerde zu erheben. Mit der „Jedermann-Eigenschaft“ i.S.d. § 90 I BVerfGG ist derjenige gemeint, der Träger der im konkreten Fall in Betracht kommenden Grundrechte (Art. 1 – 19 GG) oder grundrechtsgleichen Rechte (Art. 20 IV, 33, 38, 101, 103, 104 GG) ist. Dies trifft einerseits auf natürliche Personen und andererseits – unter der Maßgabe des Art. 19 III GG – auch auf juristische Personen zu.
a) Natürliche Personen
Im Grundsatz sind alle natürlichen Personen Träger aller Grundrechte. Ausnahmen erfährt dieser Grundsatz nur bei den sog. „Deutschen-Grundrechten“ (Art. 8 I, Art. 9 I, Art. 11 I, Art. 12 I GG etc.), auf die sich nur Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 116 I GG) berufen können.
Ebenfalls von Bedeutung ist die Frage der Grundrechtsträgereigenschaft des Nasciturus (bereits gezeugtes, aber noch ungeborenes Kind) und von Toten. Der Nasciturus genießt zumindest in Bezug auf die Menschenwürde (Art. 1 I GG, vgl. BVerfGE 39, 1), das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG, vgl. BVerfGE 115, 118) sowie das garantierte Erbrecht (Art. 14 I GG, zur Vertiefung Spranger, AöR 127 (2002), 27 (32)) Grundrechtsschutz. Für Tote existiert lediglich ein sog. postmortaler Persönlichkeitsschutz (Art. 1 I GG, vgl. BVerfGE 30, 173).
b) Juristische Personen
Die Juristischen Personen sind nur dann beteiligtenfähig, wenn die Voraussetzungen des Art. 19 III GG vorliegen. Hierbei ist wiederum zu trennen nach Juristischen Personen des Privatrechts und Juristischen Personen des Öffentlichen Rechts.
aa) Juristische Personen des Privatrechts
Juristische Personen des Privatrechts können sich auf die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte berufen, soweit diese inländisch sind und eine wesensmäßige Anwendbarkeit vorliegt. Dies gilt auch dann, wenn der Staat Anteile an diesen hält (vgl. BVerfGE 115, 205). Fernerhin ist hierfür keine Vollrechtsfähigkeit erforderlich, sondern es genügt auch eine Teilrechtsfähigkeit. So sind etwa neben der GmbH oder AG auch die BGB-Gesellschaft (vgl. BGH NJW 2001, 1056), die OHG und KG (vgl. BVerfGE 4, 7), der nicht rechtsfähige Verein wie auch Parteien (vgl. BVerfGE 3, 383) und Gewerkschaften beteiligtenfähig.
(1) Inländische Juristische Person
Juristische Personen sind dann als inländisch anzusehen, wenn sie ihren (effektiven) Sitz, sprich das tatsächliche Zentrum ihrer Aktionen, im Inland hat, was jeweils selbständig und unabhängig etwa vom Sitz eines Mutterkonzerns zu prüfen und festzustellen ist (vgl. BVerfG NVwZ 2008, 670 (671)). Hierbei kommt es aber nicht darauf an, dass die natürlichen Personen, die die Juristische Person beherrschen, die deutsche Staatsangehörigkeit aufweisen, denn maßgeblich ist allein das Kriterium des Sitzes (instruktiv hierzu BVerfG ebd.). Vor dem Hintergrund zunehmender europäischer Integration gewinnt hierbei auch die Fallkonstellation an Bedeutung, in der die Juristische Person ihren Sitz im Ausland hat, aber gleichwohl innerhalb der EU. Werden diese im deutschen Inland und im Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 18 AEUV) tätig, so kommt ihnen entgegen des Wortlauts des Art. 19 III GG im Wege des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs Grundrechtsschutz zu (vgl. BVerfGE 129, 78 (81)).
 (2) Wesensmäßige Anwendbarkeit
Der Grundrechtsschutz scheidet naturgemäß für diejenigen Grundrechte aus, die an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpfen, die nur natürlichen Personen aufweisen können, sodass das zusätzliche Kriterium der wesensmäßigen Anwendbarkeit in den Verfassungstext aufgenommen wurde (vgl. BVerfGE 106, 28). Dies gilt zunächst evidenter Weise für die Menschenwürde (Art. 1 I GG) wie auch für das allgemeine Persönlichkeitsrecht (APR, Art. 1 I GG i.V.m. Art. 2 I GG), nicht aber für die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG), da diese ein Interesse an äußerlich ungehinderter, möglichst freier Entfaltung und Verfolgung eigener Zwecke haben (vgl. BVerfGE 19, 206).
bb) Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
Juristische Personen des Öffentlichen Rechts können sich als Grundrechtsverpflichtete grundsätzlich nicht zugleich als Grundrechtsberechtigte auf diese berufen (Konfusionsargument). Dies gilt freilich nicht für die prozessualen Grundrechte (sog. „prozessuale Waffengleichheit“). So das BVerfG das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG) sowie das rechtliche Gehör (Art. 103 I GG) auch für Juristische Personen des Öffentlichen Rechts anerkannt (vgl. BVerfGE 61, 82). Das BVerfG billigt weitere Ausnahmen nur insoweit, als die „Einbeziehung … in den Schutzbereich der Grundrechte (gerechtfertigt ist), wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der „Durchgriff“ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll und erforderlich erscheinen lässt, mithin eine grundrechtstypische Gefährdungslage vorliegt“ (Zitiert nach BVerfGE 21, 362). Ausgehend von diesem Grundsatz wurden feste Fallgruppen entwickelt. So ist die Berufung für staatlichen Universitäten und Fakultäten in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III 1 GG, vgl. BVerfGE 15, 256), für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten auf die Rundfunkfreiheit (Art. 5 I 2 GG, vgl. BVerfGE 59, 231) und für die Religionsgemeinschaften auf die Religionsfreiheit (Art. 4 GG, vgl. BVerfGE 53, 366) anerkannt.
Bearbeiterhinweis: Die Beteiligtenfähigkeit bereitet bei natürlichen Personen i.d.R. keine Probleme. Bei den juristischen Personen des Privatrecht ist es besonders wichtig, die Voraussetzungen des Art. 19 III GG sauber zu subsumieren. Hinsichtlich der juristischen Personen des öffentlichen Rechts sollten die Fallgruppen sicher beherrscht werden, wobei ein einfacher Verweis darauf, dass die Fallgruppe anerkannt ist, nicht genügt. Vielmehr erfordert es auch dort einer substantiierten Begründung.
3. Prozess- und Postulationsfähigkeit
Zur Prozess- und Postulationsfähigkeit finden sich keine ausdrücklichen Regelungen im BVerfGG. Das BVerfG bedient sich daher der Regelungen des allgemeinen Prozessrechts, soweit der Verfassungsprozess nichts Abweichendes verlangt (vgl. BVerfGE 1, 74). Relevant wird dies vor allem dann, wenn entweder Kinder und Jugendliche am Verfahren beteiligt sind oder eine Juristische Person klagt.
Bei Kindern und Jugendlichen gilt, dass sie sich durch ihren gesetzlichen Vertreter (in aller Regel sind dies die Eltern) vertreten lassen müssen, es sei denn, dass sie reif und einsichtsfähig („grundrechtsmündig“) sind (vgl. BVerfGE 28, 243). Die Grundrechtsmündigkeit wiederum hängt stark von der Eigenart des jeweiligen Grundrechts ab. Beispielhaft wird hierbei immer auf die Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG verwiesen, bei der in Bezug auf diese Frage auf die Wertung des § 5 S. 1 RelKErzG zurückgegriffen wird, die ein Mindestalter von 14 Jahren vorsieht.
Bei Juristischen Personen gilt, dass sie sich vertreten lassen müssen. Das beliebteste Klausurbeispiel hierfür ist die im deutschen Raum sehr verbreitete GmbH, die sich gem. § 35 I GmbHG von ihrem Geschäftsführer vertreten lassen muss. Bei Aktiengesellschaften übernimmt der Vorstand die Vertretung (vgl. § 78 I AktG).
Bearbeiterhinweis: Ausführungen zur Prozess- und Postulationsfähigkeit sind nur zu treffen, wenn dafür Anhaltspunkte im Sachverhalt bestehen. Wenn dieser Punkt völlig unproblematisch ist, wäre bereits ein feststellender Satz häufig schon zu viel.
4. Beschwerdegegenstand
Beschwerdegegenstand ist ausweislich des Art. 90 I BVerfGG ein „Akt öffentlicher Gewalt“. Darunter zu fassen sind alle Handlungen und Unterlassungen (vgl. §§ 92, 95 I BVerfGG) der deutschen Staatsgewalt. Dies betrifft Akte aller drei Gewalten, sprich der Legislative, Exekutive und Judikative. Umfasst sind allerdings nur Akte der deutschen Gewalt, nicht jedoch die Europäischen Vertragswerke (EUV, AEUV) und völkerrechtliche Verträge.
Ein besonderer Fokus lag lange Zeit auf den Maßnahmen der Europäischen Union, worunter im weitesten Sinne alle Sekundärrechtsakte sowie Ausführungshandlungen deutscher Behörden zu verstehen sind. In seiner Solange I – Entscheidung führte das BVerfG hierzu zunächst aus, dass es sekundäres Unionsrecht „solange“ am Maßstab der deutschen Grundrechte prüft, wie das Unionsrecht keinen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtskatalog enthält (vgl. BVerfGE 37, 271). In Abkehr hierzu wurde bereits 1986 judiziert, dass das BVerfG „solange“ nicht tätig werde, wie der EuGH einen im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet (vgl. BVerfGE 73, 339). Dieses Judikat wirkt bis heute fort, sodass sekundäres Unionsrecht in den allermeisten Fällen kein tauglicher Beschwerdegegenstand ist, es sei denn, dass das Unionsrecht dem nationalen Recht Spielräume überlässt (vgl. BVerfGE 102, 147).
Bearbeiterhinweis: Dieser Prüfungspunkt ist selten ein Problemschwerpunkt, sodass häufig zwei Sätze hierzu genügen. Gerade in Examensklausuren, in denen das Öffentliche Recht vollumfänglich abgeprüft wird, können wiederum die Maßnahmen der Europäischen Union durchaus Klausurgegenstand sein, sodass Kenntnisse über die „Solange-Rechtsprechung“ hierzu unentbehrlich sind.
5. Beschwerdebefugnis
Aus dem Sachvortrag des Antragstellers muss sich die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergeben (vgl. Art. 90 I BVerfGG), wobei es explizit auf „spezifisches Verfassungsrecht“ ankommt (vgl. BVerfGE 18, 85). Zudem muss dieser beschwert sein, also selbst, gegenwärtig und unmittelbar von der geltend gemachten Grundrechtsverletzung betroffen sein.
a) Behauptung einer möglichen Grundrechtsverletzung
Wie bereits erläutert, muss die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung bestehen. Dies setzt voraus, dass die Bedeutung der Grundrechte nicht erkannt oder grundsätzlich verkannt worden ist. Dies liegt etwa dann nicht vor, wenn eine zweifelsfrei fehlerhafte Rechtsanwendung gegeben ist, die aber nicht auf einer fehlerhaften Anwendung der Grundrechte fußt. Soweit allerdings spezifisches Verfassungsrecht betroffen ist, zeigt das BVerfG sich großzügig und schließt die Möglichkeit der Verletzung nur dann aus, wenn dies offensichtlich und nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist (vgl. BVerfGE 38, 139).
b) Betroffenheitstrias
Um Popularklagen zu vermeiden muss der Beschwerdeführer im Rahmen der Betroffenheitstrias geltend machen, dass er selbst, gegenwärtig und unmittelbar beeinträchtigt ist. Einer tieferen Erörterung hierzu bedarf es zumeist nur im Rahmen der Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde, dennoch sind die nachstehenden Ausführungen auf alle drei Arten von Verfassungsbeschwerden übertragbar.
Selbst betroffen ist nur der Rechtsinhaber. Dies ist in aller Regel dann der Fall, wenn der Beschwerdeführer selbst Adressat der angegriffenen Maßnahme ist. Gegenwärtig ist die Betroffenheit, wenn die behauptete Grundrechtsverletzung im Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVerfG aktuell, ergo schon und noch vorliegt. Unmittelbar betroffen kann der Beschwerdeführer durch einen Rechtssatz nur sein, wenn dieser ohne weiteren vermittelnden Akt in den Rechtskreis des Beschwerdeführers einwirkt, also self-executing ist.
Bearbeiterhinweis: Die Beschwerdebefugnis ist stets zu prüfen. Zeigen Sie hier bereits eine gute Übersicht, indem Sie die „Spreu vom Weizen“ trennen und offensichtlich nicht einschlägige Grundrechte aussortieren. Achten Sie aber stets darauf, nicht schon einen Teil der Begründetheitsprüfung vorwegzunehmen. Sie werden in den allermeisten Fällen zumindest zu einer Teilzulässigkeit gelangen, denn andernfalls müssten Sie hilfsgutachterlich weiterprüfen, was die Ausnahme darstellt.
6. Grundsatz der Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität
Zur Entlastung des Gerichts und zur stärkeren Auslastung der Fachgerichte wurden die Grundsätze der Rechtswegerschöpfung und der Subsidiarität entwickelt.
a) Grundsatz der Rechtswegerschöpfung
Nach § 90 II 1 BVerfG kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden, soweit es für den in Rede stehenden Beschwerdegegenstand einen solchen gibt. Das BVerfG fasst unter den Begriff des „Rechtswegs“ jede gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts (vgl. BVerfGE 67, 157). Der Rechtsweg ist vor allem dann nicht als erschöpft anzusehen, wenn der Beschwerdeführer ein zulässiges Rechtsmittel nicht oder nicht rechtzeitig eingelegt hat (vgl. BVerfGE 1, 283), seine Anträge unklar formuliert (vgl. BVerfGE 87, 1) oder eine zulässige Rüge nicht erhoben hat (vgl. BVerfGE 110, 1).
 b) Grundsatz der Subsidiarität
Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz der Subsidiarität als zusätzliches Korrektiv entwickelt (maßgeblich insoweit BVerfGE 107, 395). Dieser besagt, dass der Beschwerdeführer seinem Anliegen sowohl im gesamten Instanzenzug als auch die durch Nutzung aller dabei zur Verfügung stehenden weiteren prozessualen Möglichkeiten Geltung verschaffen muss. Darüber hinaus trifft ihn auch die Pflicht, sein Anliegen derart vorzubringen, dass bereits die Fachgerichte dessen verfassungsrechtliche Relevanz erkennen und beurteilen können. Von höchster Relevanz ist dieses Rechtsinstitut vor allem bei Rechtssatz-Verfassungsbeschwerden, im Rahmen derer umfassend zu prüfen ist, ob nicht auch eine Befassung der unteren Instanzen noch möglich ist.
c) Ausnahmen
 90 II 2 BVerfG sieht zwei Ausnahmen vor, namentlich die Rechtsfragen von allgemeiner Bedeutung und die Entstehung schwerer und unzumutbarer Nachteile für den Beschwerdeführer, wenn er dem Gebot der Rechtswegerschöpfung Folge leisten müsste.
Rechtsfragen sind von allgemeiner Bedeutung, wenn die zu erwartende Entscheidung nicht nur die Belange einzelner, sondern das allgemeine Wohl berührt und aus diesem Grund die Klärung vor Erschöpfung des Rechtswegs geboten erscheint. Des Weiteren liegt diese Ausnahme dann vor, wenn die Entscheidung über den Einzelfall hinaus Klarheit über die Rechtslage in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle und über ähnliche Bestimmungen schafft.
Ein schwerer und unzumutbarer Nachteil entsteht dann, wenn ein entstehender Schaden andernfalls nicht mehr angemessen ausgeglichen werden kann, nicht aber dann, wenn die Beschreitung des Rechtswegs lediglich viel Zeit in Anspruch nimmt und Kosten verursacht.
Bearbeiterhinweis: Auf den Grundsatz der Rechtswegerschöpfung ist bei Rechtssatz-Verfassungsbeschwerden nur in einem feststellenden Satz dahingehend einzugehen, dass kein Rechtsweg gegen diese besteht. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gilt demgegenüber in besonderem Maße bei solchen Rechtssatz-Verfassungsbeschwerden. Ausführungen zur Subsidiarität können bei einer Urteils-Verfassungsbeschwerde oder einer Einzelakts-Verfassungsbeschwerde auch ganz entfallen, wobei dann wiederum auf den Grundsatz der Rechtswegerschöpfung einzugehen ist. Insgesamt gesehen gibt es also ein Wechselspiel zwischen beiden Voraussetzungen.
7. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis gehört zu den allgemeinen Instituten des Prozessrechts und ist Bestandteil nahezu jeder Klageart. Es fehlt dann, wenn sich die rechtliche Stellung des Beschwerdeführers nicht verbessern kann oder wenn ein einfacherer und schneller Weg zur Rechtsdurchsetzung gegeben ist. Da solche Fallgestaltungen aber für gewöhnlich bereits unter dem Prüfungspunkt VI. (Rechtswegerschöpfung und Grundsatz der Subsidiarität) aufgefangen werden können, fristet dieser Prüfungspunkt eher ein Schattendasein.
Bearbeiterhinweis: Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis birgt für gewöhnlich kaum Probleme. Daher ist auf das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis nur bei Anlass einzugehen.
8. Ordnungsgemäßer Antrag
Die Erhebung der Verfassungsbeschwerde hat schriftlich und begründet zu erfolgen (vgl. §§ 23 I, 92 BVerfGG). Hierbei ist auch eine Einsendung per Telefax möglich, nicht hingegen per E-Mail (vgl. BVerfG NJW 2000, 574).
Bearbeiterhinweis: Auch hier darf nur ein feststellender Satz hingeschrieben werden. Dafür gibt es in der Klausur keine Punkte, dennoch zeigt der Bearbeiter dadurch, dass er vollständig arbeitet.
9. Fristerfordernisse
Die Verfassungsbeschwerde ist grundsätzlich binnen eines Monats zu erheben und zu begründen (§ 93 I 1 BVerfGG; zum Fristbeginn siehe § 93 I 2, 3 BVerfGG).
Bearbeiterhinweis: Zu diesem Prüfungspunkt gilt das unter VIII. Gesagte.
IV. Das Annahmeverfahren gem. §§ 93a ff. BVerfGG
Um dem in der Einleitung umschriebenen Problem der starken Verfahrensdichte Herr zu werden, wurde in den §§ 93a ff. BVerfGG ein eigenes Annahmeverfahren geschaffen, um bereits vor der Befassung einer Kammer oder sogar des gesamten Senats mit dem Fall eine Auslege vorzunehmen. Kern des Annahmeverfahrens ist die Prüfung aller eingegangen Verfassungsbeschwerden durch den Präsidialrat und, falls sich diese nicht als offensichtlich unzulässig oder unbegründet erweisen, auch durch den zuständigen Richter zur Berichterstattung. Dieser erklärt nur dann die Annahme zur Entscheidung, wenn der Verfassungsbeschwerde grundlegende Bedeutung zukommt, also wenn eine Frage aufgeworfen wird, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und die noch nicht durch die Rechtsprechung geklärt wurde (vgl. BVerfGE 90, 22). Erst nachdem auch diese Hürde überwunden wurde, kann entschieden werden. Die Entscheidung wird dann zumeist von einer der Kammern getroffen, nur in Ausnahmefällen von dem Senat.
Bearbeiterhinweis: Wenngleich Ihnen das Annahmeverfahren im Grundstudium nicht begegnen wird, so ist dieses gerade mit Blick auf die mündliche Prüfung im Rahmen der ersten Juristischen Prüfung von großer Bedeutung und immer wieder beliebter Prüfungsstoff. Mit Kenntnissen zum Annahmeverfahren können Sie sich von Ihren Mitprüflingen absetzen.
V. Die Prüfung der Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch den angegriffen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte tatsächlich verletzt ist. Prüfungsmaßstab hierbei ist die gesamte Verfassung, sodass vor allem bei Verfassungsbeschwerden gegen Rechtssätze auch formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit zu prüfen ist.
Bearbeiterhinweis: Auf der Prüfung der Begründetheit liegt in der Klausur der klare Schwerpunkt, sodass Sie hier umfassend prüfen müssen. Da auch staatsorganisationsrechtliche Kenntnisse für eine optimale Klausurlösung vonnöten sind, sollten diese sicher beherrscht werden.
VI. Eilrechtsschutz
Im Bereich der Verfassungsbeschwerde ist bei besonderer Eilbedürftiger auch einstweiliger Rechtsschutz möglich, wobei die Voraussetzungen des § 32 BVerfGG vorliegen müssen.
Bearbeiterhinweis: Eine Prüfung im Eilverfahren ist in Klausuren äußerst unüblich. Gleichwohl kann es Ihnen im Studium begegnen, vor allem in mündlichen Prüfungen lassen sich hiermit hervorragende Bezüge zum Verwaltungsrecht herstellen, in welchem der Eilrechtsschutz zu den Prüfungsklassikern gehört.
VII. Resümee
Viele Zulässigkeitsprüfungen von Verfassungsbeschwerden weisen in der Klausurbearbeitung nur einige wenige Probleme auf, sodass präzises Arbeiten gefragt ist. Dann ist es auch besonders wichtig, die unproblematischen Punkte nur sehr kurz anzusprechen und nur dort ausschweifender zu werden, wo tatsächlich Probleme auftreten. Besonders durch die Fähigkeit, die richtigen Schwerpunkte zu setzen, können sich die jeweiligen Bearbeiter von den Kommilitonen absetzen, was vom Korrektor goutiert werden wird. Das besondere Augenmerk der Prüfung liegt jedoch stets auf der Begründetheit, sodass dort die großen Punkte zu holen sind, während es in der Zulässigkeit in den allermeisten Fällen nur wenige Punkte zu holen gibt.

21.12.2015/1 Kommentar/von Dr. Patrick Christian Otto
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Patrick Christian Otto https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Patrick Christian Otto2015-12-21 11:00:512015-12-21 11:00:51Die Verfassungsbeschwerde in der Klausurbearbeitung – Übersicht und Hilfestellungen für eine erfolgreiche Klausur
Tom Stiebert

Landesverfassungsgericht prüft Besonderheiten des schleswig-holsteinischen Wahlrechts

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht

In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass das Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein die Rechtmäßigkeit der Ausnahme des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) von der Fünfprozentklausel bei Landtagswahlen überprüft.
Die Kläger halten dies für verfassungswidrig. Zur Erinnerung: Der SSW war im vergangenen Jahr mit 4,6% aufgrund der landesrechtlichen Besonderheiten in den Landtag in Kiel mit 3 Abgeordneten eingezogen und bildet nun mit SPD und den Grünen eine Regierungskoalition.
Die Fragestellung beschränkt sich darauf, zu ermitteln, ob der unterschiedliche Erfolgswert der Stimmen von SSW und anderen Parteien unterhalb der Fünfprozenthürde sachlich gerechtfertigt ist.
Bereits unmittelbar nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein haben wir uns auf juraexamen.info ausführlich mit dieser Problematik auseinandergesetzt und auf die Probleme der Rechtmäßigkeit der Landesregelung im konkreten Fall hingewiesen. Siehe unseren damaligen Beitrag hier.
Damals prognostizierten wir:

Ob erneut eine Überprüfung der Regelung erfolgen wird, hängt insbesondere von der politischen Entwicklung in Schleswig-Holstein ab.

Nun hat sich gezeigt, dass der SSW eine Koalition eingegangen ist und damit als Partei für das gesamte Bundesland tätig wird. Damit ist er nicht mehr allein ein Minderheitenvertreter. Diese Problematik erkannten wir schon im letzten Jahr und stellten fest:

Zudem richtet sich die Politik auch an sämtliche Bürger Schleswig-Holsteins, nicht allein an die dänische Minderheit. Dies wird insbesondere dadurch verdeutlicht, dass möglicherweise eine Regierungsbeteiligung des SSW in Betracht kommt, die sich notwendigerweise auf das gesamte Schlesig-Holstein erstreckt.

Man darf damit gespannt auf die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts Schleswig-Holstein (die nach der Sommerpause ergehen wird) sein. Die Feststellung, dass das aktuelle schleswig-holsteinische Wahlrecht verfassungswidrig ist, erscheint nicht unwahrscheinlich. Folge wäre dann, dass zumindest für die nächste Landtagswahl die Privilegierung des SSW abgebaut werden müsste oder das Wahlrecht zumindest so auszugestalten ist, dass der Status als Minderheitenpartei wieder eingehalten wird. Auch hierzu haben wir einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet:

Möglichkeiten für eine zweifellos verfassungskonforme Ausgestaltung des Wahlrechts würden unproblematisch bestehen – hierzu müsste nicht einmal auf die Fünfprozenthürde verzichtet werden. Ein Vorbild könnten hier die Wahl zum ersten gesamtdeutschen Bundestag 1990 sein, bei der zwar nicht auf die Fünfprozenthürde verzichtet wurde, diese galt aber zum Schutz der “ostdeutschen Minderheit” eigenständig in den neuen Bundesländern. Eine vergleichbare Regelung wäre auch in Schleswig-Holstein möglich: Der SSW tritt nur in denjenigen Wahlkreisen an, in denen eine dänische Minderheit tatsächlich besteht (also in Schleswig) – überschreitet er hier die Fünfprozenthürde, darf er dann auch die entsprechende Anzahl Abgeordnete entsenden.

23.06.2013/0 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2013-06-23 09:08:162013-06-23 09:08:16Landesverfassungsgericht prüft Besonderheiten des schleswig-holsteinischen Wahlrechts
Dr. Christoph Werkmeister

„NSU-Verfahren“: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung teilweise erfolgreich

Tagesgeschehen, Verfassungsrecht

Das BVerfG hat soeben über den Antrag einer türkischen Zeitung auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entschieden (Beschluss vom 12.4.2013 – 1 BvR 990/13). In der Sache geht es um das Verfahren der Sitzvergabe durch das OLG München im sog. NSU-Prozess (siehe hierzu bereits unsere umfassende Berichterstattung hier sowie hier).
Anstatt die hoch umstrittene und politisch brisante Frage, ob durch die Nichtberücksichtigung türkischer Medien ein Verstoß gegen Grundrechte vorliegt, zu entscheiden, kam es indes zu einer Folgenabwägung. Im Ergebnis stellt dieses Ergebnis zum jetzigen Zeitpunkt einen großen Teilsieg für die türkischen Medien dar, da das BVerfG eine teilweise Vorwegnahme der Hauptsache tenorierte.
Das Gericht führt dazu Folgendes aus:

1. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweise sich von vornherein als insgesamt unzulässig oder offensichtlich unbegründet.
2. Die zugrundeliegende Verfassungsbeschwerde ist vorliegend weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ableitende subjektive Recht der Beschwerdeführer auf Gleichbehandlung im publizistischen Wettbewerb, also auf gleichberechtigte Teilhabe an den Berichterstattungsmöglichkeiten zu gerichtlichen Verfahren, verletzt sein könnte. Allerdings ist die Entscheidung über die Zugänglichkeit zu Gerichtsverhandlungen, die Reservierung einer bestimmten Anzahl von Plätzen für Medienberichterstatter und auch die Verteilung knapper Sitzplätze an dieselben grundsätzlich eine Frage, die sich unter dem verfassungsrechtlichen Schutz der Unabhängigkeit der Gerichte zunächst nach einfachem Recht entscheidet und die der Prozessleitung des Vorsitzenden in dem jeweiligen Gerichtsverfahren obliegt. Dabei hat dieser einen weiten Entscheidungsspielraum. Das Bundesverfassungsgericht überprüft dessen Anordnungen nur dahingehend, ob sie Verfassungsrecht verletzen und insbesondere, ob sie auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen. Ob die Beschwerdeführer danach durch die angegriffenen Entscheidungen in ihren Grundrechten verletzt sind, bedarf einer näheren Prüfung, die schwierige Rechtsfragen aufwirft und daher im Eilrechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden kann. Deshalb kann die Eilentscheidung nur auf eine Folgenabwägung gestützt werden.
3. Erweist sich eine Verfassungsbeschwerde weder als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.
a) Erginge vorliegend keine einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber Erfolg, so bestünde die Gefahr, dass die Beschwerdeführer, ohne dass ihnen die gleichen Chancen wie anderen Medienvertretern eingeräumt gewesen wären, wie auch andere ausländische Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten von der Möglichkeit einer eigenen, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpften Berichterstattung im sogenannten NSU-Prozess ausgeschlossen blieben. Dies wiegt vorliegend umso schwerer, als gerade türkische Medienvertreter ein besonderes Interesse an einer vollumfänglich eigenständigen Berichterstattung über diesen Prozess geltend machen können, da zahlreiche Opfer der angeklagten Taten türkischer Herkunft sind.
b) Diese Nachteile überwiegen gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im tenorierten Umfange stattgegeben würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg letztlich versagt wäre. Denn in diesem Falle würden zwar den ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten Sitzplätze in der Verhandlung eingeräumt, auf die sie nach der bisherigen Sitzplatzvergabe keinen Anspruch mehr gehabt hätten. Eine etwaige Ungleichbehandlung sonstiger Medien, denen ein bereits zugeteilter Sitzplatz genommen oder bei Bildung eines Zusatzkontingents kein Sitzplatz zugeteilt wird, wöge jedoch vor dem Hintergrund des besonderen Interesses dieser Medien weniger schwer. Rechte der Medien bestehen ohnedies nur im Rahmen einer gleichheitsgerechten Auswahlentscheidung. Auch ist der Nachteil für die allgemeine Öffentlichkeit, der dadurch entsteht, wenn mit einem Zusatzkontingent einige wenige Plätze der Saalöffentlichkeit bestimmten Medienvertretern zur Verfügung gestellt würden, verhältnismäßig geringer, da die allgemein zu vergebenden Sitzplätze noch nicht konkretisiert sind und entsprechend den hierfür geltenden Maßstäben nach wie vor ein angemessener Teil der im Sitzungssaal verfügbaren Plätze dem allgemeinen Publikum vorbehalten bleibt.
4. Im Eilrechtsschutzverfahren kann das Bundesverfassungsgericht Maßnahmen treffen, die nicht als die Durchsetzung eines endgültig verfassungsrechtlich gebotenen Ergebnisses zu verstehen sind, sondern als vorläufige Anordnung zur Abwendung oder Milderung von drohenden Nachteilen. Dies gilt insbesondere in einer Situation wie der vorliegenden, in der von vornherein kein verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht auf Zugang zur Gerichtsverhandlung, sondern nur die mögliche Verletzung einer Chance auf gleichberechtigte Teilhabe in Frage steht, die Nachteile sich aber aus den Folgen einer möglichen Verletzung der Chancengleichheit ergeben. Die Maßnahme kann sich hier auf die Abmilderung dieser Folgen beziehen. Dies kommt vorliegend zwar einer teilweisen Vorwegnahme der Hauptsache gleich; in Ausnahmefällen ist dies jedoch zulässig, wenn die Entscheidung in der Hauptsache zu spät ergehen würde und in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte. Daher wird dem Vorsitzenden des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts aufgegeben, nach einem von ihm im Rahmen seiner Prozessleitungsbefugnis festzulegenden Verfahren eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten zu vergeben. Möglich wäre ein Zusatzkontingent von nicht weniger als drei Plätzen zu eröffnen, in dem nach dem Prioritätsprinzip oder etwa nach dem Losverfahren Plätze vergeben werden. Es bleibt dem Vorsitzenden aber auch unbenommen, anstelle dessen die Sitzplatzvergabe oder die Akkreditierung insgesamt nach anderen Regeln zu gestalten.
5. Der weitergehende Antrag der Beschwerdeführer auf vollständige Aussetzung der Vollziehung der Platzvergabe und der Sicherheitsverfügungen war hingegen abzulehnen, da sie einen Antragsgrund für eine derart weitgehende Verfügung nicht hinreichend dargelegt haben (der vollständige Beschluss des BVerfG kann hier eingesehen werden).

Eine Klärung der hochbrisanten Rechtsfrage bleibt insofern dem Hauptsacheverfahren in Form einer Verfassungsbeschwerde vorbehalten. Bis eine Entscheidung gefällt ist, wird das politische Interesse an der Sache wieder verflogen sein… Für Examenskandidaten, die in den nächsten Wochen oder Monaten die mündliche Prüfung bestreiten, stellt dieses Verfahren jedoch auch nach der vorläufigen Klärung absoluten Pflichtfachstoff dar!

12.04.2013/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2013-04-12 18:29:532013-04-12 18:29:53„NSU-Verfahren“: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung teilweise erfolgreich
Dr. Maximilian Schmidt

Erfolgsaussichten und Prüfungsrelevanz der Verfassungsbeschwerde im NSU-Verfahren

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

 
Die türkische Zeitung „Sabah“ hat am 5.4.2013 Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben, um eine Verletzung ihrer Grundrechte geltend zu machen (s. nur hier). Das Vorgehen des OLG München im NSU-Prozess hinsichtlich der Vergabe von Presseplätzen ist wegen der fehlenden Berücksichtigung türkischer Medien in der letzten Woche stark in die Kritik geraten. Aufgrund der Thematik und ihrer Aktualität bietet sich das Verfahren als Aufhänger einer Grundrechtsprüfung an und war bereits letzte Woche im Hinblick auf §§ 169, 176 GVG Prüfungsgegenstand einer mündlichen Prüfung am OLG Köln. Insoweit sollte man sich vor einer anstehenden mündlichen Prüfung auf dieses Thema einstellen. Dieser Beitrag soll hierbei helfen, indem er Schwer- und Problempunkte der Prüfung einer Verfassungsbeschwerde aufzeigt, ohne diese schulbuchmäßig durchzuprüfen (was in einer mündlichen Prüfung idR auch nicht der Fall sein wird).
 
A. Zulässigkeit einer VfB nach Art. 93 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90, 92ff. BVerfGG
 
I. Beschwerdefähigkeit, § 90 BVerfGG
Im Verfassungsbeschwerdeverfahren ist „Jedermann“ beschwerdefähig, also jeder Träger von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten. Die Sabah ist eine juristische Person des Privatrechts, so dass die Voraussetzungen von Art. 19 III GG zu prüfen sind. Die Sabah ist eine türkische Zeitschrift, so dass das Merkmal „inländisch“ fraglich sein könnte. Allerdings hat sie eine deutsche Dependence, die nach deutschem Recht eingerichtet ist (GmbH), so dass diese eine inländische juristische Person ist. Insoweit könnte sich die Frage nach der Weite des Begriffs „juristische Person“ anschließen, der, anders als im einfachen Recht, auch Personengesellschaften (GbR, OHG, KG) umfasst und daher weiter ist. Auch könnte hier eine europarechtliche Frage folgen, wenn man die Zeitung bspw. nach Frankreich verlegte ohne Tochtergesellschaft in Deutschland (eingehend unser Beitrag hierzu).
Somit ist die Sabah beschwerdefähig nach § 90 BVerfGG.
 
II. Beschwerdegegenstand, § 90 BVerfGG
Die Ablehnung durch das Gericht ist ein Akt öffentlicher Gewalt, hier der Exekutive (nicht der Judikative! Hier wird Verwaltungstätigkeit wahrgenommen!).
 
III. Beschwerdebefugnis, § 90 BVerfGG
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Als möglicherweise verletzte Grundrechte kommen Art. 5 I 2 Var. 1 GG (Pressefreiheit) in Betracht sowie Art. 3 I, III GG und Art. 12 GG. Diese müssten wesensmäßig auf jur. Personen anwendbar sein, Art. 19 III GG sein.
Hinsichtlich der Pressefreiheit ist auch schon die Informationsbeschaffung geschützt, das heißt hier der Zutritt zum Gericht. An dieser Stelle könnte man schon die Frage aufwerfen, ob Art. 5 I 2 Var. 1 GG überhaupt davor schützt, nicht zu einem bestimmten Ort (hier Gerichtssaal) zu gelangen. Im Rahmen der Beschwerdebefugnis, an dem nur die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung geprüft wird, sollte ein Hinweis darauf genügen, dass die fehlende Zulassung die Pressearbeit zumindest erschwert, weswegen eine Verletzung zumindest in Betracht kommt bzw. nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Auch ein Hinweis auf den status positivus kann hier erfolgen.
Auch kommt eine Verletzung von Art. 12 GG in Betracht.
Bei Art. 3 I, III GG stellt sich die spannende Frage, wer sich eigentlich auf dieses Grundrecht beruft: Stellt man auf die juristische Person selbst ab, die ja, wie dargestellt, inländisch ist, kann schon keine Ungleichbehandlung zu anderen inländischen juristischen Personen wegen der Herkunft vorliegen. Wählt man den Ansatz des Schutzes der natürlichen Personen hinter der juristischen Person, kommt vorliegend ein Verstoß gegen Art. 3 I, III GG insofern in Betracht, als dass die vorwiegend bzw. ausschließlich türkischstämmigen Mitglieder benachteiligt werden könnten. Hier ist der häufig im Ergebnis irrelevante Streit, was Art. 19 III GG schützt (Stichwort: grundrechtstypische Gefährdungslage vs. Schutz der dahinter stehenden natürlichen Personen), somit ausnahmsweise relevant.
 
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar
 
IV. Rechtswegerschöpfung, § 90 II BVerfGG
Vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ist der Rechtsweg zu erschöpfen, § 90 II BVerfGG. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass es  gegen Sitzungsverfügungen eines Gerichts nach h.M. keinen Rechtsweg gibt.
Würde man einen solchen dennoch annehmen, stellte sich die Frage, ob ausnahmsweise auch ohne Erschöpfung eines vorhandenen Rechtsweges die Verfassungsbeschwerde zulässig ist. Hier müsste auf § 90 II 2 BVerfGG rekurriert werden, der zwei Varianten hat.
Die allgemeine Bedeutung könnte man argumentativ damit herleiten, dass Sitzungsverfügungen wegen Platzmangels häufiger auftreten und hierzu keine Rechtsprechung vorhanden ist. Hinzu tritt die starke öffentliche Aufmerksamkeit für den NSU-Prozess, der sich in der umfangreichen Berichterstattung widerspiegelt.
Auch schwere, unabwendbare Nachteile könnten im Hinblick auf den bevorstehenden Beginn des Prozesses angenommen werden (vgl. auch § 32 BVerfGG), da dann die Pressefreiheit schon beschränkt wäre.
 
V. Subsidiarität
Hier kann auf den Rechtsgedanken von § 90 II 2 BVerfGG abgestellt werden.
 
B. Begründetheit
 
I. Art. 5 I 2 Var. 1 GG

Zunächst könnte man fragen, ob es sich hier tatsächlich um ein grundrechtliches Abwehrrecht geht oder nicht vielmehr um den status positivus; an dieser Stelle könnte dann die Frage nach der Statuslehre nach Jellinek folgen (weitergehend auch dessen 3-Elementenlehre).
Hier möchte die Sabah zugelassen werden, so dass eine Orientierung am Leistungskern des Grundrechtes nahe liegt. Hier kann eine Entscheidung offenbleiben:
–  Knüpft man an den status positivus an, muss der Staat dem Presseorgan die Teilhabe an der Berichterstattung ermöglichen, wobei ihm ein weiter Ermessensspielraum zusteht. Hier müsste dann eine Überprüfung des Auswahlverfahrens anhand einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der staatlichen Einschätzungsprärogative erfolgen (dazu sogleich).
– Knüpft man an den status negativus an, darf der Staat dem Presseorgan den Zutritt zum Gericht nur aus sachlichen, verfassungskonformen Gründen verwehren. Dies könnte hier die Sitzplatzerschöpfung sein, welche aber nur dann als Rechtfertigung dienen kann, wenn sie unter Berücksichtigung aller grundrechtlich zu schützenden Belange erreicht worden ist. Hier hat dann die gleiche Überprüfung der Ermessensentscheidung des Gerichts und dessen Vergabepraxis zu erfolgen.
 
Die Vergabepraxis erfolgte ausschließlich nach dem Prioritätsprinzip, auch Windhundprinzip genannt. Fraglich ist, ob dieses den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein faires Vergabeverfahren genügt.
An dieser Stelle kann zunächst allgemein die Verfassungsmäßigkeit des reinen Prioritätsprinzips geprüft werden. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass bei ausreichender Hinweisfrist durch das Gericht eine Vergabe nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ verfassungskonform ist. Weder werden bestimmte Personenkreise von vornherein ausgeschlossen, noch stellt die Unterscheidung nach zeitlichem Eingang ein besonderes Hindernis dar; es ergibt sich schlichtweg aus der beschränkten Kapazität. Nun könnte man andere Verfahren wie ein Losverfahren andenken; allerdings verwirklicht dieses die Pressefreiheit nicht besser. Im Gegenteil könnten Medien zugelassen werden, die sich erst sehr spät um eine Akkreditierung bemüht haben.
Im NSU-Verfahren war jedoch mit einem erhöhten Interesse ausländischer Medien zu rechnen, sodass sich als weiteres Auswahlkriterium eine Zwei-Pool-Lösung angeboten hätte: Bspw. 20% der Sitze hätten sicher an ausländische oder gar türkische Medien vergeben werden können (hierzu schon eingehend unser Beitrag der letzten Woche). Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass das Prioritätsprinzip daher grundsätzlich auch als alleiniges Auswahlkriterium wohl verfassungskonform ist.
 
Nun muss es aber auch im Einzelfall korrekt angewendet worden sein. Hierzu muss eine umfassende Würdigung des Sachverhaltes erfolgen. Soweit er hier vorliegt (s. die sehr ausführliche und aufschlussreiche Sachverhaltsdarstellung im Tagesspiegel), lässt sich Folgendes sagen:
Die Sabah ist eine inländische juristische Person und muss sich daher grundsätzlich am gleichen Maßstab messen lassen wie andere inländische Presseorgane. Zunächst konnte man davon ausgehen, dass die Sabah schlichtweg den Akkreditierungsstart versäumt hatte. Dieser Obliegenheitsverstoß schien daher eine verfassungswidrige Anwendung im Einzelfall auszuschließen. Das Prioritätsprinzip soll doch gerade verhindern, dass nach und nach Anmeldungen erfolgen, die dann eine Zuweisung erschweren. Auch ist es zunächst am Grundrechtsträger selbst seinen Obliegenheiten nachzukommen, um von seinen Grundrechten Gebrauch machen zu können. Zudem könnte auf die Gefahr einer Revision wegen einer erneuten Sitzplatzvergabe wegen Befangenheit der Richter hingewiesen werden.
Hiergegen könnte man zunächst anführen, dass alleine die Einfachheit der Vergabe kein Argument sein kann; der Staat muss auch Schwierigkeiten auf sich nehmen, um den grundrechtlichen Teilhaberechten zu genügen. Zudem können nicht mit Hinweis auf einen späteren Revisionsgrund Fakten geschaffen werden. Hinzu kommt, dass aufgrund des für die türkischen Medien brisanten Themas der Verhandlung auf jeden Fall für diese Medien Sitzplätze vorhanden sein müssten. Die Pressefreiheit muss sich immer auch an tatsächlichen Gegebenheiten messen lassen. Werden durch die konkrete Anwendung eines Auswahlprinzips de facto bestimmte Medien ausgeschlossen, ist dieses im Einzelfall nicht mehr verfassungskonform.
Nun häufen sich nämlich die Hinweise, dass das tatsächliche Vergabeverfahren fehlerhaft war (s. hierzu den tagesspiegel; von einem anderen Sachverhalt ging insofern noch unser vorheriger Beitrag aus). Anscheinend wurde durch fehlende oder fehlerhafte Information die Sabah verhindert, dass diese rechtzeitig einen Akkreditierungsantrag stellt, während deutsche Medien umfassender und frühzeitiger informiert waren. Insoweit läge ein Verstoß gegen die Hinweispflicht bzgl. des Anmeldestarts vor (technische Fehler; falsche Auskünfte usw.)
Sollte dies tatsächlich der Fall gewesen sein, genügt das Vergabeverfahren im Einzelfall nicht mehr dem Gebot der Sachlichkeit und ist verfassungswidrig.
Damit ist die Sabah unter Zugrundelegung dieses Sachverhaltes in ihrem Grundrecht aus Art. 5 I 2 Var. 1 GG verletzt.
 
II. Art. 3 I, III GG
Zunächst muss hier der Streit aus der Beschwerdebefugnis aufgegriffen werden (s.o.). Sieht man hier Art. 3 I, III GG hinsichtlich des Merkmals Herkunft wegen der hinter der Sabah stehenden natürlichen Personen als anwendbar an, stellt sich die Frage, ob hier wesentlich Gleiches ungleich bzw. wesentlich Ungleiches gleich behandelt worden ist. Hier wurden zwar alle Presseorgane hinsichtlich der Akkreditierung nach dem Prioritätsprinzip gleich behandelt; im Vorfeld wurde aber unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich informiert. Somit liegt eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vor. Knüpft diese an die Herkunft an (was hier freilich noch nicht geklärt erscheint), ist diese Anknüpfung an ein verpöntes Merkmale des Art. 3 III unabhängig von einer Verhältnismäßigkeits- oder Willkürkontrolle grundsätzlich unzulässig. Ausnahmsweise kann jedoch wegen der Ähnlichkeit zu personenbezogenen Merkmalen eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen, sog. Neue Formel. Hier genügt die unterschiedliche Behandlung jedoch schon nicht dem Gebot der Sachlichkeit (Willkürverbot s.o.), sodass das Vorgehen des Gerichts verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen ist.
Somit liegt auch ein Verstoß gegen Art. 3 III GG vor.
 
III. Art. 12 GG
Dieser wird von der spezielleren Pressefreiheit vorliegend verdrängt, Art. 5 I 2 Var. 1 GG.
 
C. § 32 Einstweilige Anordnung
Die Sabah hat zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG gestellt. Bei dieser sind ihm Rahmen einer doppelten Nachteilsabwägung die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hätte, abzuwägen mit denen, dass die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg hätte, die einstweilige Anordnung aber erginge.
Aufgrund der Komplexität verfassungsrechtlicher Fragen erfolgt hier anders als bei der nur in tatsächlicher Hinsicht summarischen Prüfung im Verwaltungsgerichtsverfahren idR keine tiefgehende inhaltliche rechtliche Prüfung.
 
D. Fazit
Der Fall der Sabah bietet somit jede Menge Anknüpfungspunkte für eine mündliche Prüfung und sollte daher vorher schon einmal durchdacht sein, um dann einfacher auf richtige Ergebnisse und vor allem eine gute Argumentation zu kommen.
Die Verfassungsbeschwerde ist keineswegs so aussichtslos, wie dies im Vorfeld schien. Sollte sich als wahr erweisen, dass die Sabah verspätet über den Akkreditierungsbeginn informiert wurde und aus diesem Grund eine Anmeldung erschwert war, so verstoßen diese Modalitäten gegen die Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1, 3 GG und 5 Abs. 1 GG.
 

09.04.2013/2 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2013-04-09 13:00:452013-04-09 13:00:45Erfolgsaussichten und Prüfungsrelevanz der Verfassungsbeschwerde im NSU-Verfahren
Seite 1 von 212

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