OVG NRW: Dauerobservation von Sexualstraftätern – Klausurfall
Mit Urteil vom 05.07.2013 hat das OVG Münster (Az. 5 a 607/11) entschieden, dass die zweijährige Dauerobservation der Familie eines aus der Haft entlassenen Sexualstraftäters rechtmäßig gewesen ist (Pressemitteilung). Das Thema gewinnt insbesondere aufgrund der Diskussion um die Sicherungsverwahrung Bedeutung und Aktualität, vgl. dazu auch die Entscheidung des BVerfG. Ein fiktiver möglicher Klausursachverhalt könnte sich – stark verkürzt – folgendermaßen darstellen:
Sexualstraftäter S verbüßte in der JVA der nordrhein-westfälischen Stadt D eine 14-jährige Haftstrafe, zu der er vom Landgericht D wegen Vergewaltigung und Nötigung verurteilt worden war. Ende des Jahres 2008 stand die Haftentlassung des S an. Angesichts dessen wurde er einer psychologischen Begutachtung unterzogen, deren Gegenstand die Bewertung der Rückfallwahrscheinlichkeit des S war. Zwei mit der Sache befasste Gutachter kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass dem S eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit zu attestieren sei, er werde mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft erhebliche Straftaten begehen. Aus rechtlichen Gründen war es aber nicht möglich, den S in die Sicherheitsverwahrung einzuweisen. Nachdem er die JVA verlassen hatte, zog er zu seinen Familienangehörigen. Der Leiter der örtlichen Polizeibehörde ordnete vor diesem Hintergrund an, dass der S „rund um die Uhr“ von zwei Polizeibeamten zu überwachen sei. Er ist der Ansicht, dass nur so eine erhebliche Gefährdung der Bevölkerung zu vermeiden sei. In den folgenden Jahren wurde der S von der Polizei observiert, dies vor allem, wenn er seine Wohnung verließ, auch zusammen mit seiner Ehefrau und seinen Kindern. Eine optische oder akustische Überwachung des Wohnraumes fand indes nicht statt. Der S ist der Ansicht, dass die Polizei rechtswidrig handle; erstens könne eine Überwachung doch nicht einfach ohne Weiteres angeordnet werden, immerhin habe er seine Strafe doch „abgesessen“. Zudem fände eine derartige Vorgehensweise im Gesetz doch gar keine Stütze. Auch die Angehörigen sehen sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt, da man sich ja immer beobachtet fühlen müsse. Wie ist die Rechtslage?
Das könnte – ausgarniert mit ein paar verfahrensrechtlichen oder formellen Problemen – ein Examensfall sein. Zu prüfen wäre damit eine Klage des S (im Originalfall hatte die Familie geklagt).
A. Zulässigkeit einer Klage
Fraglich ist, ob der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 VwGO eröffnet ist. Dies ist hiernach vor allem dann der Fall, wenn eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt. Genau das ist hier fraglich. Eine öffentliche rechtliche Streitigkeit liegt dann vor, wenn die den Streit entscheidenden Normen solche des öffentlichen Rechts sind. Das ist dann der Fall, wenn sie ausschließlich einen Hoheitsträger berechtigen oder verpflichten. Vorliegend wendet sich der S gegen das Verhalten der Polizei, die streitentscheidende Norm ist also eine Ermächtigungsgrundlage. Fraglich ist allerdings, ob diese dem Strafrecht (vor allem StPO) oder dem Polizeirecht zu entnehmen ist. Das kommt auf den Charakter der Maßnahme an. Die Dauerobservation dient im vorliegenden Fall der Gefahrenabwehr, nicht der Repression. Denn die Überwachung soll vorliegend eine Gefährdung durch den S verhüten. Damit liegt ein präventiver Charakter der polizeilichen Maßnahme vor, sodass der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 VwGO eröffnet ist. Auch liegt vorliegend keine privatrechtliche Streitigkeit vor, da die Polizei ausschließlich in hoheitlicher Gestalt tätig wird.
Fraglich ist weiterhin, welche Klageart vorliegend statthaft ist. Für einen Verwaltungsakt gem. § 35 VwVfG ist vorliegend nichts ersichtlich, sodass die Erhebung einer Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage gem. § 42 VwGO ausscheidet. Zu denken wäre dann an eine allgemeine Leistungsklage in Gestalt einer Unterlassungsklage. Dem S kommt es vorliegend darauf an, das Verhalten der Polizei abzuwehren.
Erhebt er erst später Klage, dann kommt die Feststellungsklage in Betracht. Wurde die Überwachung durch Bescheid angeordnet, ist die Anfechtungsklage statthaft.
Der S dürfte auch klagebefugt gem. 42 Abs. 2 VwGO analog sein, da es jedenfalls möglich ist, dass er die Unterlassung verlangen kann. Gleiches gilt für die Familienangehörigen, sollten diese klagen. Denkbar sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Verletzung des APR, Art. 1, 2 Abs. 1 GG.
Sonstige Zulässigkeitsprobleme sollen an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
B. Begründetheit der Klage
Fraglich ist, ob die Klage begründet ist. Dies ist der Fall, wenn dem S ein Unterlassungsanspruch zusteht.
I. öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch
Anspruchsgrundlage für einen derartigen Anspruch könnte vorliegend der allgemeine öffentlich-rechtliche Abwehr- und Unterlassungsanspruch sein. Eine spezialgesetzliche Anspruchsgrundlage ist vorliegend nicht ersichtlich. Der genannte Anspruch ist heute in Literatur und Rechtsprechung anerkannt. Dogmatisch wird er aus der Abwehrfunktion der Grundrechte oder aus § 1004 BGB analog hergeleitet. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG muss es auch einen Anspruch des Bürgers geben, um sich gegen schlichtes, d.h. rein tatsächliches Verwaltungshandeln zu wehren.
In der Klausur darf hier noch ein wenig mehr argumentiert werden, aber nicht zu lang, denn der Anspruch ist unzweifelhaft anerkannt.
Voraussetzung des Anspruchs ist ein andauernder oder kurz bevorstehender rechtswidriger Eingriff in ein subjektives Recht.
1. hoheitlicher Eingriff
Ein hoheitlicher Eingriff liegt vor (s.o.), ihm kann darüber hinaus sogar Finalität zugesprochen werden, da er ausdrücklich und bewusst die Rechte des S und seiner Familie beschränkt. Ebenso ist vorliegend in subjektive Rechte eingegriffen, jedenfalls in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, da zumindest die Sozialsphäre des S und seiner Familie betroffen ist, die sich nicht unbeobachtet außerhalb der Wohnung bewegen können.
2. Rechtswidrigkeit
Fraglich ist aber zudem, ob der Eingriff auch rechtswidrig ist. Als belastender Eingriff ist vorliegend – schon aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes – eine Ermächtigungsgrundlage erforderlich.
a) § 16a PolG NRW
In Frage kommt hier § 16a PolG NRW – Datenerhebung durch Observation. Die Vorschrift dürfte aber schon ausweislich ihres Regelungsgegenstandes nicht einschlägig sein, denn sie behandelt ausdrücklich nur kurze Observationen, vgl. dazu die Pressemitteilung des OVG Münster:
Zur Begründung führte Präsidentin Dr. Brandts bei der mündlichen Urteilsverkündung aus: § 16a PolG NRW sei zwar keine taugliche Rechtsgrundlage für die langfristige Observation hochgradig rückfallgefährdeter Sexual- und Gewaltstraftäter sowie unvermeidbar Mitbetroffener. Die Vorschrift ermächtige nicht zu derartigen jahrelangen Dauerobservationen, die nicht primär auf eine Datenerhebung zielten. Sie bedürften wegen der erheblichen Dauer und Schwere des Eingriffs einer speziellen, hierauf zugeschnittenen Rechtsgrundlage.
b) § 8 Abs. 1 PolG NRW
Für eine Dauerobservation kommt daher nur die polizeiliche Generalklausel gem. § 8 Abs. 1 PolG NRW in Frage.
Die Maßnahme habe im maßgeblichen Zeitraum jedoch zumindest übergangsweise bei Beachtung strikter Verhältnismäßigkeit auf die polizeiliche Generalklausel gestützt werden können.
Im Hinblick auf die Rechtsfolge – also hier konkret die Observation – ist die Vorschrift anwendbar. Dies gilt auch für die Angehörigen, die hier tatbestandlich – quasi als „Kollateralschaden“ – miterfasst sind. Dazu das OVG in seiner Pressemitteilung:
Die polizeiliche Generalklausel decke hier auch die unvermeidbare Mitbetroffenheit der Kläger als dritte Personen ab. Diese seien nicht gezielt observiert worden.
Im Ergebnis muss hier argumentiert werden, dass es keine spezialgesetzliche Regelung gibt und dass der Gesetzgeber mit § 16a PolG die Observation auch nicht abschließend regeln wollte und den Fall der Dauerobservation so bisher auch nicht gesehen hat. Einschlägig ist damit die Generalklausel als Auffangtatbestand. Gleichwohl muss doch einiges an Begründung aufgewendet werden, um einen derartig schweren Eingriff auf die Generalklausel stützen zu wollen, daher wohl auch der deutliche Hinweis des OVG auf die Verhältnismäßigkeit (dazu sogleich).
Wer hier vertieft nachlesen will: Auch das BVerfG hat sich mit der Problematik befasst; die Verwaltung darf hier auf die Generalklausel zurückgreifen, um auf unerwartete Gefahrenlagen zu reagieren, gleichwohl liegt es in der Verantwortung des Gesetzgebers, eine spezielle Grundlage zu schaffen.
Nicht zu beanstanden ist es allerdings, dass die Verwaltungsgerichte für das Eilrechtsschutzverfahren die polizeiliche Generalklausel im baden-württembergischen Polizeirecht als noch ausreichende Rechtsgrundlage für die dauerhafte Observation des Beschwerdeführers angesehen haben. Zwar ist es zweifelhaft, ob die geltende Rechtslage hinreichend differenzierte Rechtsgrundlagen enthält, die die Durchführung solcher Observationen auf Dauer tragen können. Vielmehr handelt es sich wohl um eine neue Form einer polizeilichen Maßnahme, die bisher vom Landesgesetzgeber nicht eigens erfasst worden ist und aufgrund ihrer weitreichenden Folgen möglicherweise einer ausdrücklichen, detaillierten Ermächtigungsgrundlage bedarf.
aa) formelle Rechtmäßigkeit der Observation
Die Observation ist formell rechtmäßig.
Aber auf den Sachverhalt achten!
bb) materielle Rechtmäßigkeit
Erforderlich ist in materieller Hinsicht eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Diese könnte vorliegend darin liegen, dass hinsichtlich des S eine erhebliche Rückfallwahrscheinlichkeit zu befürchten ist.
Dies muss in der Klausur umfassend mit den Gutachten begründet werden. Auf den Sachverhalt achten! Insbesondere sind die dort angegebenen Umstände und Prognosen nicht in Zweifel zu ziehen, wenn der Sachverhalt hierzu keinen Anlass gibt.
Diesbezüglich besteht jedoch kein Beurteilungsspielraum der Behörde, allerdings gibt der Sachverhalt hier keinen Anlass, an der Aussagekraft und am Aussagewert der Gutachten zu zweifeln. Eine konkrete Gefahr für die Individualrechtsgüter und damit die öffentliche Sicherheit liegt damit vor.
Darüber hinaus müsste die Maßnahme auch verhältnismäßig sein, vgl. dazu die Pressemitteilung des OVG:
[…] bei Beachtung strikter Verhältnismäßigkeit […]
Die Observation dient einem legitimen Zweck, nämlich der Abwehr konkreter Gefahren für Individuen. Fraglich ist, ob die Maßnahme erforderlich ist. Das ist dann der Fall, wenn keine gleich geeignete, aber mildere Maßnahme ersichtlich ist. Hier muss erwähnt werden, dass die einzige, gleich wirksame Maßnahme – die Sicherungsverwahrung – rechtlich ausscheidet. Andere gleich geeignete Maßnahmen sind kaum ersichtlich, will man konkrete Übergriffe durch den S verhindern.
Fraglich ist, ob die Maßnahme angemessen gewesen ist. Hier hat eine Abwägung des öffentlichen Interesses mit den Individualinteressen des S stattzufinden. Mögliche Anknüpfungspunkte, die dem Sachverhalt zu entnehmen sind, wären bspw.:
– Schwere der zu befürchtenden Straftaten
– „Nur“ Betroffenheit der Sozialsphäre
– Keine Wohnraumüberwachung
– Grad der Rückfallwahrscheinlichkeit
Sollten die befürchteten Straftaten besonders schwerwiegend sein, spricht dies in der Abwägung für die Observation. Bezug genommen werden kann hier auf § 66 Abs. 1 StGB, der sich auf bestimmte Straftaten bezieht. Ebenfalls hat die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in die Abwägung einzufließen – hier ist der Sachverhalt auszuwerten. Zudem wird vorliegend nur die Sozialsphäre betroffen, der S und seine Familie haben in der Wohnung immer noch den unberührten Kern der privaten Lebensgestaltung und der Intimssphäre.
Im Übrigen ist der Sachverhalt hier umfassend auszuwerten. Im Ergebnis dürften hier beide Ergebnisse vertretbar sein. Kommt man – wie das OVG im konkreten Fall – zur Rechtmäßigkeit der Maßnahme, scheidet ein Unterlassungsanspruch des S aus.
Anmerkung: Der Familie könnte vorliegend ein Folgenbeseitigungsanspruch zustehen, da die Folgen der rechtmäßigen Überwachung unter Umständen für sie rechtswidrig sein könnten. Andererseits hat das OVG festgehalten, dass die Familienangehörigen quasi miterfasst seien von § 8 PolG, also wohl auch Adressat der Maßnahmen. Im Hinblick hierauf müssen die Urteilsgründe abgewartet werden.
Fazit: Der Fall bietet sich für einen Examensfall (1. sowie 2. Examen) geradezu an. Verwaltungsrechtsweg, Leistungsklage, Unterlassungsanspruch, unbekannte Anspruchsgrundlage, Subsumtion unter § 8 PolG und eine umfassende Abwägung – was will man mehr?
Aus familienrechtlicher Perspektive äußerst zweifelhaft Herr Kollege!
Sehr interessanter Fall ! In der Abwägung wäre ich allerdings für eine RWKT ! Gerade vor dem Hintergrund der Entscheidung zur Sicherungsverwahrung.. Grüße 😉
Näher erörtern müsste man evtl. noch Gefahr, Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht.
Eine Gefahr wird man möglicherweise kaum nachweisen können, weil eine hinreichende sichere Zukunftsverhaltensprognose kaum möglich scheint.
Bei großer Gefahrscheinlichkeit könnte Anscheinsgefahr anzunehmen sein, andernfalls u.U. nur Gefahrenverdacht.
Eine evtl. angemessenere Maßnahme könnte grds. etwa noch freier Aufenthalt nur in einem begrenzten, kontrollierbaren Areal mit geringerer Gefährlichkeit, evtl. u.a. kontroliert durch Fussfessel/ mobilen Bewegunbgsanzeiger o.ä. bei enger kontrolliertem, reglementiertem weitergehendem Aufenthalt sein.
Bei allein Gefahrenverdacht könnten nur vorläufige Einschränkungen und damit weniger strenge Reglentierungen und Kontrollen zulässig sein, wie etwa regelmäßige „Stichproben“, evtl. jedoch in kurzen Intervallen.