BGH: Keine Tricksereien mit der 130 %-Grenze bei der Kfz-Reparatur
Wir freuen uns, (erneut) heute einen Gastbeitrag von Jonas Hensinger veröffentlichen zu können. Der Autor hat in Heidelberg Jura studiert und absolviert aktuell sein Referendariat am LG Stuttgart.
Der BGH hat sich in einer aktuellen Entscheidung (Urt. v. 20.08.2015, VI ZR 387/14) zur Ersatzfähigkeit von Reparaturkosten, die über dem Wiederbeschaffungswert des unfallbeschädigten Kraftfahrzeugs liegen, geäußert. Die damit zusammenhängenden Fragen sind sowohl für das Erste als auch das Zweite Staatsexamen von zentraler Bedeutung, da sich hier anhand von Fällen mit hoher (alltags-)praktischer Bedeutung die grundlegenden Prinzipien des Schadensrechts abprüfen lassen.
I. Sachverhalt
Dem Urteil lag ein Verkehrsunfall zugrunde, bei dem die Einstandspflicht des Beklagten außer Streit stand. Der Sachverständige hatte die Reparaturkosten mit 2.000 € veranschlagt, den Wiederbeschaffungswert mit 1.000 € und den Restwert mit 500 € (Zahlen vereinfacht). Die Klägerin ließ den Wagen für 1.300 € reparieren, wobei bei der Reparatur entgegen den Vorgaben des Sachverständigen Gebrauchtteile verwendet wurden und von einem Austausch beschädigter Zierleisten abgesehen wurde. Der Beklagte zahlte an die Klägerin einen Betrag von 500 €. Mit seiner Klage macht der Kläger den Ersatz weiterer 800 € geltend.
II. Einführung in die Probleme
Nach § 249 Abs. 1 BGB ist der Schaden grundsätzlich durch Naturalrestitution auszugleichen, wobei bei der Beschädigung einer Sache gem. § 249 Abs. 2 BGB statt der Naturalrestitution auch Geldersatz verlangt werden kann. Für die Naturalrestitution gibt es zwei Alternativen: Reparatur oder Anschaffung einer gleichwertigen Ersatzsache. Dabei hat der Geschädigte nach dem Gebot der Wirtschaftlichkeit grundsätzlich diejenige Alternative zu wählen, die den geringeren Aufwand erfordert.
Der geschädigte Kfz-Eigentümer bevorzugt in der Regel eine Reparatur, um den ihm vertrauten Wagen behalten zu können (Stichwort: „Integritätsinteresse”). Der BGH kommt diesem Wunsch bei Kfz-Eigentümern ausnahmsweise entgegen, indem er dem Geschädigten die Reparatur auch dann erlaubt, wenn deren Kosten ein wenig über den Kosten für die Anschaffung eines vergleichbaren Kfz liegen. Dies hat dazu geführt, dass viele Geschädigte versuchen, die Reparaturkosten auf „Gutachtenbasis” abzurechnen, um nicht nur den meist sehr viel geringeren Betrag zu erhalten, der zur Beschaffung eines Ersatzfahrzeugs nötig wäre. Der BGH schränkt diese Möglichkeit ein, indem er drei Ausgangsfragen stellt:
- Wie verhalten sich die vom Gutachter geschätzten Reparaturkosten zu den Kosten einer Ersatzbeschaffung: Ist die Reparatur billiger, nur unwesentlich teurer oder wesentlich teurer?
- Hat der Geschädigte sein Fahrzeug vollständig und fachgerecht reparieren lassen oder nur teilweise – oder hat er ganz auf eine Reparatur verzichtet?
- Hat der Geschädigte das Fahrzeug nach dem Unfall sechs Monate selbst genutzt (Sechsmonatsfrist) und damit sein besonderes Interesse bekundet, gerade diesen ihm vertrauten Wagen zu fahren?
Unter Berücksichtigung dieser drei Ausgangsfragen hat der BGH das folgende Vier-Stufen-Modell entwickelt (zur Erläuterung: Unter Wiederbeschaffungsaufwand ist die Differenz von Wiederbeschaffungswert und Restwert des Kfz zu verstehen. Der Wiederbeschaffungswert ist der objektive Marktwert des Kfz unmittelbar vor Eintritt des unfallbedingten Schadens.)
- Reparaturaufwand geringer als Wiederbeschaffungsaufwand (hier: unter 500 €)
Hier kann der Geschädigte wahlweise die konkret entstandenen oder (wenn das Kfz nicht repariert wird) die fiktiven Reparaturkosten verlangen. Dabei kommt es weder darauf an, ob die Reparatur fachgerecht und vollständig erfolgt ist noch darauf, ob der der Geschädigte das Kfz nach dem Unfall tatsächlich weiterbenutzt hat.
- Reparaturaufwand zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert (hier: zwischen 500 € und 100 €)
Wenn der Geschädigte das Kfz noch mindestens sechs Monate nach dem Unfall weiterbenutzt hat, ergeben sich keine Unterschiede zur ersten Fallgruppe. Erst wenn dies nicht der Fall ist und die Reparatur zudem nicht fachgerecht und vollständig durchgeführt wurde, kann der Geschädigte lediglich den Wiederbeschaffungsaufwand verlangen.
- Reparaturaufwand zwischen Wiederbeschaffungswert und weiteren 30 % (hier: zwischen 1.000 € und 1.300 €)
Hier kann der Geschädigte die Reparaturkosten nur noch dann ersetzt verlangen, wenn die Reparatur vollständig und fachgerecht durchgeführt wurde und der Geschädigte das Kfz noch mindestens sechs Monate nach dem Unfall weiterbenutzt hat. In allen anderen Fällen bleibt es bei der ausschließlichen Ersatzfähigkeit des Wiederbeschaffungsaufwands.
- Reparaturaufwand oberhalb der 130 %-Grenze (hier: über 1.300 €)
In jedem Fall ist nur der Wiederbeschaffungsaufwand ersatzfähig.
III. Lösung des BGH
Unter Berücksichtigung der dargestellten Grundsätze wendet der BGH im vorliegenden Fall die vierte Fallgruppe an und weist die Klage vollständig ab. Für die Bemessung des Reparaturaufwandes legt er bei einer ex-ante-Betrachtung die vom Sachverständigen festgestellten Reparaturkosten in Höhe von 2.000 € zugrunde. Diese überschreiten den Wiederbeschaffungswert von 1.000 € um mehr als 130 %. Einer ex-post-Betrachtung auf Grundlage der tatsächlich angefallenen Reparaturkosten von 1.300 € (130 % des Wiederbeschaffungswerts; dritte Fallgruppe) erteilt er für den Fall, dass die Reparatur wie vorliegend nicht nach den Vorgaben des Sachverständigengutachtens durchgeführt wurde, auf der Linie seiner bisherigen Rechtsprechung eine deutliche Absage. In diesem Fall kann der Geschädigte nur den Wiederbeschaffungsaufwand (vorliegend: 500 €) verlangen.
Lässt der Geschädigte sein Kfz dennoch reparieren, so kann er die ex ante festgestellten Reparaturkosten (2.000 €) auch nicht in einen vom Schädiger auszugleichenden vernünftigen (1.300 €) und einen vom Geschädigten selbst zu tragenden wirtschaftlich unvernünftigen Teil (700 €) aufspalten („Aufspaltungsverbot“). Er bleibt dann auf den über den Wiederbeschaffungswert hinausgehenden Reparaturkosten sitzen.
Die spannende und noch ungeklärte Frage, ob der Geschädigte, dem es auch unter Berücksichtigung des vom Sachverständigen für erforderlich gehaltenen Reparaturumfangs gelingt, die Reparatur entgegen der Sachverständigenprognose innerhalb der 130 %-Grenze durchzuführen, Ersatz von über dem Wiederbeschaffungswert liegenden Reparaturkosten verlangen kann, lässt der BGH wiederum offen.
IV. Fazit
Die Entscheidung des BGH ist zu begrüßen. Der Kläger konnte vorliegend nur den Wiederbeschaffungsaufwand in Höhe von 500 € verlangen. Um den nach der BGH-Rechtsprechung maximal möglichen Betrag von 1.300 € zugesprochen zu bekommen, hat er sich auf eine aus der maßgeblichen ex ante-Sicht des Sachverständigen unvernünftige Reparatur eingelassen, die unter Berücksichtigung der Verkehrssicherheit und des schadensrechtlichen Wirtschaftlichkeitsgebots nicht befürwortet werden konnte. Das BGH-Urteil wirkt abschreckend, da der Kläger nicht nur auf Reparaturkosten in Höhe von 800 € sitzen bleibt, sondern auch auf einem Fahrzeug, das mit Gebrauchtteilen versehen wohl nicht mehr annährend den Wert des Fahrzeugs im früheren Zustand erreicht.
Zu guter Letzt noch eine Eselsbrücke, mit der die vom BGH aufgestellten Grundsätze bei der Fallbearbeitung in Erinnerung zu rufen und in der richtigen Reihenfolge zu prüfen sind:
ein verunfalltes Kfz
zwei Alternativen der Naturalrestitution
drei Ausgangsfragen des BGH
Vier-Stufen-Modell
Tolles Beitrag! Schön verständlich geschrieben. Um Verwirrung vorzubeugen muss es aber auf Stufe Zwei 1000 € und nicht 100 € heißen
Die Eselsbrücke gefällt mir besonders gut.
Danke für den Beitrag. Laut Palandt kommt es im zweiten Abschnitt erst auf eine 6 monatige Weiternutzung an, wenn fiktive Abrechnung begehrt wird § 249, Rn. 24.
Nachdem das mit den Zahlen von 1 bis 4 inzwischen gut gelernt scheint, kann sich nun wohl dem Erlernen der weiteren Zahlen bis10 zuzuwenden sein.