Emmely greift um sich – Änderung der Rechtsprechungspraxis zur außerordentlichen Kündigung?
Über die ersten Auswirkungen des Emmely-Urteils wurde bereits berichtet (vgl. beck-blog v. 6.8.2010). Jetzt scheinen sich auch die Gerichte der neuen Linie des BAG anzupassen. Über einen Fall vor dem LAG Berlin-Brandenburg wurde bereits berichtet. Nun hat auch das LAG Hamm eine Bagatellkündigung für unwirksam erklärt (Urteil v. 4.11.2010 – 8 Sa 711/10, hier die Pressemitteilung, hier der Bericht bei beck aktuell. Die folgende Darstellung beruht auf der Schilderung in der Pressemitteilung).
Einem Mitarbeiter des Studentenwerkes Bochum wurde gekündigt, weil er angeblich Pommes Frittes und insgesamt vier Frikadellen gestohlen haben soll. Zunächst nahm er beim Durchgang durch die Mensa Pommes Frittes und zwei Frikadellen an sich. Er wurde von einem Vorgesetzten auf die Unzulässigkeit seines Tuns aufmerksam gemacht. Daraufhin nahm der Mitarbeiter weitere zwei Frikadellen an sich und begab sich in einen Pausenraum. Der Vorgesetzte forderte ihn unmittelbar danach zu einem Gespräch auf, zu dem er sich jedoch nur unter Hinzuziehung eines weiteren Vorgesetzen bereit fand.
Das Studentenwerk Bochum kündigte dem Arbeitnehmer fristlos, gestützt auf den Diebstahl, hilfsweise einen Diebstahlsverdacht, und die Weigerung, der Anweisung des Vorgesetzen zum Gespräch zu folgen.
Das LAG Hamm hält die Kündigung für unwirksam:
„Auch wenn man das Vorbringen der Beklagten als wahr unterstellt, ist die Kündigung unwirksam.
Das Gericht ist zunächst davon ausgegangen, dass der behauptete Verzehr der Pommes frites und der Frikadellen im vorliegenden Fall keinen wichtigen Grund für die fristlose Kündigung darstellen könne. Dabei sind insbesondere die 19-jährige Betriebszugehörigkeit und der Umstand, dass der Kläger nach den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes nur noch außerordentlich kündbar ist, zu berücksichtigen. Aber auch die von der Beklagten vorgetragene Weigerung des Klägers ins Büro zu kommen, kann die fristlose Kündigung nicht rechtfertigen. Als milderes Mittel hätte zunächst eine Abmahnung ausgesprochen werden müssen, die dem Kläger als letzte Warnung die Möglichkeit gegeben hätte, das behauptete Verhalten zu überdenken.“
Das Urteil ist interessant, weil es die mit dem „Paradigmenwechsel“, den der Fall Emmely nach Sicht vieler Beobachter gebracht hat, verbundenen Unwägbarkeiten aufzeigt. Zur kritischen Diskussion in der mündlichen Prüfung eignet es sich M.E. recht gut. Man kann selbstverständlich der Entscheidung des LAG Hamm folgen und liegt damit im akutellen Trend. Man kann aber auch dagegen argumentieren:
– Anders als in den Fällen, in denen dem Arbeitgeber kein Vermögensschaden entstand, etwa weil ohnehin wegzuwerfende Maultauschen gegessen wurden, ist hier ein meßbarer (Vermögens-)Schaden entstanden. Und er liegt durchaus im Bereich von einigen Euro (man vergleich die Preise in der eigenen Mensa), nicht etwa im Cent-Bereich wie beim Aufladen von Handys im Büro. Beim Fall Emmely ist die Frage der Schädigung nicht ganz klar. Man kann zumindest darauf verweisen, dass der Arbeitgeber die Pfandbons normalerweise ohnehin hätte einlösen und den entsprechenden Betrag hätte bezahlen müssen.
– Das ArbG Bochum hatte entscheidend darauf abgestellt, dass möglicherweise kein Diebstahl vorlag, weil der Vorgesetze jederzeit hätte einschreiten können (vgl. dazu die Pressemitteilung zur Ankündigung der Entscheidung). Kann das einen Unterschied machen? Wohl kaum. Es kommt für die außerordentliche Kündigung darauf an, ob ein wichtiger Grund vorliegt. Der wichtige Grund liegt nicht eigentlich darin, dass der Arbeitnehmer den Arbeitgeber (marginal) geschädigt hat, sondern dass er die Vertrauensgrundlage des Vertrages gestört hat und es dem Arbeitgeber nicht zumutbar ist, den Vertrag ohne dies Grundlage fortzusetzen.
Vgl. BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09 Leitsatz 2 und auch Rn. 27:
Das Gesetz kennt auch im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen des Arbeitnehmers keine absoluten Kündigungsgründe. Es bedarf stets einer umfassenden, auf den Einzelfall bezogenen Prüfung und Interessenabwägung dahingehend, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses trotz der eingetretenen Vertrauensstörung – zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht.
Es kommt also bei der Prognoseentscheidung primär auf das Vertrauen an. Ist das stärker geschädigt, wenn der Arbeitnehmer etwas heimlich tut oder wenn er sogar in Anwesenheit seines Vorgesetzten Regeln bricht? Man kann hier in beide Richtungen argumentieren. Einerseits ist es natürlich noch wichtiger, dass der Arbeitnehmer dort, wo er nicht kontrolliert wird, Regeln einhält; kann man das aber andererseits von jemand erwarten, der schon bei Anwesenheit des Chefs sich nicht daran hält?
Im Fall Emmely hat das BAG darauf verwiesen, dass die Vorgesetzte das Verhalten von Frau Emme hingenommen hatte oder zumindest nicht eingeschritten ist, obwohl sie erkennen musste, was Frau Emme tat (Rn. 45):
Für den Grad des Verschuldens und die Möglichkeit einer Wiederherstellung des Vertrauens macht es objektiv einen Unterschied, ob es sich bei einer Pflichtverletzung um ein Verhalten handelt, das insgesamt – wie etwa der vermeintlich unbeobachtete Griff in die Kasse – auf Heimlichkeit angelegt ist oder nicht.
Im vorliegenden Fall kann man jedoch sagen, dass es nicht besser sein kann, wenn der Arbeitnehmer sogar entgegen der ausdrücklichen Anweisung eines Vorgesetzten handelt. Im Fall der Frau Emme war die Vorgesetzte eben nicht eingeschritten.
– Im Hinblick auf die Prognoseentscheidung ist noch zu beachten, dass derArbeitnehmer ordentlich unkündbar war nach dem anwendbaren Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst. Deshalb kann es zu einer Verschiebung der Betrachtungsmaßstäbe kommen: Bei Dauertatbeständen oder Vorfällen mit Wiederholungsgefahr kann die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber wegen des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung dagegen eher unzumutbar sein als bei einem ordentlich kündbaren Arbeitnehmer (s. MüKoBGB/Henssler, 5. Aufl. 2009, § 626 Rn. 114).
Kleiner Exkurs: Ordentlich unkündbare Arbeitnehmer können nur außerordentlich nach § 626 Abs. 1 BGB gekündigt werden. Diese Kündigung ist fristlos. Bei ordentlich kündbaren Arbeitnehmer ist deshalb nach dem Ultima-Ratio-Prinzip nur zulässig, wenn dem Arbeitgeber noch nicht einmal das Abwarten der ordentlichen Kündigungsfrist zugemutet werden kann. Bei „unkündbaren“ Arbeitnehmer besteht diese Alternative nicht. Was ist also, wenn ihr Fehlverhalten bei einem normalen Arbeitnehmer nicht für eine außerordentliche, wohl aber für eine ordentliche Kündigung reichen würde? Dann erlaubt die Rspr. auch hier die außerordentliche Kündigung, allerdings verbunden mit einer „Auslauffrist“, die der ordentlichen Kündigungsfrist entspricht.
Für die Frage, ob einem unkündbaren Arbeitnehmer nach § 626 Abs. 1 BGB verhaltensbedingt gekündigt werden kann, muss man also mit einem ordentlich kündbaren Arbeitnehmer vergleichen. Kann diesem fristlos außerordentlich gekündigt werden, dann auch dem unkündbaren. Kann jenem dagegen nur „normal“ gekündigt werden, dann diesem dennoch außerordentlich, aber mit der üblichen Kündigungsfrist entsprechender Auslauffrist.
Im Einzelfall ist jedoch dann noch eine etwas andere Abwägung vorzunehmen, weil die Tatsache der Unkündbarkeit sowohl zu Gunsten wie auch zu Lasten des unkündbaren Arbeitnehmers in die Abwägung einfließen können (vgl. auch dazu MüKoBGB/Henssler, 5. Aufl. 2009, § 626 Rn. 111ff.)
– Bereits die Weigerung, Weisungen zu befolgen, kann einen Kündigungsgrund darstellen.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!