Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet
Vorgestern hat die Kommission drei Vertragsverletzungsverfahren gegen den EU-Mitgliedsstaat Ungarn eingeleitet, wie beck-aktuell (v. 18.1.2012) berichtet. Es geht um mögliche Verstöße gegen EU-Recht durch jüngere Gesetzesänderungen in Ungarn. Die Kommission sieht die Unabhängigkeit der Zentralbank des Landes, der Datenschutzbehörde und die Nichtdiskriminierung von Richtern gefährdet.
Dieser Artikel wirft einen kurz Blick auf die konkreten Vorwürfe, aber insbesondere auf das Vertragsverletzungsverfahren. Die materiellen Vorwürfe gegen Ungarn kann man eher in die Rubrik „juristische Allgemeinbildung“ ohne Prüfungsrelevanz einordnen, das Vertragsverletzungsverfahren sollte aber gerade für die mündliche Prüfung bekannt sein. Insofern mögen die aktuellen Geschehnisse manchem Prüfer Anlass geben, es abzuprüfen.
Die materiellen Fragen
- Unabhängigkeit der Zentralbank – Hier ist die Lage eindeutig: Nach Art. 130 AEUV müssen (auch) die nationalen Zentralbanken unabhängig sein.
- Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde – Diese ist in Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr geregelt. Nach Art. 28 Abs. 1 UAbs. 1 sehen die Mitgliedstaaten vor, daß eine oder mehrere öffentliche Stellen beauftragt werden, die Anwendung der von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen einzelstaatlichen Vorschriften in ihrem Hoheitsgebiet zu überwachen. Nach UAbs. 2 „nehmen diese Stellen „die ihnen zugewiesenen Aufgaben in völliger Unabhängigkeit wahr“.
- Nichtdiskriminierung von Richtern – Hier geht es um Altersgrenzen. Diese unterfallen dem europäischen Diskriminierungsrecht, insbesondere der Richtlinie 2000/78/EG (RL zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ). Sie ist auch auf Richter anwendbar, vgl. Art. 3 Abs. 1. Gleichzeitig wird durch die Richtlinie auch der Anwendungsbereich der primärrechtlichen Diskriminierungsverbote gem. Art. 51 Abs. 1 („Durchführung des Unionsrechts“) eröffnet (vgl. Pötters/Traut, ZESAR 2010, 267, 268ff. – bei juris im Volltext). In Art. 21 GRC ist ein solches ausdrücklich geregelt; es gilt gleichzeitig auch als ungeschriebener Grundsatz des Unionsrechts (vgl. EuGH v. 22. 11. 2005, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold)).
Das Vertragsverletzungsverfahren
Das Vertragsverletzungsverfahren ist in Art. 258f. AEUV geregelt. Es existiert in zwei Formen: Nach Art. 258 kann die Kommission einen Mitgliedsstaat wegen der Verletzung der Verträge verklagen; nach Art. 259 AEUV kann ein Mitgliedsstaat gegen den anderen wegen einer Verletzung der Verträge klagen.
Vorliegend geht es um eine Klage der Kommission, also um ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV. Dieser lautet:
Hat nach Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen, so gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab; sie hat dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben.
Kommt der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission den Gerichtshof der Europäischen Union anrufen.
A. Zulässigkeit
[Anm: Die Kommission kann, muss aber nicht das Verfahren einleiten vgl. Art. 258 Abs. 2 AEUV. Es besteht also kein Automatismus.]
I. Parteifähigkeit
[Beachte: Man spricht von Parteifähigkeit, weil es um ein kontradiktorisches Verfahren geht.] Klagen kann nach Art. 258 AEUV nur die Kommission, Beklagter kann nur ein Mitgliedsstaat sein.
II. Gegenstand der Klage: Vertragsverletzung
Gegenstand der Klage kann nur eine Vertragsverletzung durch einen Mitgliedsstaat sein. Nach dem Wortlaut könnte man der Ansicht sein, es seien nur die Verträge, also das Primärrecht, wohl auch die GRC, gemeint; nicht erfasst wäre dann grundsätzlich Verstöße gegen Sekundärrecht. Die ganz hM legt den Begriff „Verpflichtung aus den Verträgen“ jedoch sehr weit aus und fasst hierunter das gesamte Unionsrecht, also auch das Sekundärrecht (vgl. Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 258 Rn. 33 mw.N.).
Im Ergebnis ist dem schon deshalb zuzustimmen, weil zahlreichen primärrechtlichen Normen eine Scharnierfunktion zukommt: Weil sie zur Einhaltung des Sekundärrechts verpflichten, stellt ein Verstoß gegen dieses gleichzeitig ein Verstoß gegen das primärrechtliche Gebot, das Sekundärrecht zu beachten, dar. Hierher gehört insbesondere das Gebot der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) oder auch die Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien aus Art. 288 Abs. 3 AEUV.
Dazu Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 258 Rn. 27:
Im Vertragsverletzungsverfahren sind nur staatliche Vertragsverstöße zulässiger Klagegegenstand. Als Urheber kommen dabei sämtliche Einrichtungen des betreffenden Mitgliedstaates in Betracht. Dazu zählen Verfassungsorgane ebenso wie (untergeordnete) Behörden; gerügt werden kann das Verhalten der Zentralgewalt sowie ihrer staatlichen Untergliederungen. Das Verhalten Privater kann die Kommission im Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV grundsätzlich nicht rügen. Anderes gilt, wenn einem Mitgliedstaat entscheidender Einfluß auf das Verhalten Privater zukommt.
III. Durchführung des zweistufigen Vorverfahren
Vor der Klageerhebung muss ein zweistufiges Vorverfahren durchlaufen worden sein: Die Kommission hat zunächst dem Staat durch ein informelles „Mahnschreiben“ („warning letter“, „lettre de mise en demeure“ vgl. Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 258 Rn. 6) Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (Art. 258 Abs. 1 Hs. 2 AEUV). Dann gibt die Kommission die mit Gründen versehene Stellungnahme ab (Art. 258 Abs. 1 Hs. 1 AEUV). Erst wenn der Staat dieser Stellungnahme nicht nachkommt, kann die Kommission den Gerichtshof anrufen (Art. 258 Abs. 2 AEUV).
Vorliegend befindet sich das Verfahren noch in der ersten Stufe des Vorverfahrens, also der informellen Äußerung. Die Kommission hat Ungarn dafür eine Frist von einem Monat gesetzt, wie sich aus dem oben zitierten Bericht von Beck-Aktuell ergibt.
IV. Klagebefugnis?
Eine Klagebefugnis ist schon nach dem klaren Wortlaut nicht erforderlich. Sie widerspräche auch dem Zweck des Verfahrens, der die objektiv-rechtliche Durchsetzung des Unionsrechts ist. Es ermöglicht der Kommission ihrer Aufgabe als „Hüterin der Verträge“ (vgl. Art. 17 Abs. 1 S. 2-3 EUV) nachzukommen.
Ein Rechtsschutzbedürfnis ist ebenfalls grundsätzlich nicht erforderlich. Allerdings war strittig, ob nicht ausnahmsweise die Klage unzulässig wird, wenn dem Verstoß seit der zwischen Ablauf der Äußerungsfrist im Vorverfahren und der Klageerhebung bzw. mündlicher Verhandlung abgeholfen wird. Die neuere Rspr. verneint dies aber. M.E. wegen der Funktion, objektiv das Unionsrecht durchzusetzen, zu Recht (Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 258 Rn. 31).
B. Begründetheit
Die Klage ist begründet, wenn der Mitgliedsstaat (innerhalb des von der Kommission vorgebrachten Streitgegenstandes) gegen das Unionsrecht verstoßen hat.
C. Urteil
Ist die Klage begründet, spricht der EuGH aus, wie die Vertragsverletzung zu beseitigen ist (Art. 260 Abs. 1 AEUV). Kommt der Mitgliedsstaat dieser Anordnung nicht nach, kann ein Ordnungsgeld festgesetzt werden (Art. 260 Abs. 2 AEUV). Die Möglichkeit, nach Art. 7 Abs. 3 EUV, die Rechte des Mitgliedsstaates aus den Verträgen zu suspendieren, steht daneben. Allerdings wird eine normale Vertragsverletzung hierfür kaum ausreichen.
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