Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Nina Alizadeh Marandi, LL.M. veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Rechtsreferendarin am OLG Hamburg und in der Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg tätig.
I. Hintergrund
Wie die Berichte der Kommission zur Rechtsstaatlichkeit von September 2020 und Juli 2021 zeigen, ist die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten trotz generell hoher Standards kein unantastbares Gut. Neben Defiziten in der Medienfreiheit und des Medienpluralismus in Ungarn hat sich auch die Situation in Polen mit Blick auf die Unabhängigkeit der Justiz systematisch verschlechtert. Die polnische Regierung begann 2015 eine schrittweise Justizreform und verfolgte damit das Ziel einer stärkeren Kontrolle der Politik über die Gerichte. Die Rechtsstaatskrise der EU fand darauf einen weiteren Höhepunkt in einer Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts (Tribunal Konstytucyjny, 07.10.2021 – K 3/21), welches sich am 07.10.2021 gegen den Anwendungsvorrang des Unionsrechts ausspricht, und damit einen der Grundpfeiler der europäischen Rechtsunion antastet.
Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht ist im Lissabon-Vertrag nicht verbindlich geregelt. Lediglich die rechtlich unverbindliche Erklärung Nr. 17 statuiert, dass „die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.“ Ungeachtet einer fehlenden verbindlichen normativen Verankerung geht der EuGH von einem umfassenden Anwendungsvorrang des gesamten unmittelbar anwendbaren Primär- und Sekundärrechts vor dem nationalen Recht aus (EuGH, 15.07.1964 – 6/64, Costa/ENEL). Dieser Grundsatz ist von allen mitgliedstaatlichen Stellen zu beachten. Nationale Gerichte, die mit einem Konflikt zwischen nationalem und EU-Recht konfrontiert sind, haben nach der Rechtsprechung des EuGH damit das EU-Recht anzuwenden. Bei Zweifeln müssen die Gerichte in einem Vorabentscheidungsverfahren den EuGH anrufen. Dieser hat nach Art. 19 I 2 EUV die Anwendungs- und Auslegungshoheit über das Unionsrecht. Hiernach sind seine Entscheidungen bindend und auf nationaler Ebene unantastbar. Damit gewährleistet der Anwendungsvorrang eine einheitliche Auslegung und Anwendung der europäischen Regelungen.
Grundsätzlich stand der Anwendungsvorrang in den Mitgliedstaaten bislang nicht in Frage, auch wenn nur wenige das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht ausdrücklich kodifiziert haben. Entgegen der Rechtsprechung des EuGH wird jedoch der Vorrang des Unionsrechts insbesondere gegenüber nationalem Verfassungsrecht in den Mitgliedstaaten nur unter Vorbehalten anerkannt. Hierbei wird regelmäßig auf die in Art. 4 II 1 EUV anerkannte mitgliedstaatliche Souveränität verwiesen, die bei fortschreitender Integration nach dieser Ansicht nur gewahrt werden kann, wenn die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten unantastbar sei. In einer BVerfG-Auflistung vom Juni 2021 werden neben Deutschland und Polen auch Dänemark, Belgien, Estland, Frankreich, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Spanien und Tschechien als Mitgliedstaaten genannt, die Vorbehalte gegen den Anwendungsvorrang des Unionsrechts geäußert haben (BVerfG, 23.06.2021 – 2 BvR 2216/20, Rn 74.).
In der Ermittlung der Kompetenzverhältnisse zwischen Union und Mitgliedstaaten spielen die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte eine wichtige Rolle. Als zentraler Taktgeber fungiert hierbei das BVerfG, welches von einem Vorrang des Unionsrechts ausgeht, jedoch nur in Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten der EU eine Kompetenz eingeräumt haben. Mit Einführung der Verfassungsidentitätskontrolle (BVerfG, 30.06.2009 – 2 BvE 2, 5/08, Lissabon Entscheidung) und ultra-vires-Kontrolle (BVerfG, 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92, Maastricht Entscheidung; BVerfG, 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06, Honeywell Entscheidung) beansprucht das BVerfG die Kontrolle über die in Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 III GG kodifizierten Kernelemente der deutschen Verfassung und über die Frage, inwieweit der EU im konkreten Fall Kompetenzen übertragen wurden, für sich. Dies begründet Karlsruhe damit, dass der EuGH andernfalls die Kompetenz hätte, seinen eigenen Kompetenzrahmen festzulegen. Eine sogenannte Kompetenz-Kompetenz lehnt das BVerfG ab und behält sich damit selbst gerichtliche Kontrollkompetenzen in Bezug auf unionale Rechtsakte vor. Während diese Werkzeuge durch eine restriktive und „europarechtsfreundliche Ausübung lange keine offenen Konflikte mit dem Unionsrecht hervorriefen, hat Karlsruhe in den letzten Jahren die Autorität des EuGH in Frage gestellt und 2020 erstmalig einen Akt ultra-vires festgestellt (BVerfG, 05.05.2020 – BvR 859/15, PSPP-Urteil).
II. Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des polnischen Verfassungstribunals
1. Die ultra-vires Kontrolle des BVerfG
In einem Beschluss vom 18.06.2017 hat das BVerfG dem EuGH mehrere Fragen zum Anleihenkaufprogramm der EZB im Rahmen einer Vorabentscheidung mit Verweis auf das Verbot monetärer Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I EUV, Artt. 119, 127 ff. AEUV) vorgelegt. Der EuGH qualifizierte die Beschlüsse der EZB im Rahmen des Public Purchase Programm (PSPP) als rechts- und kompetenzmäßig (EuGH, 11.12.2018 – C-493/17). Dennoch hat das BVerfG in seiner PSPP-Entscheidung vom 05.05.2020 den Verfassungsbeschwerden stattgegeben und das Anleihenkaufprogramm der EZB und die Entscheidung des EuGH als Akt ultra-vires gekennzeichnet. Einen Verstoß gegen Art. 123 AEUV verneinte das BVerfG.
Inhaltlich moniert das BVerfG die fehlende Beachtung tatsächlicher Wirkungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere für Immobilienkäufer*innen und Sparer sowie den Verzicht auf eine wertende Gesamtbetrachtung. Zudem habe der EuGH sich in seiner Prüfung auf offensichtliche Verstöße und Bearbeitungsfehler durch die EZB beschränkt. Das BVerfG stellt dazu fest, dass der mit der Funktionszuweisung des Art. 19 I 2 EUV verbundene Rechtsprechungsauftrag des EuGH dort endet, wo eine Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist. Die sich aus der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG ergebenden engen Kriterien der ultra-vires-Kontrolle (hinreichend qualifizierter Kompetenzverstoß, der ein offensichtliches kompetenzwidriges Handeln der Unionsgewalt und eine strukturell bedeutsame Verschiebung innerhalb des Kompetenzgefüges zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen voraussetzt) sind aus Sicht des BVerfG in diesem Fall erfüllt.
Die Kommission erklärte, das BVerfG habe mit seiner Entscheidung gegen die Autonomie, den Anwendungsvorrang, die Effektivität und den Grundsatz der einheitlichen Anwendbarkeit und damit gegen grundlegende Prinzipien des Unionsrechts verstoßen. Zudem habe das BVerfG mit seiner Entscheidung einem Urteil des EuGHs seine Rechtswirkung abgesprochen und damit in dessen in Art. 19 EUV i.V.m. Art. 267 AEUV kodifizierten Rechtsprechungsmandat eingegriffen. Am 09.06.2021 wurde auf dieser argumentativen Grundlage ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet.
2. Das polnische Verfassungstribunal
Auf diese und vorangegangene Entscheidungen aus Karlsruhe berufen sich eine Vielzahl nationaler Verfassungsgerichte implizit oder explizit, so zuletzt das polnische Verfassungstribunal in seiner Entscheidung vom 07.10.2021. Das polnische Justizsystem wurde seit Amtsantritt des Regierungschefs Morawiecki 2015 in einer vielkritisierten Reform systematischen Änderungen unterzogen. So urteilte der EGMR am 07.05.2021 (EGMR, 07.05.2021 – 4907/18, Case of Xero Flor v Poland), dass das polnische Verfassungstribunal bereits 2015 durch ein nicht rechtskonformes Verfahren besetzt wurde.
Eben dieses Verfassungstribunal forderte Regierungschef Morawiecki auf, eine Entscheidung des EuGH (EuGH, 02.03.2021 – C-824/1), welche die polnische Justizreform betraf, auf seine Kompatibilität mit dem polnischen Verfassungsrecht zu prüfen. In seinem Urteil vom 02.03.2021 hatte der EuGH festgestellt, dass Mitgliedstaaten durch Unionsrecht gezwungen sein können, selbst nationales Verfassungsrecht außer Acht zu lassen. Die polnischen Richter*innen entschieden im Urteil vom 07.10.2021, der EuGH könne nicht über die polnische Justiz urteilen:
Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen (…) die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibt.
Mit dieser Entscheidung haben Artt. 1 und 19 EUV nicht länger Vorrang vor der polnischen Verfassung. Damit muss die polnische Regierung die Urteile des EuGH, der die polnische Justizreform regelmäßig als nicht europarechtskonform gekennzeichnet hat, nicht mehr umsetzen. Kernstück der Entscheidung ist mithin Polens staatliche Souveränität und rechtliche Autorität.
Eine Einmischung der EU-Organe in das polnische Justizwesen läge, aus Sicht der polnischen Richter‘*innen, außerhalb der Grenzen ihrer Kompetenz. Nach dieser Argumentationslinie hat die EU auch keine Kompetenz, finanzielle Sanktionen bezüglich der Justizreform gegen Polen zu verhängen. Eben solche hat die Kommission im Streit um die polnische Disziplinarkammer gefordert und der EuGH am 27.10.2021 verhängt. Polen hat hiernach, bis zur Einstellung der Tätigkeiten der Disziplinarkammer, täglich eine Strafe in Höhe von einer Million Euro zu zahlen.
III. Stellungnahme
Während einige Stimmen das viel kritisierte polnische Urteil mit dem Urteil des BVerfG vom 20.05.2020 gleichsetzen, wird von anderer Seite argumentiert, dass das BVerfG lediglich ausnahmsweise und ausdrücklich auf den Einzelfall beschränkt einen Sekundärrechtsakt einer EU-Institution für ultra-vires erklärt hat. Die Kommission hält das PSPPR-Urteil hingegen für „einen ernstzunehmenden Präzedenzfall sowohl für die künftige Praxis des Gerichts selbst als auch für die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten“.
Das BVerfG hat noch nie grundsätzlich den Vorrang des EU-Primärrechts angegriffen und mit diesem Grundsatz auch in dieser Entscheidung nicht gebrochen. Karlsruhe begründete substantiiert, weshalb es nicht an die Entscheidung des EuGH gebunden sei und hob den Ausnahmecharakter dieser Entscheidung mehrmals unter Verwendung diplomatischer Formulierungen hervor. So fordert Karlsruhe, Spannungslagen seien „kooperativ auszugleichen” und „durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen“.
Die Richter*innen aus Karlsruhe argumentieren fallbezogen und sachlich, und kündigen keinen grundsätzlichen systematischen Paradigmenwechsel an. Es kann mithin behauptett werden, das BVerfG habe den EuGH lediglich dafür kritisiert, mit Blick auf das Anleiheprogramm keine hinreichende Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt zu haben. Um eine Frage des Anwendungsvorrangs habe sich der Streit nicht gedreht. Vielmehr habe Karlsruhe mehr und nicht weniger Kontrolle durch den EuGH gefordert.
Das polnische Verfassungsgericht geht im Oktober deutlich weiter als das BVerfG oder andere Höchstgerichte, die Vorbehalte gegen den Anwendungsvorrang geäußert haben. Es werden nicht punktuelle Aspekte europaschonend infrage gestellt, sondern mehrere Bestimmungen generell für verfassungswidrig erklärt.
Dennoch haben sich beide Gerichte die Kompetenz verliehen, über die juristische Qualität oder generelle Richtigkeit von EuGH-Entscheidungen zu urteilen und zu abweichenden Ergebnissen bezüglich der Einhaltung von Unionsrecht durch Unionsinstitutionen zu gelangen. Da die Verträge nach Art. 19 I 2 EUV einen Auslegungsvorbehalt des EuGH vorsehen und ihn zum wachenden Organ über die Anwendung der Verträge erklären, bedeutet auch ein Außerachtlassen seiner Entscheidungen eine Abwendung vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Wenn sich das BVerfG anmaßen kann, den Urteilen des EuGH nur Folge zu leisten, wenn sie seinen juristischen Qualitätsansprüchen genügen, lässt sich schwerlich begründen, weshalb einem anderen mitgliedstaatlichen Verfassungsgericht ein ähnliches Vorgehen verwehrt bleiben soll. Inwieweit in diesem Rahmen die Frage der „Kompetenz-Kompetenz“ zu klären ist, bleibt weiterhin offen. Sicher ist nur, dass ein Verweis auf die deutsche Verfassungsidentität und das darin enthaltene Demokratieprinzip auf der Suche nach einer gesamteuropäischen Lösung nicht weiterhelfen kann.
Karlsruhe wirkt mithin, wie bereits von der Kommission befürchtet, als Vorreiter und Schutzschirm für Staaten mit autoritären Tendenzen, die sich nun mit einem Verweis auf die Rechtsprechung aus Karlsruhe legitimiert, von unionsrechtlichen Grundwerten abwenden können. Dies gilt vor allem, wenn der Grundsatz von der Gleichheit der Mitgliedstaaten weiterhin als Grundstein für europäische Politik fungieren soll.
IV. Reaktionsmöglichkeiten der Kommission und der neuen Bundesregierung
Mit ihrem Beitritt zur EU verpflichteten sich die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des in Art. 4 III EUV kodifizierten Loyalitätsprinzips, die Jurisdiktion und Zuständigkeit des EuGH zu respektieren und jede von ihm gefällte Entscheidung umzusetzen.
Systematische Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit stellen eine Gefahr für die gesamte EU dar, die auf ein intaktes Justizsystem und unabhängige Gerichte in den Mitgliedstaaten angewiesen ist. Ein Vorgehen der Kommission gegen mitgliedstaatliches Handeln, das eine Abkehr von den in Art. 2 EUV normierten Grundwerten darstellt ist daher zwingend erforderlich. Allerdings müssen neben den Grundwerten der Union auch ihre Funktionsfähigkeit, die Möglichkeit eines europäischen Dialogs und die europäische Solidarität die Maßnahmen der Union lenken.
Die Vielschichtigkeit und Komplexität dieser Aspekte prägte auch die Debatte der Mitgliedstaaten beim EU-Gipfel am 22.10.2021 und sorgte für Unstimmigkeit. Während die Benelux-Staaten auf ein hartes Vorgehen gegen Polen setzen, plädiert Deutschland für Dialog. Regierungschef Morawiecki erklärte währenddessen, dass er sich nicht von der Union erpressen lasse.
1. Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 AEUV, Art. 259 AEUV
Der EuGH hat in vergangenen Urteilen dargestellt, dass der Rückbau rechtsstaatlicher Prinzipien nach einem EU-Beitritt einen Verstoß gegen das Primärrecht darstellt (EuGH, 20.04.2021 – C-896/19). Die Kommission kann als Hüterin der Verträge gegen Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Hierfür muss der der betroffene Staat Gelegenheit bekommen, den monierten Verstoß zu beheben. Erfolgt dies nicht, kann die Kommission eine Verurteilung durch den EuGH anstreben. Im Anschluss kann die Kommission nach Art. 260 AEUV eine Verurteilung zur Zahlung von Strafgeldern beantragen. Auch besteht die Möglichkeit der Einleitung eines zwischenstaatlichen Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV.
Die Liste der gegen Polen eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren ist lang. Die monierten Verstöße reichen von der Frage nach der Unabhängigkeit polnischer Richter*innen über den Streit um die Disziplinarkammer bis hin zu Verstößen gegen die Meinungsfreiheit und Diskriminierung wegen sexueller Orientierung. Der andauernde Streit zeigt jedoch, dass Polen nur kleinschrittig, wenn überhaupt, auf die Forderungen der Kommission reagiert. Vielmehr ist zu beobachten, dass sich Polen in eine Außenseiterrolle zurückzieht, anstatt unter dem Druck der europäischen Organe zu den Grundwerten und einem europäischen Miteinander zurückzukehren. Jüngste Entwicklungen lassen zudem vermuten, dass sich Polen in Zukunft wohl auch den Anweisungen des EuGH entziehen wird.
2. Artikel-7-Verfahren
Eines der Hauptinstrumente der Kommission zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und der in Art. 2 EUV kodifizierten Werte ist das Verfahren nach Art. 7 EUV. Hiernach können Mitgliedstaaten bestimmte Mitgliedschaftsrechte, wie etwa ihr Stimmrecht im Rat, entzogen werden. Ein solches Verfahren wurde bereits im Dezember 2017 gegen Polen eingeleitet. Das Verfahren bedarf allerdings einer einstimmigen Entscheidung des Europäischen Rates und wird von Ungarn, gegen das ebenfalls ein Verfahren nach Art. 7 EUV eingeleitet worden ist, blockiert. Da eine Änderung dieses Zustandes nicht abzusehen ist, steht auch diese Sanktionsmöglichkeit tatsächlich nicht zur Verfügung.
3. Rechtsstaatskonditionalität
Um trotz solcher Blockierungen anderweitig Sanktionen einleiten zu können, wurde 2020 der Mechanismus der Rechtsstaatskonditionalität eingeführt. Bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und EU-Grundwerte können darauf EU-Gelder gestrichen werden. Voraussetzung hierfür ist, dass der Verstoß nachweislich Auswirkungen auf den EU-Haushalt hat oder ein ernsthaftes Risiko besteht, dass sich derartige Auswirkungen ergeben können. Maßnahmen, die im Widerspruch zu den EU-Werten stehen, sollen nicht aus EU-Geldern finanziert werden können. Der Rechtsstaatsmechanismus, der der Union einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit und Schlagkraft wiederverschaffen sollte, scheitert jedoch schon jetzt an der Widerspenstigkeit der Mitgliedstaaten. So haben Ungarn und Polen die Vereinbarkeit des Mechanismus mit Unionsrecht gerügt. Solange derartige Klagen beim EuGH anhängig sind, kann der Mechanismus nicht vollständig ausgearbeitet und zur Anwendung gebracht werden.
4. Politischer Druck
Es gibt für die Mitgliedstaaten auch jenseits der vertraglich festgelegten Instrumente Möglichkeiten, die Kommission in ihren Bestrebungen politisch zu unterstützen und gegen die Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien durch einzelne Mitgliedstaaten vorzugehen. Besonders eine Isolation im Rat kann es diesen Staaten erschweren, ihre nationalen Interessen auf europäischer Ebene durchzusetzen.
5. Finanzielle Druckmittel
Sollten Mitgliedstaaten Sanktionen nicht bezahlen, hat die Kommission die Möglichkeit der Aufrechnung („Offsetting“), bei welcher fällige Sanktionen mit Auszahlungen an einen Mitgliedstaat verrechnet werden können. Der Grünen-Abgeordnete Daniel Freud weist jedoch drauf hin, dass die Summe der gegen Polen ausstehenden Sanktionen lediglich 3,07 % der dem Staat zustehenden europäischen Haushaltsmittel ausmacht. Ein Betrag, der Polen wohl kaum genug schmerzen dürfte, um sich den Urteilen des EuGH zu beugen.
Derzeit werden gegenüber Polen Wiederaufbauhilfen in Höhe von fast 24 Milliarden Euro zurückgehalten. Eine offizielle Begründung hierfür und damit eine Einordnung in den Maßnahmenkatalog durch die Kommission erfolgte jedoch noch nicht. Eben dies ist wiederum kritikwürdig: Sanktionen sollten eindeutig und transparent als solche kommuniziert und an bestimmte Handlungen des betroffenen Mitgliedstaates geknüpft werden. Ein nebulöser Verweis auf rechtsstaatliche Bedenken reicht hierbei nicht aus. Zudem müssen sie sich in den normativ zur Verfügung stehenden Sanktionenkatalog einordnen lassen. Jedes hinter diesen Anforderungen zurückfallende Vorgehen ermöglicht es der polnischen Regierung, sich zum Opfer europäischer Willkür zu stilisieren und trägt zur Zuspitzung der Situation bei.
6. Die Rolle der Bundesrepublik
Der Kampf der supranationalen Institutionen gegen die polnische Justizreform und Rechtsstaatskrise fand seinen erfolglosen Anfang 2015 und konnte seitdem kaum Ergebnisse aufweisen. Die Institutionen finden sich daher in einem Balanceakt zwischen dem Streben nach Schlagkraft und Glaubwürdigkeit der Union, dem Erhalten der Möglichkeit zum Dialog und dem Vermeiden von öffentlichen Blamagen. Denn ein System, das sein scharfes Schwert zur Anwendung bringt sollte sicherstellen, dass es auch schneidet. Deutlich ist daher, dass die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Linie finden müssen und damit den Schutz der Union und ihrer Werte gewährleisten. Die Bundesrepublik sollte in ihrer Positionierung gegen den Mitgliedstaat mit Blick auf das PSPP-Urteil des BVerfG behutsam vorgehen. Auf Achtung des Grundsatzes der Gleichheit der Mitgliedstaaten sollte hierbei Wert gelegt werden. Vielmehr ist es nun an der Bundesrepublik zu demonstrieren, dass ein Vertragsverletzungsverfahren auch eine Chance des Dialogs mit der Kommission sein kann und als Werkzeug für konstruktive Ergebnisse genutzt werden muss. Zudem ist es an der Bundesrepublik, im Rat den Prozess für eine europäische Lösung der Kompetenzfrage anzustoßen. Weitere nationale Alleingänge diesbezüglich müssen vermieden werden, um die Funktionsfähigkeit der Union und die harmonisierte Anwendung des europäischen Rechts weiterhin zu gewährleisten.