Der nachfolgende Beitrag stammt aus der gemeinsamen Kooperation mit jur:next und behandelt einen examensrelevanten Beschluss des BVerfG bzgl. der Unterbringung eines unter Videoüberwachung stehenden, vollständig entkleideten Strafgefangenen im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.
Beschluss des BVerfG vom 18. März 2015 Az.: – 2 BvR 1111/13 –
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Unterbringung eines Strafgefangenen in einem besonders gesicherten Haftraum mit Videoüberwachung unter vollständiger Entkleidung.
Leitsatz: „Im Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung des Art. 1 Abs. 1 GG auf den Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und die hieraus resultierende besondere Wertigkeit dieses Schutzgutes berührt die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit permanenter Videoüberwachung bei vollständiger Entkleidung die durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Intimsphäre des Betroffenen.“
I. Zum Sachverhalt
Der Beschwerdeführer (B) war in der Abteilung für psychisch auffällige in der Justizvollzugsanstalt Kassel untergebracht, wo eine Zahnarztsprechstunde vorgesehen war. Nachdem diese Behandlung nicht durchgeführt werden konnte, begann der Gefangene gegen seine Haftraumtür zu schlagen und zu treten. Daraufhin wurde dieser in einen besonders gesicherten videoüberwachten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände verbracht und dort zum Ausschluss von Selbstverletzungen vollständig entkleidet. Der Haftraum war zwar dauerhaft beheizt, jedoch erhielt der B erst am folgenden Tag eine Hose und eine Decke aus schnell reißendem Material. Dies wurde von der JVA unter Verweis auf § 88 I, III iVm. Abs. 2 Nr. 1 StVollzG damit begründet, dass anfangs zu befürchten gewesen sei, dass er diese verwenden könne, um eine Überschwemmung des Haftraums durch Verstopfen der Toilette zu erzielen. Nach Beschreiten des Rechtsweges vor dem LG Kassel („Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ nach § 109 I StVollzG)[1] und vor dem OLG Frankfurt („Rechtsbeschwerde“ nach § 116 I StVollzG)[2], die die Maßnahmen der JVA unbeanstandet ließen erhob B frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Er sah sich durch die JVA einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt, was das LG im Urteil und das OLG zudem in der unzulässigen Ablehnung der Verfahrensrüge verkannt hätten.
II. Problemaufriss
Die Zulässigkeit der VfB richtet sich nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 I Nr. 8 a BVerfGG. Beschwerdegegenstand ist einerseits die vollständig entkleidete Unterbringung als Akt der Exekutive sowie die darauf bezogenen bestätigenden Urteile der Gerichte als Akte der Judikative. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass B durch die Maßnahmen der JVA, aber auch durch die Urteile in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 19 Abs. 4 GG selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist, womit er auch beschwerdebefugt ist. Zwar sind die Maßnahmen der JVA bereits vollstreckt und der B ist zwischenzeitlich aus der Haft entlassen worden, jedoch wirken die bestätigenden Urteile immer noch belastend. Zudem stellt das BVerfG klar, dass auch das Rechtsschutz-interesse nicht entfallen ist: „[…] wenn gewichtige Grundrechtsverletzungen in Frage stehen, besteht das Rechtsschutzinteresse trotz Erledigung fort.“[3] Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert, dass zudem alle sonstigen Mittel, die dem Beschwerdeführer zur Korrektur der Verletzung zur Verfügung stehen, ergriffen werden müssen. Die nach § 116 Abs. I StVollzG erhobene Verfahrensrüge, mit der die Verletzung der Amtsaufklärungspflicht gerügt wird, ist wie der Grds. der Subsidiarität nur dann ausgeschöpft, wenn der Beschwerdeführer angibt, auf welchem Weg die Strafvollstreckungskammer die erstrebte Aufklärung hätte versuchen müssen. Nach Sinn und Zweck dieses Grundsatzes ist aber dann kein ausdrückliches Vorbringen zu bestimmten Rügepunkten zu verlangen, wenn sich bereits aus dem angegriffenen Beschluss selbst tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, den zur Entscheidung unterbreiteten Fall unter ganz bestimmten Gesichtspunkten zu würdigen.[4] Vor diesem Hintergrund hatte B einen durchgreifenden Verfahrensmangel gerügt und so mit seiner Rechtsbeschwerde alles ihm Zumutbare zur gerichtlichen Korrektur unternommen. Form und Frist gemäß §§ 23 I, 93 I S. 1 BVerfGG waren, da er sich zumindest auch gegen das letzte Urteil des OLG wendete, gewahrt. Die VfB ist somit insgesamt zulässig.
Begründet ist die VfB gemäß Art. 93 I Nr. 4 a GG, wenn der Akt öffentlicher Gewalt in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist in den folgenden Fällen begründet: die Rechtsgrundlage ist verfassungswidrig; der Einfluss der Grundrechte wurde ganz oder grds. verkannt; die Rechtsanwendung ist grob oder offensichtlich willkürlich oder die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung wurden überschritten.
Das Urteil des OLG Frankfurt könnte zunächst die Reichweite der Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG[APR]) verkannt haben. Der Schutzbereich der Menschenwürde (Art. 1 I GG) umfasst als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte den sozialen Wert – und Achtungsanspruch, der dem Mensch aufgrund seiner Subjektqualität zukommt.[5] Gerade auch im Strafvollzug müssen die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins dem Gefangenen erhalten bleiben. Aus dieser Prägung des APR durch Art. 2 I iVm Art. 1 I GG ergibt sich der Bereich einer geschützten Intimsphäre des Betroffenen. Dieser war durch die vollständig entkleidete Unterbringung in einem Haftraum mit permanenter Videoüberwachung der ständigen Beobachtung durch die Vollzugsbediensteten ausgesetzt, womit ein Eingriff in die Intimsphäre vorliegt.[6] An dieser Stelle verweist das BVerfG zudem auf die Wertungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind. Dieser hatte auch bei Vorliegen einer ernsthaften Gefahr der Selbstverletzung oder Selbsttötung festgestellt, dass der Gefangene durch die Entziehung der Kleidung bei gleichzeitiger Videoüberwachung einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist.[7]
Der Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II S. 1 GG) umfasst die menschliche Gesundheit im biologosch-physiologischen Sinne.[8] Der Gefangene musste die Nacht ohne Kleidung und Bettwäsche verbringen und war so zumindest einer Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens durch „Frieren“ ausgesetzt. Angaben bezüglich der Temperatur oder dessen regelmäßigen Kontrolle fehlten in den Aussagen der JVA und der Urteile, sodass bereits aufgrund diesen Umstands eine Unterkühlung nicht auszuschließen und ein Eingriff in Art. 2 II S. 1 GG vorliegt.[9]
Weiterhin könnte ein Eingriff in das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 IV GG) durch das Verkennen der Zulässigkeit der Verfahrensrüge vor dem OLG vorliegen. Aufgrund der gegebenen Rechtswegmöglichkeiten ist konsequenterweise nicht jede Verkennung von Grundrechten bzw. der Zulässigkeit von Klagen ein Eingriff in Art. 19 IV GG. Das Grundrecht ist jedoch dann berührt, wenn ins Auge springende Grundrechtsverletzungen im Haftvollzug von den Gerichten in der Folge ohne ausreichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden.[10] Die JVA hatte hier vorgetragen, dass die Darlegungen des Gefangenen nicht den Tatsachen entsprächen, das LG dem offenbar ohne Weiteres Glauben geschenkt und schließlich das OLG die dies betreffende Verfahrensrüge ohne weitere Prüfung wegen formeller Mängel abgelehnt (§ 118 Abs. 2 Satz 2 StVollzG), sodass auch ein Eingriff in Art. 19 IV GG vorliegt.
Die Rechtfertigung der Eingriffe erfordert eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage und deren verfassungsgemäße Anwendung. Ermächtigungsgrundlage für die Bestätigung des rechtmäßigen Handelns der JVA in den Urteilen war § 88 I, III iVm. II Nr. 1 StVollzG. Zur Verfassungsmäßigkeit der Norm bezieht das BVerfG keine Stellung. In einer Klausur sollte aber zumindest klargestellt werden, dass „der Entzug oder die Vorhaltung von Gegenständen“ (§ 88 II Nr. 1 StVollzG) als schwerwiegender Eingriff in das APR nur durch gleichwertige Verfassungsgüter („Abwendung erheblicher Gefahren für den Gefangenen“) gerechtfertigt sein kann. Dem Rahmen möglicher verfassungskonformer Auslegung genügt es nur dann, wenn es eng begrenzte Anwendungsräume gibt und die Maßnahme systematisch ultima ratio ist. Der Eingriff durch das Urteil in Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG bzw. Art. 2 II S. 1 GG wäre dann gerechtfertigt, wenn in der Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen der „Abwendung erheblicher Gefahren für den Gefangenen“ (§ 88 I StVollzG) oder der „Gefahr erheblicher Störung der Anstaltsordnung“ (§ 88 III StVollzG) der Reichweite der Grundrechte genüge getan worden wäre. Die Wegnahme einzelner Kleidungsstücke kann in diesem Zusammen-hang insbesondere bei Suizidgefahr zwar gerechtfertigt sein. Der Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit erfordert bezüglich dieses legitimen Ziels jedoch einen angemessen Ausgleich zur Erheblichkeit des Eingriffs. So konnte dem Gefangenen als milderes Mittel Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung gestellt werden, um ihn nicht zum bloßen Objekt des Strafvollzuges zu degradieren. Dieses war auch gleich geeignet, da die auf das bloße Trommeln an die Zellentür gestützte Annahme der Selbstgefährdung nicht trägt. Im Hinblick auf die zusätzliche Möglichkeit der Videoüberwachung, durch die auch ein etwaiges Verstopfen der Toilette unmittelbar hätte verhindert werden können, war die Maßnahme damit bereits nicht erforderlich. Somit das stellt das Urteils des LG bloße Ordnungsbelange über den die Würde berührenden Intimbereich des Betroffenen und verkennt die Tragweite von Art. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG bzw. Art. 2 II S. 1 GG. Bezüglich des Eingriffs in Art. 19 IV GG ist festzustellen, dass die bloße Darstellung des LG der (strittigen) ausreichenden Beheizung des Haftraums nicht ausreichend ist. Sie verkennt, dass bei „einer kumulativen Anordnung einzelner Sicherungsmaßnahmen die Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme detailliert zu begründen ist.“[11] Die daran anschließende automatische Ablehnung der Verfahrensrüge wegen formeller Mängel vor dem OLG stellt eine unzumutbare, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Erschwerung des effektiven Rechtsschutzes dar.
III. Bedeutung für das Studium
Das BVerfG setzt seine Argumentation zu der Behandlung von Strafgefangenen in konkretisierender Weise fort.[12] Diese ist in Bezug auf die Wahrung des APR und des effektiven Rechtsschutzes überaus linear, klar und somit essentielles Basiswissen für jeden im Examen. Abgesehen davon gilt es den immer wiederkehrenden vermischenden Strukturen in den Entscheidungen des BVerfG zu trotzen und eine saubere Prüfung nach den einzelnen Grundrechten und den angegriffenen öffentlichen Akten durchzuführen. Besonders auffällig wird in dieser Entscheidung dabei auch, wie unklar oft die Grenze zu einer Superrevisionsentscheidung verläuft. So darf das BVerfG nur die spezifische Verletzung von Verfassungsrecht in den angeführten Urteilen rügen. Diese Grenze verwischt im vorliegenden Beschluss immer wieder, wenn der von den Vorgerichten bereits ermittelte Sachverhalt in Frage gestellt, anders ausgelegt, oder gar ein Eingriff aufgrund des Fehlens anderslautender Sachverhaltsermittlungen (bspw. zu Art. 2 II GG) einfach angenommen wird. Diese Ungenauigkeiten des BVerfG sind übrigens daher in einer Examensklausur absolut verboten.
[1] Beschl. des LG Kassel v. 12.06.2012 – 3 StVK 12/11.
[2] Beschl. des OLG Frankfurt am Main v. 26.02.2013 – 3 Ws 695/12 (StVollz).
[3] 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, 2699 (2700).
[4] Vertiefend dazu: BVerfG, Beschl. v. 18.06.2008 – 2 BvR 1119/07 -, juris, Rn. 16.
[5] Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 6.
[6] Vgl. Rn. 30.
[7] Verstößt insofern gegen Art. 3 der EMRK, vgl. EGMR, Hellig v. Germany, Urt. v. 07.07.2011 – 20999/05 -, § 56 f.
[8] Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 II, Rn. 83.
[9] So das BVerfG durchaus vage in Rn. 43.
[10] Vgl.Rn.39.
[11] Rn. 36.
[12] Vgl. dazu auch BVerfG, Beschl. v. 15.07. 2010 – 2 BvR 1023/08.
Schlagwortarchiv für: Videoüberwachung
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem Urteil vom 21.06.2012 – 2 AZR 153/11 Stellung zu der Frage genommen, unter welchen Voraussetzungen die heimliche Videoüberwachung des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz durch den Arbeitgeber zulässig ist. In den Entscheidungsgründen wird Stellung genommen erstens zu den Voraussetzungen eines Kündigungsgrundes, zweitens zu den Voraussetzungen der Zulässigkeit einer heimlichen Videoüberwachung durch den Arbeitgeber und drittens zum Bestehen eines Beweisverwertungsverbotes bei einer Videoüberwachung im Hinblick auf § 6b Abs. 2 BDSG.
Die Frage der Zulässigkeit einer Videoüberwachung am Arbeitsplatz stellt sich in einer Klausur bei der Prüfung eines wirksamen Kündigungsgrundes. Wenn die Videoüberwachung unzulässig ist und das einzige Beweisstück für die Verfehlung darstellt, so darf der Arbeitgeber diese nicht im Prozess verwerten und die Kündigung ist unwirksam.
1. Sachverhalt
Die Klägerin arbeitete seit 1990 als Verkäuferin bei der Filiale des beklagten Einzelhandelsunternehmens. Da im Bereich „Tabakverkauf“ Inventurdifferenzen auftraten, ließ die Beklagte für drei Wochen mit Zustimmung des Betriebsrats eine verdeckte Videoüberwachung unter anderem im Kassenbereich durchführen. Die Aufzeichnungen ergaben, dass die Klägerin an zwei Tagen nach Geschäftsschluss Zigaretten entwendete. Nach Anhörung des Betriebsrates kündigte ihr die Beklagte. Hiergegen erhob die Klägerin rechtzeitig Klage und bestritt die ihr vorgeworfenen pflichtwidrigen Handlungen.
Vor dem BAG streiten die Parteien nunmehr über die Wirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung.
2. Verhaltensbedingte Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt
Das BAG hat festgestellt, dass im vorliegenden Fall die ordentliche Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG aus verhaltensbedingten Gründen sozial gerechtfertigt war.
[Zur Erinnerung: grundsätzlich ist bei einer ordentlichen Kündigung ein Kündigungsgrund entbehrlich. Anderes gilt aber, wenn die Voraussetzungen des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) erfüllt sind. Ist das KSchG anwendbar, muss die Kündigung im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt sein. Hierunter fällt auch ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund. Bei der Prüfung der verhaltensbedingten Kündigung ist dann an erster Stelle abstrakt zu prüfen, ob das Verhalten des Arbeitnehmers grundsätzlich dazu geeignet ist, eine Kündigung auszusprechen. Auf zweiter Stufe folgt eine Interessenabwägung, in der die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls einbezogen werden müssen. Die Prüfung der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung folgt damit dem Prüfungsschema der außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB. Der wesentliche Unterschied zur außerordentlichen Kündigung ist, dass die Gründe bei der ordentlichen Kündigung nicht so schwer sein müssen. Da die außerordentliche Kündigung als „ultima-ratio“ Maßnahme zu verstehen ist, muss der wichtige Grund so schwer wiegen, dass dem Arbeitgeber noch nicht einmal das Abwarten der ordentlichen Kündigungsfrist zugemutet werden kann. Im Gegensatz dazu ist eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung schon dann sozial gerechtfertigt, wenn ein verständig urteilender Arbeitgeber bei Abwägung der wechselseitigen Interessen kündigen würde. Maßstab ist insoweit das Prognoseprinzip. Eine negative Prognose liegt vor, wenn die Vertragsstörung so geartet war, dass daraus geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde auch zukünftig seine Vertragsplichten nicht ordnungsgemäß erfüllen.]
Das BAG führte auf erster Stufe aus, dass die Klägerin durch die heimliche Wegnahme der Zigaretten am Arbeitsplatz eine rechtswidrige und vorsätzliche Handlung unmittelbar gegen das Vermögen der Arbeitgeberin begangen habe. Sie habe in schwerwiegender Weise die schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme gemäß § 241 Abs. 2 BGB verletzt und das in sie gesetzte Vertrauen missbraucht. Ein solches Verhalten sei daher grundsätzlich geeignet, eine Kündigung auszusprechen. Dieses Verhalten sei sogar dann zum Ausspruch einer Kündigung geeignet, wenn die rechtswidrige Handlung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder zu einem geringfügigen Schaden geführt hat. Maßgebend sei der mit der Pflichtverletzung verbundene Vertrauensbruch (dies entspricht der ständigen Rechtsprechung, wie auch im Fall „Emmely“ – BAG, 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09 Rn. 27- wo die Klägerin in unzulässiger Weise Leergutbons im Wert von 0,48 Euro und 0,82 Euro einlöste, siehe hierzu auch hier).
Auf zweiter Stufe stellte der Senat fest, dass das Verhalten der Klägerin auch unter Berücksichtigung einer Interessenabwägung dazu geeignet war, die Kündigung auszusprechen. Die Klägerin habe heimlich und vorsätzlich das in sie gesetzte Vertrauen als Verkäuferin zu einer Schädigung des Vermögens der Beklagten missbraucht. Eine Wiederherstellung des Vertrauens sei auch angesichts der unbeanstandeten Betriebszugehörigkeit der Klägerin von 18 Jahren und des geringen Wertes der entwendeten Gegenstände nicht zu erwarten. Dem Senat kommt es vorliegend entscheidend darauf an, wie die schädigende Handlung durchgeführt wurde. Er führt aus:
„Für den Grad des Verschuldens und die Möglichkeit einer Wiederherstellung des Vertrauens macht es objektiv einen Unterschied, ob es sich bei einer Pflichtverletzung um ein Verhalten handelt, das insgesamt auf Heimlichkeit angelegt ist – […} – oder nicht.“
Weil das Verhalten der Klägerin „auf Heimlichkeit angelegt“ war, wertete das BAG die Interessen der Beklagten am Ausspruch der Kündigung als höherrangig.
Exkurs: Mit dieser Entscheidung hält der Senat an seiner im Fall „Emmely“ (BAG, 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09) eingeschlagenen Linie fest. Hiernach sind rechtswidrige Handlungen gegen das Vermögen des Arbeitgebers nur abstrakt auf erster Stufe geeignet, eine Kündigung auszusprechen. Auf zweiter Stufe muss trotz der schweren Verfehlung eine Interessenabwägung vorgenommen werden. Siehe dazu hier.
3. Voraussetzungen für eine heimlichen Videoüberwachung durch den Arbeitgeber
Der Senat hat die Frage, ob den Videoaufzeichnungen ein prozessuales Verwertungsverbot wegen einer Verletzung des allgemeinem Persönlichkeitsrecht der Klägerin aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG entgegenstand, nicht abschließend beantwortet. Hinsichtlich dieser Frage hat der Senat den Fall zurück an das Landesarbeitsgericht verwiesen. Dennoch wurden Ausführungen zu den Kriterien einer zulässigen Videoüberwachung gemacht.
Im Rahmen der Zulässigkeit einer heimlichen Videoüberwachung ist danach grundsätzlich zu prüfen, ob die Verwertung von heimlich beschafften persönlichen Daten mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen vereinbar ist. Es ist also eine Abwägung zwischen den Interessen an einer funktionstüchtigen Rechtspflege und dem Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (siehe hierzu Palandt, § 823 BGB Rn. 112) vorzunehmen. Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers können durch die Wahrnehmung überwiegender schutzwürdiger Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt sein. Das BAG hat sich – einer früheren Entscheidung folgend (BAG, 27. März 2003, 2 AZR 51/02) – auf Kriterien berufen, nach denen eine heimliche Videoüberwachung durch den Arbeitgeber gerechtfertigt (und deshalb zulässig) ist. Dies ist der Fall, wenn:
- der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zu Lasten des Arbeitgebers besteht
- weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung des Verdachts ergebnislos ausgeschöpft sind, die verdeckte Videoüberwachung damit praktisch das einzige verbleibende Mittel darstellt und
- sie insgesamt nicht unverhältnismäßig ist.
Diese Kriterien hat das BAG dahingehend ergänzt, dass der Verdacht sich gegen einen zumindest räumlich und funktional abgrenzbaren Kreis von Arbeitnehmern richten muss. Auch darf der Verdacht keine allgemeine Mutmaßung darstellen, es könnten Straftaten begangen werden. Er muss sich jedoch nicht notwendig nur gegen einen einzelnen, bestimmten Arbeitnehmer richten. Im Hinblick auf die Möglichkeit einer weiteren Einschränkung des Kreises der Verdächtigen müssen weniger einschneidende Mittel als eine verdeckte Videoüberwachung zuvor ausgeschöpft worden sein.
Aufgrund der Zurückweisung muss das Landesarbeitsgericht nun feststellen, ob die von der Beklagten vorgetragene Inventurdifferenz tatsächlich vorgelegen hat. Auch muss geklärt werden, auf welche Tatsache sich der Verdacht gründete, dass Mitarbeiterdiebstähle erheblichen Einfluss auf die behauptete Inventurdifferenten gehabt hätten und welcher eingrenzbare Kreis von Mitarbeitern von diesem Verdacht betroffen war. Auch muss beurteilt werden, ob nicht weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung in Betracht gekommen wären.
4. Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum, § 6b Abs. 2 BDSG
Darüber hinaus stellte das BAG ausdrücklich fest, dass ein Beweisverwertungsverbot nicht schon aus einer Verletzung des Gebots des § 6b Abs. 2 BDSG folgt. Siehe zu Videoauszeichnung im öffentlich zugänglichen Raum bereits hier.
Zwar schreibt § 6b Abs. 2 BDSG vor, dass bei der Beobachtung von öffentlich zugänglichen Räumen der Umstand der Beobachtung und die verantwortliche Stelle durch geeignete Maßnahmen erkennbar zu machen sind. Hieraus könne aber nicht gefolgert werden, dass die verdeckte Videoüberwachung in öffentlich zugänglichen Räumen ausnahmslos unzulässig sei. Vielmehr will das BAG die Rechtmäßigkeit der Videoüberwachung ausschließlich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen. Das Kennzeichnungsgebot sei weder nach verfassungskonformer Auslegung im Lichte der grundrechtlich geschützten Interessen des Arbeitgebers aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG noch nach der Gesetzesbegründung Voraussetzung für die materiell rechtliche Zulässigkeit der Videoüberwachung.
[Das BAG hat auch klar gestellt, dass sich ein Beweisverwertungsverbot nicht aus dem am 01.09.2009 in Kraft getretenen § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG ergebe, weil die Videoaufzeichnung im vorliegenden Fall aus dem Jahr 2008 stammte. In einer Klausur neueren Datums sollte jedoch auf diese Norm eingegangen werden. Danach ist eine personenbezogene Datenerhebung zur Aufdeckung von Straftaten nur dann zulässig wenn:
„tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht begründen, dass der Betroffene im Beschäftigungsverhältnis eine Straftat begangen hat, die Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung zur Aufdeckung erforderlich ist und das schutzwürdige Interesse des Beschäftigten an dem Ausschluss der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung nicht überwiegt, insbesondere Art und Ausmaß im Hinblick auf den Anlass nicht unverhältnismäßig sind.“
Diese Regelung erscheint enger als die des § 6b Abs. 2 BDSG. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG die Voraussetzungen der Videoüberwachung aufgrund dieser Vorschrift verschärfen wird. Aufschlussreich zur Auslegung des § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG ist der in Kürze erscheinende Beitrag in der EzA von Thüsing/Pötters, Anmerkung zu BAG v. 21.6.2012 – 2 AZR 153/11.]
5. Fazit
Die Entscheidung des BAG bestätigt die kündigungsschutzrechtlichen Maßstäbe bei einer verhaltensbedingten Kündigung, die im Fall einer rechtswidrigen Handlung gegen das Vermögen des Arbeitgebers gelten. Der Senat hält an seiner im Fall „Emmely“ eingeschlagenen Linie fest, wonach bei rechtswidrigen Handlungen gegen das Vermögen des Arbeitgebers auf zweiter Stufe trotz der schweren Verfehlung eine Interessenabwägung vorzunehmen ist.
Im Hinblick auf die heimliche Videoüberwachung hat sich das BAG auf Kriterien berufen, die eine Überwachung zulässig machen. Zwar ist eine heimliche Videoüberwachung nicht grundsätzlich unzulässig, jedoch sind die Kriterien aufgrund des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers sehr scharf, so dass nur in seltenen Fällen eine Videoüberwachung als zulässig zu beurteilen ist. Daneben wurde klargestellt, dass § 6b Abs. 2 BDSG einer heimlichen Videoüberwachung am Arbeitsplatz nicht entgegensteht. Vielmehr will das BAG die Rechtmäßigkeit der Videoüberwachung ausschließlich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen.
Es bleibt abzuwarten, welchen Einfluss der § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG auf die Rechtsprechung des BAG in diesem Zusammenhang haben wird.
Der neue § 32 BDSG zum Arbeitnehmerdatenschutz tritt heute in Kraft. S. dazu auch folgende Artikel:
Arbeitnehmerdatenschutz: Neuer § 32 BDSG tritt am 1.9.2009 in Kraft
Arbeitnehmerdatenschutz: Videoüberwachung am Arbeitsplatz
NEU: Literaturhinweis: Thüsing, NZA 2009, 865 ff.
NEU: Literaturhinweis: Hanloser, MMR 2009, 594 ff.
Lidl soll seine Arbeitnehmer per Videokamera ausgespäht haben. Damit hat der Arbeitnehmerdatenschutz einen aktuellen Aufhänger, der sich im Schwerpunkt und in der mündlichen Prüfung bemerkbar machen kann. Die Videoüberwachung von Arbeitnehmern hat schon mehrfach das BAG beschäftigt, zuletzt im August 2008.
Gesetzliche Grundlagen
Maßgeblich für die Zulässigkeit der Videoüberwachung ist zunächst die EG-Datenschutzrichtlinie 95/46/EG. Diese ist allerdings „technologieneutral“ verfasst, so dass sich für die Videoüberwachung keine Besonderheiten ergeben. Die Richtlinie wurde in Deutschland mit dem BDSG umgesetzt.
Im Datenschutzrecht geht es häufig darum, widerstreitende Grundrechtspositionen in praktische Konkordanz zu bringen (dadurch lässt sich auch die Grundrechtsdogmatik sehr gut anhand diese Themas abprüfen). Dabei geraten regelmäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer sowie das Eigentumsrecht und die Berufsausübungsfreiheit des Arbeitgebers in Konflikt. In Fällen, die das BAG zu entscheiden hatte, waren zudem Briefsendungen abhanden gekommen, so dass das Gericht auch das Postgeheimnis der Postkunden in die Abwägung mit einbeziehen musste.
Auf einfachgesetzlicher Ebene regeln § 6b BDSG und §§ 32, 38 BDSG die Videoüberwachung. Dabei ist die Unterscheidung zwischen der Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum und im nicht öffentlich zugänglichen Raum grundlegend.
Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum
§ 6b BDSG erfasst die Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum, er gilt auch für Arbeitsplätze, sofern diese im öffentlich zugänglichen Raum belegen sind. Öffentlich zugänglich ist ein Raum, wenn er durch den Berechtigten einem unbestimmten oder nur nach allgemeinen Merkmalen bestimmten Personenkreis zur tatsächlichen Nutzung eröffnet worden (gewidmet) ist. Erfasst sind beispielsweise Bahnhöfe, Banken, Bibliotheken, Einzelhandelsgeschäfte, Friseursalons, Fußgängerzonen, Kaufhäuser, Kinos, Museen, Parkplätze, Parks, Restaurants, Tankstellen, Spielhallen, Stadien sowie Straßen und Wege. Eine Videoüberwachung ist hier zulässig, soweit sie zur Aufgabenerfüllung öffentlicher Stellen, zur Wahrnehmung des Hausrechts oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen. Nach § 6b Abs. 2 BDSG ist die Videoüberwachung kenntlich zu machen, so dass eine heimliche Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum stets rechtswidrig ist.
Videoüberwachung im nicht öffentlich zugänglichen Raum
Im nicht öffentlich zugänglichen Raum will das BAG die Rechtmäßigkeit der Videoüberwachung ausschließlich (!) am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen (BB 2008, 2743, 2746, 2747) und nicht auf die §§ 32, 28 BDSG abstellen. Damit käme es zu einer unmittelbaren Grundrechtswirkung zwischen Privaten, die ganz überwiegend abgelehnt wird. Richtig ist es, auf die §§ 32, 28 BDSG abzustellen. § 32 BDSG ist lex specialis für den Arbeitnehmerdatenschutz. Daneben kann nach Auffassung der Bundesregierung § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG Anwendung finden (BT-Drucks. 16/13657, S. 34 f.). Praktisch bedeutsam ist vor allem die heimliche Videoüberwachung von Arbeitnehmern zur Feststellung von Straftaten, die eine Kündigung rechtfertigen. Sedes materiae hierzu ist § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG. Dieser kodifiziert nach Auffassung der Bundesregierung die Rechtsprechung des BAG in den Fällen NZA 2003, 1193 und BB 2008, 2743 (BT-Drucks. 16/13657, S. 35). Danach ist die heimliche Videoüberwachung eines Arbeitnehmers zulässig, wenn der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zu Lasten des Arbeitgebers besteht, weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung des Verdachts ausgeschöpft sind, die verdeckte Videoüberwachung praktisch das einzig verbleibende Mittel darstellt und insgesamt nicht unverhältnismäßig ist.
Betriebsrat ist zu beteiligen
Zu beachten ist, dass der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG der Einführung einer Videoüberwachung im Betrieb zustimmen muss. Bei einer Regelung durch Betriebsvereinbarung haben die Parteien das APR der Arbeitnehmer nach § 75 Abs. 2 BetrVG zu beachten (dazu BAG NZA 2004, 1281; NJOZ 2005, 2708; BB 2008, 2743).
Rechtsfolgen unzulässiger Videoüberwachung
Beachtet der Arbeitgeber diese Grundsätze nicht, besteht im Kündigungsschutzprozess ein Beweisverwertungsverbot für die Videoaufzeichnung (str.). Ferner können dem Arbeitnehmer Abwehr- und Unterlassungsansprüche nach §§ 823 Abs. 2, 1004 BGB analog i.V.m. §§ 6b, 28, 32 BDSG zustehen. Zudem besteht die Gefahr einer Verwirklichung des Straftatbestandes des § 201a StGB.
Rechtsprechung: BAG, NZA 2003, 1193; NZA 2004, 1281; NJOZ 2005, 2708; BB 2008, 2743.
Literatur: Forst, RDV 2009, 204 ff.
S. auch:
Arbeitnehmerdatenschutz: Neuer § 32 BDSG tritt am 1.9.2009 in Kraft
§ 32 BDSG tritt heute in Kraft
Arbeitnehmerdatenschutz: Blutentnahme bei Bewerbern?