Von Prüflingen gefürchtet und bei Prüfern sehr beliebt ist das Institut der Wahlfeststellung. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der sog. unechten Wahlfeststellung und der sog. echten Wahlfeststellung (zur Abgrenzung beider Institute s. bereits unseren Beitrag BGH: Neues zur Wahlfeststellung). Zur sog. echten Wahlfeststellung – d.h. zur wahldeutigen Veruteilung des Täters – kommt es, wenn sicher ist, dass dieser einen von mehreren möglichen Straftatbeständen erfüllt hat, jedoch unklar bleibt, welches dieser Delikte er tatsächlich verwirklicht hat. Eine eindeutige Bestrafung ist in diesem Fall nicht möglich, sodass eine wahlweise Bestrafung erfolgt, wenn die Tatbestände rechtsethisch und physiologisch vergleichbar sind (Rspr.) oder eine Identität des Unrechtskerns besteht (h.L.). Eine rechtsethische Vergleichbarkeit besteht dabei, wenn die Tatvorwürfe nach Art und Schwere auf Grundlage des allgemeinen Rechtsempfindens vergleichbar sind. Die physiologische Gleichwertigkeit setzt hingegen eine einigermaßen gleichgeartete innere Beziehung des Täters zu den möglichen Verhaltensweisen voraus. Nach der Ansicht der Literatur, die überwiegend auf die Identität des Unrechtskerns abstellt, kommt es demgegenüber darauf an, dass dasselbe Rechtsgut durch beide Delikte betroffen ist und der Handlungsunwert in etwa gleichartig erscheint.
I. Worum es geht: Die Verfassungsmäßigkeit der Wahlfeststellung
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der echten Wahlfeststellung, die eine Ausnahme vom Grundsatz „in dubio pro reo“ darstellt, beschäftigt sowohl die Praxis als auch die Literatur seit geraumer Zeit. In der Vergangenheit hegte insbesondere der 2. Strafsenat des BGH wiederholt Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der echten Wahlfeststellung, da sie nicht auf eine gesetzliche Grundlage gestützt werden könne und damit nicht mit dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren sei. Dies sei jedoch zwingend erforderlich, da die echte Wahlfeststellung strafbarkeitsbegründend wirke: Die Verurteilung beruhe letztlich auf keinem der alternativ in Betracht kommenden Straftatbestände, sondern auf einer ungeschriebenen dritten Norm, welche die übereinstimmenden Unrechtselemente beider Delikte in sich vereinige. Insofern seien weder Art noch Ausmaß der Strafe durch den parlamentarischen Gesetzgeber vorgegeben, was einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot darstelle. Zudem werde die Unschuldsvermutung durch die echte Wahlfeststellung verletzt, da dem Angeklagten eine konkrete Straftat gerade nicht nachgewiesen werden könne. Da alle übrigen Strafsenate diese Ansicht nicht teilten, hatte der 2. Strafsenat diese Frage mehrfach dem Großen Strafsenat vorgelegt (zuletzt Vorlagebeschluss v. 2.11.2016, 2 StR 495/12), der jedoch weiterhin an der Verfassungsmäßigkeit der echten Wahlfeststellung festhielt (Beschl v. 8.5.2017, GSSt 1/17).
II. Die Entscheidung des BVerfG
Nunmehr hat mit Beschluss v. 5.7.2019 (2 BvR 167/18) erstmal auch das BVerfG in diesem Zusammenhang Stellung bezogen und die sog. echte Wahlfeststellung als verfassungsgemäß eingeordnet. Die echte Wahlfeststellung verletze bereits nicht das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, denn sie wirke nicht strafbarkeitsbegründend. So führt das BVerfG aus:
„Die Regeln zur Wahlfeststellung dienen nicht dazu, materiell-rechtliche Strafbarkeitslücken zu schließen, was allein Aufgabe des Gesetzgebers ist; sie ermöglichen ausschließlich die Bewältigung verfahrensrechtlicher Erkenntnislücken […]. Die ungleichartige Wahlfeststellung ist damit eine besondere, dem Strafverfahren zuzuordnende Entscheidungsregel, die nicht den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG berührt.“
Damit komme es auch nicht zur Anwendung einer ungeschriebenen „dritten Norm“, denn der Angeklagte habe entweder den einen oder den anderen – jeweils gesetzlich bestimmten – Tatbestand erfüllt, sodass er ausschließlich wegen der Verletzung dieser Einzelstraftatbestände wahldeutig verurteilt werde. Dabei stelle das Erfordernis der rechtsethischen und physiologischen Vergleichbarkeit kein materiell-rechtliches Tatbestandsmerkmal dar, sondern diene lediglich dazu, zu gewährleisten, dass der Schuldspruch den Angeklagten nicht unverhältnismäßig belastet, indem sichergestellt wird, dass die Verurteilung an einen ausreichenden einheitlichen Unrechts- und Schuldvorwurf anknüpfe.
Auch sei der Grundsatz „nulla poena sine lege“ des Art. 103 Abs. 2 GG durch die echte Wahlfeststellung nicht verletzt. Dieser dehne zwar das Bestimmtheitsgebot auch auf die Strafandrohung aus, indes werde bei der Wahlfeststellung Art und Ausmaß der Bestrafung einem gesetzlich normierten Tatbestand – nämlich dem für den konkreten Fall mildesten – entnommen:
„In der Wahlfeststellungssituation hat das Tatgericht aufgrund des jeweils anwendbaren Straftatbestands zu prüfen, auf welche Strafe zu erkennen wäre, wenn eindeutig die eine oder die andere strafbare Handlung nachgewiesen wäre. Von den so ermittelten Strafen ist dann zu Gunsten des Angeklagten die mildeste zu verhängen. […] Da bei einer wahldeutigen Verurteilung in allen Punkten die dem Angeklagten günstigste der alternativen Tatgestaltungen zugrunde zu legen ist […], ist schließlich die Verhängung einer den Schuldgrundsatz verletzenden, weil die tatsächliche Schuld übersteigenden, Strafe […] ausgeschlossen.
Zudem sei auch die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Unschuldsvermutung nicht verletzt, denn es stehe jedenfalls fest, dass der Angeklagte sicher eines von mehreren alternativ in Betracht kommenden Delikten verwirklicht habe:
„Jedenfalls dann, wenn diese Straftatbestände einen vergleichbaren Unrechts- und Schuldgehalt besitzen […], fordert die Unschuldsvermutung keinen Freispruch. Vielmehr stünde ein Freispruch trotz unzweifelhaft strafbaren Verhaltens aufgrund mehrfacher Anwendung des Zweifelssatzes seinerseits in Widerspruch zu dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.“
Denn das Rechtsstaatsprinzip erfordere insbesondere auch die Herstellung materieller Gerechtigkeit, um das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Strafverfahrens zu erhalten. Der Täter werde wegen der alternativen Fassung des Schuldspruchs auch nicht unverhältnismäßig belastet, da eindeutig zum Ausdruck komme, dass die Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage beruht. Ein Verfassungsverstoß liege damit auch unter diesem Gesichtspunkt nicht vor.
III. Ausblick
Das BVerfG hat sich mit seiner Entscheidung der bereits bislang durch den Großen Strafsenat des BGH vertretenen Ansicht angeschlossen und ist ihm auch in der Begründung der Verfassungsmäßigkeit gefolgt. Damit ergeben sich für die Klausurbearbeitung nur wenige Neuerungen. Dennoch ist die echte Wahlfeststellung ein „Dauerbrenner“ in Examensklausuren und erfreut sich auch in der mündlichen Prüfung auf Seiten der Prüfer großer Beliebtheit. Die aktuelle Entscheidung des BVerfG sollte daher zum Anlass genommen werden, sich dieses Rechtsinstitut noch einmal zu vergegenwärtigen um für Prüfungen mit aktuellem Bezug weiterhin gewappnet zu sein.