Art. 20a GG ist relativ neuer Artikel in unserem Grundgesetz. Anlässlich einer Reihe von Urteilen des BVerfG (etwa kürzlich Urt. v. 12.10.2010 – 2 BvF 1/07), die sich mit dem Thema beschäftigten, halte ich diese Norm durchaus für potentiell examensrelevant.
Normtext Art. 20a [Umweltschutz; Tierschutz]
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
Keine subjektiven Schutzansprüche – allein objektives Verfassungsrecht
Art. 20a GG weist den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel aus. Dies ergibt sich bereits anhand einer grammatikalischen Auslegung und aus der systematischen Stellung. Der Gesetzgeber hat die Norm bewusst nicht unter die Grundrechte im ersten Abschnitt des GG eingereiht hat, sondern die verfassungsrechtliche Verankerung erst im zweiten Grundgesetzabschnitt und hier in räumlich-inhaltlicher Nähe zu den Staatsstrukturprinzipien aus Art. 20 GG vorgenommen
Die historische Auslegung ergibt, dass der Umweltschutz nicht in Form von subjektiven Rechten, sondern allein und nur in der Form einer Staatszielbestimmung gewollt war. Ein Umweltgrundrecht, wie es insbesondere in der politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion der siebziger Jahre angemahnt und eingefordert wurde, war aus politischen Erwägungen herrührend nicht gewollt.
Als Individuum lassen sich aus Art. 20a GG also keine subjektiven Rechte herleiten. Insbesondere erhalten Vorschriften, die keinen drittschützenden Charakter besitzen, einen solchen (und dadurch eine Klagebefugnis) nicht etwa dadurch, dass sie den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag des Art. 20a GG auf unterverfassungsrechtlicher Ebene näher ausformen. Weiterhin gewinnt der einzelne aus dem ökologischen Staatsziel folgerichtig kein subjektives einklagbares Recht auf eine bestimmte legislative Tätigkeit.
Aber zumindest objektives Verfassungsrecht
Art. 20a GG enthält allerdings nicht bloß einen verfassungspolitischen Programmsatz, sondern beinhaltet eine unmittelbar geltende, an alle Formen der Staatsgewalt gerichtete, Leitlinie. Nichtsdestotrotz ist auf der anderen Seite festzustellen, dass Art. 20a GG aufgrund der situativen Offenheit und der entwicklungsbedingten Dynamik ökologischer Bedarfslagen – wie etwa auch bei dem Sozialstaatsprinzip – weitgehend offen bzw. konkretisierungsbedürftig ist.
Für die Klausur bedeutet das, dass dieser Begriff insbesondere im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant werden kann. Das verfassungsrechtliche Rechtsgut „Umweltschutz i.S.d. Art 20a GG“ kann dann innerhalb der Abwägung eine Rolle spielen. In diesem Sinne hat das BVerwG ausgeführt, dass durch die ausdrückliche Einordnung der Staatszielbestimmung in die verfassungsmäßige Ordnung klargestellt werde, dass der Umweltschutz keinen absoluten Vorrang genieße, sondern in Ausgleich mit anderen Verfassungsprinzipien und ‑rechtsgütern zu bringen sei. Denkbar ist es ebenso, dass bei der Untersuchung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ein Verstoß gegen Art 20a GG geprüft werden muss.
Damit der Einbau von Art. 20a GG in der Klausur gelingt, muss in den Fällen, wo es nicht gerade um den Schutz von Tieren geht, der Begriff „natürliche Lebensgrundlagen“ definiert und subsumiert werden.
Definition des Begriffs „natürliche Lebensgrundlagen“
Eine allgemein verbindliche Definition des Begriffs „natürliche Lebensgrundlagen“ besteht nicht. Es handelt sich um einen weithin gestaltungsoffenen Begriff, der sich je nach Bedarfssituation auf dem Planeten Erde auch ändern kann. Vorsichtige und vorläufige Annäherungen bietet etwa das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (u.a. Pflanzen, Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft).
Im Rahmen einer Klausur wäre es bei der Definition dieses Begriffes somit wichtig, darauf einzugehen, dass er die Grundlagen des Menschen erfasst, also z.B. die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts, die Nutzungsfähigkeit der Naturgüter, die Pflanzen- und Tierwelt sowie die Vielfalt, Eigenart und vielleicht sogar Schönheit von Natur und Landschaft. Insgesamt und grundsätzlich geht es um die Gesamtheit der Ökosysteme.
Nicht zu den „natürlichen Lebensgrundlagen“ im Sinne von Art. 20a GG gehören „schutzwürdige Sachgüter“ wie Bauweise und Kulturdenkmäler oder gar das „kulturelle Erbe“, die gelegentlich auf europäischer Rechtsebene in den Umweltschutz einbezogen werden.
Ebenso dürfen nicht die europarechtlichen Maßstäbe für Tiergerechtheit und Naturschutz zur Auslegung des Verfassungsbegriffs herangezogen werden. Das Gemeinschaftsrecht kann systematisch nicht als Mittel zur Definition von Verfassungsgütern dienen. Das EU-Recht stellt vielmehr auf einer eigenen Ebene Mindeststandards auf, deren Verletzung gesondert nach anderen Maßstäben gerügt werden kann.
Keine mittelbare Drittwirkung
Nach Sinn, Wortlaut und auch Entstehungsgeschichte ist die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG nur an den Staat bzw. dessen Zuständigkeitsträger, nicht dagegen an Private gerichtet. Als Staatszielbestimmung fällt Art. 20a GG schon wesensmäßig keine Drittwirkung zu. Art. 20a GG konstituiert zwar eine materiale Wertentscheidung zugunsten des Umweltschutzes, diese bedarf aber zuerst der Umsetzung bzw. konkreten Aktualisierung durch den Gesetzgeber.
In Privatrechtsstreitigkeiten spielt Art. 20a GG somit keine Rolle. § 241 Abs. 2 BGB erfasst in seinen Schutzpflichten bereits, dass die körperliche Integrität des Vertragspartners zu achten ist; insofern sind Fälle, bei denen aufgrund von Umweltverschmutzung Gesundheitsschäden bei Vertragspartnern auftreten, bereits hiervon erfasst. Das gleiche gilt ebenso beim Deliktsrecht im Rahmen von § 823 BGB etc., wo die Gesundheit ebenso geschützt ist.
Beschränkte Justiziabilität
Die konkrete Umsetzung des in Art. 20a GG angelegten bzw. vorgegebenen Handlungsauftrages an die legislative Gewalt ist der gerichtlichen Nachprüfbarkeit weitgehend entzogen. Von Verfassungswegen vorgegeben ist lediglich das ökologische Ziel, nicht aber auch der Weg dorthin. Dem Gesetzgeber steht somit bei der konkreten Ausgestaltung eine weite Einschätzungsprärogative zu.
Genauso kann es sich für die Exekutive verhalten, sofern etwa Umwelt- oder Tiertbelange angemessen im Tatbestand einer Norm zu berücksichtigen sind. Das bedeutet, dass Behörden diese Belange bei solchen Normen zwar zu beachten haben, wie diese Belange aber konkret umgesetzt werden, bleibt Ihnen überlassen. Das bedeutet, dass im Rahmen solcher Entscheidungen weitreichende Beurteilungsspielräume denkbar sind. Andererseits bedeutet das natürlich trotzdem, dass gerichtlich überprüfbar ist, ob die Behörde diese Belange überhaupt in Betracht gezogen hat, bzw. ob ein sog. Beurteilungsfehler vorliegt.
Verstöße gegen Art. 20a GG
Sofern etwa konkrete Ausgestaltungen des Umweltschutzes in Gesetzesform gegossen werden, hat sich der Gesetzgeber etwa in Fällen von Regelungen zur artgerechten Tierhaltung am aktuellen Stand der Wissenschaft zu orientieren (Urt. v. 12.10.2010 – 2 BvF 1/07). Bevor hier konkrete Regelungen erlassen werden konnten, besteht zudem eine vorherige Ermittlungspflicht, um diesen Stand der Wissenschaft zu ermitteln. In Zweifelsfällen dürfen neue Haltungsformen erst eingeführt werden, wenn ihre Vereinbarkeit mit den Anforderungen an eine artgerechte Tierhaltung nachgewiesen ist.
Weiterhin ist im Rahmen von Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsverordnungen in Bereichen des Umwelt- und Tierschutzrechts durch geeignete Verfahrensnormen sicherzustellen, dass bei der Setzung tierschutzrechtlicher bzw. umweltrechtlicher Standards die o.g. Informationen zum Stand der Technik auch verfügbar sind und vom Verordnungsgeber genutzt werden.
Diese genannten Grundsätze lassen sich auf behördliche Entscheidungen im Umwelt- und Tierrecht übertragen. Die Behörden haben stets dafür zu sorgen, dass ihre Entscheidungen technisch auf dem aktuellen Stand sind und haben durch entsprechende Verfahren dafür zu sorgen, dass diese Informationen auch wirksam in die Entscheidung mit einfließen können.
Examensrelevanz
Da im Rahmen der Anwendung von Art. 20a GG noch eine Vielzahl an Fragen offen und da die Anwendung der Norm in weiten Teilen wohl gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist, bietet sich die Norm hervorragend zum Improvisieren in der Klausur oder mündlichen Prüfung an. Hier wird wie in den meisten Fällen von exotischen Randproblemen kein detailliertes Fachwissen abgefragt, sondern es genügen eine brauchbare Definition und Subsumtion. Darüber hinaus lassen sich Aspekte beschränkter Justiziabilität wie Beurteilungsspielräume bzw. die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers einbauen, so dass insoweit zunächst einmal eine Masse abstraktes Grundwissen präsentiert und im Einzelfall angewendet werden kann.
