EGMR: Verpflichtender Sexualkundeunterricht ist nicht menschenrechtswidrig
Wir haben bereits mehrfach über Fälle berichtet, die sich mit der Ausübung der Religionsfreiheit im schulischen Raum befassen. Es gibt unzählige Entscheidungen des BVerfG, des EGMR und anderer Gerichte zu Fragen wie Ethikunterricht, Kopftuchverboten, Sexualkundeunterricht, dem Kruzifix im Klassenraum usw. (s. etwa hier, hier und hier). Die Abwägungsprobleme sind dabei im säkularen Rechtsstaat grundsätzlich ähnlich. Viele der Leitlinien können auf andere Fälle übertragen werden. So ist eine häufig wiederholte Anforderung an schulische Pflichtfächer, dass diese politisch und weltanschaulich neutral ausgestaltet sein müssen. Es darf also beispielsweise im Ethikunterricht keine religiöse Indoktrinierung stattfinden. Im Sexualkundeunterricht muss der Unterrichtsinhalt so gestaltet sein, dass schlicht über die biologischen Aspekte oder etwaige Gesundheitsrisiken aufgeklärt wird, nicht aber eine offene Sexualisierung o.ä. befürwortet wird.
Involvierte Grund- und Menschenrechte
Neben der (negativen) Religionsfreiheit (Art. 4 GG, Art. 9 EMRK) der betroffenen Kinder ist insbesondere auch an das elterliche Erziehungsrecht zu denken (Artt. 6 Abs. 2, 7 Abs. 2 GG, Art. 2 des Protokolls Nr. 1 der EMRK). Auf der anderen Seite steht die Schulpflicht.
Neuer EGMR-Fall zum Sexualkundeunterricht
In einem aktuellen Fall (Dojan u.a. gegen Germany, Az: Nr. 319/08,2455/08, 7908/10, 8152/10 und8155/10) hat der EGMR nun erneut die Zulässigkeit eines (neutral gestalteten) staatlichen Sexualkundeunterrichts als Pflichtfach bestätigt (s. hierzu die Pressemitteilung des EGMR sowie den Bericht bei Spiegel Online). Die Kläger waren strenggläubige Baptisten, die ihre Kinder nicht zum Sexualkundeunterricht gehen ließen und daraufhin mehrfach mit Bußgeldern und Gefängnisstrafen wegen Verletzung der Schulpflicht belegt worden waren. Sie hielten die Inhalte des verwendeten Schulbuchs für „pornografisch“ und lehnten es auch ab, dass ihre Kinder an einem Theaterprojekt mit dem Titel „Mein Körper gehört mir“ teilnehmen sollten.
Durch alle Instanzen
Bevor die Eltern erfolglos den EGMR anriefen, hatten sie bereits hierzulande sich an alle Instanzen und auch das BVerfG gewendet. Das BVerfG (1 BvR 1358/09, Beschluss vom 21.7.2009, s. hierzu Hufen, JuS 2010, 369) hatte die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Bereits früher hatten nämlich die Karlsruher Richter einmal die Zulässigkeit eines staatlichen Sexualkundeunterrichts geklärt (Beschluss v. 21.12.1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75, BVerfGE 47, 461). Die Leitsätze dieser klassischen Entscheidung sollen hier abschließend noch einmal in Erinnerung gerufen werden:
1. Die individuelle Sexualerziehung gehört in erster Linie zu dem natürlichen Erziehungsrecht der Eltern im Sinne des Art. 6 Abs. 2 GG; der Staat ist jedoch aufgrund seines Erziehungsauftrages und Bildungsauftrages (Art. 7 Abs. 1 GG) berechtigt, Sexualerziehung in der Schule durchzuführen.
2. Die Sexualerziehung in der Schule muß für die verschiedenen Wertvorstellungen auf diesem Gebiet offen sein und allgemein Rücksicht nehmen auf das natürliche Erziehungsrecht der Eltern und auf deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, soweit diese für das Gebiet der Sexualität von Bedeutung sind. Die Schule muß insbes. jeden Versuch einer Indoktrinierung der Jugendlichen unterlassen.
3. Bei Wahrung dieser Grundsätze ist Sexualerziehung als fächerübergreifender Unterricht nicht von der Zustimmung der Eltern abhängig.
4. Die Eltern haben jedoch einen Anspruch auf rechtzeitige Information über den Inhalt und den methodisch-didaktischen Weg der Sexualerziehung in der Schule.
5. Der Vorbehalt des Gesetzes verpflichtet den Gesetzgeber, die Entscheidung über die Einführung einer Sexualerziehung in den Schulen selbst zu treffen.
Das gilt nicht, soweit lediglich Kenntnisse über biologische und andere Fakten vermittelt werden.
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