BGH: Zur Rechtsnatur des § 221 I Nr. 2 StGB
Von Dominik Schnieder
I. Einleitung
Die Aussetzung ist ein in der juristischen Ausbildung eher stiefmütterlich behandelter, teils mit deutlicher Abneigung wahrgenommener Tatbestand. Mit einer mäßig gewichtigen Examensrelevanz ausgestattet, bietet er auf den ersten Blick keinen Anlass für den geneigten Studenten sich vertieft mit ihm zu beschäftigen. Doch gibt es auch hier spannende Rechtsfragen zu klären, die, wie zu zeigen sein wird, die eigene Argumentationsfähigkeit durch logische Schlussfolgerungen zu stärken vermögen.
In der Literatur lebhaft umstritten ist insbesondere die Rechtsnatur des § 221 I Nr. 2 StGB, Aussetzung in der Alternative des Im-Stich-Lassens. Der BGH hatte bislang hingegen keinen Anlass sich mit dieser Diskussion auseinanderzusetzen und, zumindest für die gerichtliche Praxis, für Klarheit zu sorgen. Eine Gelegenheit bot sich ihm nun in seiner Entscheidung BGH NStZ 2012, 210 f. (wir berichteten bereits, s. dazu hier). Im Folgenden sollen die vertretenen Meinungen in der gebotenen Kürze dargestellt und die Ansicht des BGH einer kritischen Würdigung unterzogen werden.
II. Sachverhalt
Der Angeklagte geriet nach einem Gaststättenbesuch mit seiner Lebensgefährtin, während dessen sie bereits mehrfach über Schwindelanfälle geklagt hatte, in Streit, weil er ihre Unterwäsche bei einem Mitbewohner gefunden hatte. Aus ungeklärten Gründen kippte sie gegen 02:35 Uhr in der Nacht über ein 84cm hohes Balkongeländer. Sie hing außen mit den Beinen in Höhe von etwa 12m über der Straße, konnte sich aber mit den Händen zunächst noch festhalten. Mit den Worten „Andy, warum hilfst du mir nicht?“ schrie sie mehrfach um Hilfe, was auch in den umliegenden Häusern gehört wurde. Laut Zeugenaussagen lachte der Angeklagte daraufhin nur laut auf und verließ die Wohnung. Seine Lebensgefährtin konnte sich nicht länger festhalten, stürzte ab und war auf der Stelle tot.
Das LG Memmingen verurteilte den Angeklagten wegen Aussetzung mit Todesfolge gem. § 221 I Nr. 2 StGB i.V.m. § 221 III StGB zu einer Freiheitsstrafe. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten blieb ohne Erfolg, § 349 II StPO.
III. Erläuterungen
Seit der Neufassung des § 221 StGB durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26.01.1998 (BGBl I, 164) herrscht in der Literatur Uneinigkeit über die rechtliche Einordnung des § 221 I Nr. 2 StGB. Das dabei vertretene Meinungsspektrum ist breit gefächert. Während einige Autoren den Tatbestand für ein reines (echtes) Unterlassungsdelikt halten (MüKo-Hardtung, § 221, Rn. 2; SK-StGB/Horn/Wolters, § 221, Rn. 6), gehen andere davon aus, dieser sei sowohl durch aktives Tun als auch durch Unterlassen (=unechtes Unterlassungsdelikt) begehbar (Fischer, § 221, Rn. 12; Lackner/Kühl, § 221, Rn. 4). Auch wird vertreten, § 221 I Nr. 2 StGB sei der (normierte) unechte Unterlassungstatbestand zu § 221 I Nr. 1 StGB (Roxin, StGB AT II, § 31, Rn. 18).
Die Unterscheidung mag auf den ersten Blick nicht weiter wichtig wirken. Setzen doch alle drei Auffassungen voraus, dass der Täter Garant für das Opfer ist (S/S-Eser, § 221, Rn. 10). Erforderlich ist also, dass das Opfer unter der Obhut des Täters steht oder dieser ihm gegenüber eine andere Art von Beistandspflicht innehat (Kindhäuser, § 221, Rn. 12).
Doch kommt schon an dieser Stelle jene Ansicht in Begründungszwang, die auch eine Verwirklichung durch positives Tun für möglich hält. So formuliert etwa Eser: „…dass ein Begehungsdelikt mit (durch die Obhutspflicht) begrenztem Täterkreis vorliegt“ (S/S-Eser, § 221, Rn. 10). Ob dem tatsächlich so ist oder ob der Wortlaut nicht vielmehr gerade auf ein reines Unterlassungsdelikt hinweist, ist mehr als zweifelhaft. Eine Verwirklichung durch Begehung soll nach dieser Ansicht insbesondere dann vorliegen, wenn der Täter sich räumlich vom Opfer entfernt (vgl. den Fall: LG Kiel NStZ 2004, 157 ff).
Doch lässt sich dieses Entfernen auch anders deuten, nämlich in der bloßen Nichtvornahme der gebotenen Handlung. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen stellt der BGH in seiner Entscheidung auf die überkommene Abgrenzungsformel zwischen Tun und Unterlassen ab (vgl. Lackner/Kühl, § 13, Rn. 3). Zu fragen ist also seiner Meinung nach, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des potentiell strafbaren Verhaltens liegt.
„[12] Der Senat hält § 221 I Nr. 2 StGB für ein Unterlassungsdelikt. Das Verlassen des Opfers ist – anders als nach der früheren Gesetzeslage (vgl. hierzu BGH Urt. v. 30. 9. 1991 – 1 StR 339/91, BGHSt 38, 78 ff) – nur noch ein faktischer Anwendungsfall, aber kein gesetzlicher Unterfall des Im-Stich-Lassens. Dass der Täter die gebotene Handlung deshalb nicht vornimmt, weil er den Ort, an dem er handeln müsste, verlässt, ändert nichts an dem grundsätzlichen Rechtscharakter der Tat (vgl. NK-StGB-Neumann aaO). Letztlich ist bei der Bewertung von Verhaltensweisen unter dem Blickwinkel, ob strafbares Tun oder strafbares Unterlassen vorliegt, darauf abzustellen, worin der „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit” liegt (st. Rspr., vgl. BGH (GrSSt) Beschl. v. 17. 2. 1954 – BGH 17.02.1954 – GSSt 3/53, BGHSt 6, 46, 59; Urt. v. 1. 2. 2005 – 1 StR 422/04, NStZ 2005, 446 f.; und v. 12. 7. 2005 – 1 StR 65/05, NStZ-RR 2006, 174 f.; wN., auch für die anderen Auffassungen, bei Wielant aaO, 156, Fn 379). Dieser liegt darin, dass der Täter die gebotene Hilfeleistung unterlässt, ohne dass es darauf ankommt, ob er sich (zusätzlich) entfernt.“
Ebenfalls zu bedenken ist, dass, zumindest bei Annahme eines unechten Unterlassungsdelikts, eine fakultative Strafminderung gem. § 13 II StGB in Betracht käme (Kindhäuser, § 13, Rn. 84), während eine solche bei einem echten Unterlassungsdelikt auf Grund der fehlenden Anwendbarkeit des § 13 StGB ausgeschlossen wäre (vgl. Fischer, § 13, Rn. 3). Dies hat auch der BGH gesehen und führt aus:
„[13] Ob § 13 StGB anwendbar und damit auch (fakultativ) eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 II StGB möglich ist, richtet sich danach, ob ein „echtes” oder „unechtes” Unterlassungsdelikt vorliegt. Für „echte” Unterlassungsdelikte gilt § 13 StGB nicht (vgl. zusammenfassend Fischer aaO, § 13 Rn 3 mwN). „Echte” Unterlassungsdelikte müssen keinen Taterfolg aufweisen (vgl. BGH Urt. v. 16. 5. 1960 – 2 StR 65/60, BGHSt 14, 280, 281; BayObLG Beschl. v. 22. 1. 1990 – RReg 1 St/5/90, NJW 1990, 1861; Fischer aaO, vor § 13 Rn 16). So verhält es sich letztlich hier. Das pflichtwidrige Garantenverhalten führt im Rahmen von § 221 I Nr. 2 StGB nicht zu einer Verantwortlichkeit für den daraus resultierenden Verletzungserfolg, sondern zur strafrechtlichen Haftung für die nicht abgewendete konkrete Gefahr (Küper aaO, 58 f.). Ist aber aus diesen Gründen § 221 I Nr. 2 StGB echtes Unterlassungsdelikt, so dass § 13 StGB nicht anwendbar ist (so auch die überwiegende Meinung in der Fachliteratur; vgl. zusammenfassend Wielant aaO, 398, mwN in Fn 1459, auch für gegenteilige Auffassungen), kann für den hierauf aufbauenden Qualifikationstatbestand des § 221 III StGB nichts anderes gelten.“
Das Gericht sieht in § 221 I Nr. 2 StGB somit ein echtes Unterlassungsdelikt: ein Erfolgsdelikt also in der Ausprägung eines konkreten Gefährdungsdelikts. Der Täter ist aufgerufen nicht nur bestimmte Verletzungs- bzw. Todeserfolge abzuwenden, sondern das Opfer vielmehr schon vor der Gefahr eines ebensolchen Erfolgs zu schützen (vgl. Kindhäuser, § 221, Rn. 13; zu den einzelnen Deliktstypen: Rengier, AT, § 10).
IV. Fazit
Den Ausführungen des BGH ist sowohl inhaltlich als auch im Ergebnis zuzustimmen. Die maßgebliche Begründung dafür liefert das Gericht am Ende seiner Entscheidung selbst. So ergibt schon ein logischer Schluss, warum es sich bei § 221 I Nr. 2 StGB um ein echtes Unterlassungsdelikt handeln muss.
Dazu der BGH:
„[14] Der Senat hat dabei erwogen, dass bei Vorsatz hinsichtlich der Todesfolge Totschlag (§ 212 StGB) vorläge und § 221 StGB dahinter zurücktreten würde (Fischer aaO, § 221, Rn 28; zu § 221 StGB a.F. ebenso schon BGH Urt. v. 27. 3. 1953 – 1 StR 689/52, BGHSt 4,114, 116). Bei einer Strafbarkeit gemäß § 212 StGB ist § 13 II StGB jedoch grundsätzlich anwendbar, so dass gegebenenfalls die Mindeststrafe bei Fahrlässigkeit hinsichtlich der Todesfolge (3 Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 221 StGB) höher sein könnte als bei Vorsatz (2 Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 212 I StGB i.V.m. § 13 II StGB und § 49 I Nr. 3 StGB). Ohne dass hier über einen solchen Fall zu entscheiden wäre, würde nach Auffassung des Senats zur Vermeidung des aufgezeigten Wertungswiderspruchs (vgl. hierzu auch Roxin aaO, Rn. 250) der Grundsatz, dass die Mindeststrafe eines auf Konkurrenzebene hinter einem anderen Delikt zurücktretenden Delikts eine Sperrwirkung entfaltet (st. Rspr.; vgl. nur BGH Urt. v. 24. 11. 2005 – 4 StR 243/05, NStZ 2006, 288, 290 mwN; vgl. auch zusammenfassend Fischer aaO, vor § 52 Rn. 45 mwN) hier entsprechend gelten.“
Auf Grund des differenzierten Meinungsspektrums und der Vielzahl an vertretenen Ansichten ist allerdings davon auszugehen, dass eine jede in der Klausursituation gut vertretbar ist. Wie immer – so auch hier – gilt der Grundsatz: Nicht das Ergebnis zählt, sondern die Begründung. Dem Studenten sei aber angeraten, sich in seiner Examensvorbereitung einmal näher mit § 221 StGB zu beschäftigen. Ausführungen in Lehrbüchern umfassen meist nur wenige Seiten und sind damit gut lesbar und verständlich. Gerade die hier besprochene Entscheidung mag den einen oder anderen Prüfer dazu bewegen, die Aussetzung in eine Klausur oder mündliche Prüfung einzubauen.
Der Autor Dominik Schnieder ist Lehrassistent bei Prof. Dr. Schlehofer an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er promoviert zurzeit bei Prof. Dr. Michael zu einem verfassungsschutzrechtlichen Thema.
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