BAG: Lohnwucher gem. § 138 Abs. 1 BGB
Examensklassiker: Wucher und wucherähnliches Geschäft
§ 138 BGB enthält in seinen beiden Absätzen zwei verwandte, aber voneinander scharf zu trennende Tatbestände. § 138 Abs. 2 BGB normiert den spezielleren Wuchertatbestand, § 138 Abs. 1 BGB dagegen den allgemeinen Tatbestand der Sittenwidrigkeit. Auf Grundlage des Abs. 1 hat die Rspr das sog. wucherähnliche Rechtsgeschäft entwickelt. Grundkenntnisse zu Wucher und wucherähnlichem Rechtsgeschäft sollte jeder Examenskandidat aufweisen.
Schwäche des Wuchertatbestands: Beweis des subjektiven Erfordernisses
Voraussetzung des Wuchers (Abs. 2) ist objektiv, dass der durch den Wucherer gewonnene Vorteil aus dem Rechtsgeschäft in einem auffälligen Missverhältnis zur Gegenleistung steht. Ferner muss auf Seite des Bewucherten eine Zwangslage, Unerfahrenheit, ein Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche – kurzum: ein die rationale ökonomische Disposition behindernder Faktor (so MüKo-Armbrüster, BGB, 5. Aufl. 2006, § 138 Rn. 143)- gegeben sein. Diese Situation muss der Wucherer subjektiv ausbeuten. Beim Wuchertatbestand muss also bewiesen sein, dass der Wucherer um die konkrete Schwäche des anderen Teils weiß, sich diese bei Abschluss des Geschäfts bewusst zunutze macht und dabei Kenntnis von dem zu seinen Gunsten bestehenden Leistungsmissverhältnisses hat (stRspr., vgl. BGH v. 24.5.1985 – V ZR 47/84,NJW 1985, 3006, 3007; BGH v. 8.7.1982 – III ZR 1/81, NJW 1982, 2767, 2768; BGH v. 19.6.1990 – XI ZR 280/89, NJW-RR 90, 1199). Ein Beweis dieser subjektiven Voraussetzung des § 138 Abs. 2 BGB ist aber in der Praxis kaum möglich.
Subjektives Merkmal beim wucherähnlichem Geschäft
Gestützt auf § 138 Abs. 1 BGB wurde daher von der Rspr. das wucherähnliche Rechtsgeschäft entwickelt. Objektiv ist auch hierfür ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung erforderlich. Hinzutreten müssen weitere Umstände, um eine Sittenwidrigkeit zu begründen, insbesondere ist auf subjektiver Seite eine „verwerfliche Gesinnung“ erforderlich. Diese verwerfliche Gesinnung wird jedoch – und dies ist der entscheidende Unterschied zum Wuchertatbestand des § 138 Abs. 2 BGB – bereits anzunehmen, wenn der stärkere Vertragspartner sich leichtfertig der Einsicht verschließt, dass sich der andere nur wegen seiner schwächeren Lage bzw. unter dem Zwang der Verhältnisse auf den ungünstigen Vertrag einlässt. Bewusstes Handeln ist mithin nicht erforderlich. Eine wichtige beweistechnische Erleichterung ist außerdem, dass die Rechtsprechung bei einem „besonders auffälligen Missverhältnis“ von Leistung und Gegenleistung das Vorliegen des subjektiven Elements beim wucherähnlichen Geschäft vermutet (s. nur BGH v. 24.1.1979 – VIII ZR 16/78, NJW 1979, 758; BGH v. 19.1.2001 – V ZR 437/99, NJW 2001, 1127, 1128 f.; BGH v. 5.10.2001 – V ZR 237/00, NJW 2002, 429, 430f.).
Wann ein solches besonders auffälliges Missverhältnis vorliegt, hat die Rechtsprechung in Fallgruppen konkretisiert. Bei Darlehensverträgen ist dies etwa der Fall, wenn der geforderte Zins den marktüblichen um relativ 100% übersteigt oder die absolute Zinsdifferenz über 12% beträgt.
Übertragung auf das Arbeitsrecht – Lohnwucher
Diese Rechtsprechung lässt sich auch auf das Arbeitsrecht übertragen. Das BAG konkretisierte zunächst das objektive Merkmal des „auffälligen Missverhältnisses“ von Leistung und Gegenleistung dahingehend, dass ein solches idR dann vorliegt, wenn die Arbeitsvergütung nicht einmal 2/3 eines in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlten Lohnes erreicht (vgl. grundlegend BAG v. 22.04.2009 – 5 AZR 436/08, NZA 2009, 837). Üblich in diesem Sinne ist der Tariflohn, wenn mehr als 50 % der Arbeitgeber im Wirtschaftsgebiet tarifgebunden sind oder die tarifgebundenen Arbeitgeber im Vergleichsgebiet mehr als 50% der Arbeitnehmer beschäftigen. Bei einem „auffälligen Missverhältnis“ muss aber noch eine verwerfliche Gesinnung hinzutreten.
Aktuell entschied das BAG (Urt. v. 16.05.2012 – 5 AZR 268/11), dass ein „besonders grobes Missverhältnis“ dann vorliegt, wenn der Wert der Arbeitsleistung (mindestens) doppelt so hoch wie der Wert der Gegenleistung ist. In diesem Fall spricht eine tatsächliche Vermutung für eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten. Die mit einem besonders groben Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung begründete tatsächliche Vermutung der verwerflichen Gesinnung des begünstigten Vertragsteils kann im Einzelfall durch besondere Umstände erschüttert werden. Insoweit trägt die begünstigte Vertragspartei die Darlegungs- und Beweislast.
Liege hingegen „nur“ ein „auffälliges Missverhältnis“ vor, weil der Wert der Arbeitsleistung den Wert der Gegenleistung um mehr als 50 % (und damit unter den genannten 2/3 liegt), aber um weniger als 100 % übersteigt, bedürfe es zur Annahme der Nichtigkeit der Vergütungsabrede zusätzlicher Umstände, aus denen geschlossen werden könne, dass der Arbeitgeber die Not oder einen anderen den Arbeitnehmer hemmenden Umstand in verwerflicher Weise zu seinem Vorteil ausgenutzt habe.
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