Tarifeinheit – Ein Debattenbeitrag
Tarifeinheit – ein Begriff, den sicherlich alle Juristen und auch am Tagesgeschehen Interessierte schon einmal gehört haben. Spätestens wenn man mal wieder aufgrund eines Streikes der GDL oder Cockpit auf den Zug wartet oder am Flughafen gestrandet ist, erinnert man sich an den Slogan „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“. Doch was hat es mit der Tarifeinheit genau auf sich? Der nachfolgende Beitrag soll die juristischen Grundlagen der rechtspolitischen Diskussion veranschaulichen und aufzeigen, wo Regelungsbedürfnisse gegeben sind.
I. Was bedeutet der „Grundsatz der Tarifeinheit“?
Das Problem der Tarifeinheit tritt auf, sofern im Betrieb eine sog. Tarifpluralität oder Tarifkonkurrenz vorliegt. Dies ist der Fall, wenn ein Arbeitgeber sich mehreren Gewerkschaften und damit konkurrierenden Tarifverträgen gegenübersieht und auf der anderen Seite ein Arbeitnehmer nur an einen dieser Tarifverträge gebunden ist. Fraglich ist dann, welcher Tarifvertrag für welche Arbeitnehmer gilt: Einer für alle?
Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer an den Tarifvertrag „seiner“ Gewerkschaft gebunden, §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG. Ist der Arbeitnehmer nicht Mitglied in der Gewerkschaft, kann er nicht nach § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden sein. In der Praxis finden sich in den Arbeitsverträgen aber regelmäßig in allen Arbeitsverträgen sog. Bezugnahmeklauseln, so dass das gesamte Tarifwerk über die vertragliche Vereinbarung Anwendung findet (schuldrechtlich, nicht tarifrechtlich).
Treten nun in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften auf und schließt der Arbeitgeber mit diesen konkurrierende Tarifverträge, liegt ein Fall der Tarifpluralität vor. Eigentlich kein Problem – möchte man meinen, denn bei strikter Gesetzesanwendung müsste gelten: Die Arbeitnehmer sind an den jeweiligen Tarifvertrag ihrer jeweiligen Gewerkschaft gebunden, § 3 Abs. 1 TVG.
Früher ständige Rechtsprechung: Tarifeinheit
Das BAG nahm aber bis zum Jahr 2010 in st. Rspr. an, dass eine solche Situation konkurrierender Tarifverträge in einem Betrieb nicht auftreten dürfe (Grundsatz der Tarifeinheit, s. BAG v. 26.1.1994 – 10 AZR 611/92). Als Argument führte es an, dass es ansonsten zu einem Tarifchaos käme und der Betrieb durch mögliche Streiks der unterschiedlichen Gewerkschaften lahmgelegt werden könne. Hinter diesem Argument steckt das tarifrechtliche Ordnungsprinzip, wie es in § 1 TVG Ausdruck findet. Auch eine Gefährdung des Betriebsfriedens wurde befürchtet. Zudem könne es zu einem „Gewerkschaftshopping“ aus individuellen Optimierungsinteressen einzelner Arbeitnehmer kommen, das letztlich zu einem „Hochschaukeln“ der Forderungen der Gewerkschaften führe. Daher müsse der Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft vom Tarifwerk der Mehrheitsgewerkschaft verdrängt werden; nur dieser zeitige Rechtsfolgen. Einher ging hiermit ein faktisches Streikverbot für die Minderheitsgewerkschaft.
Das Ergebnis war, dass die Arbeitnehmer der Minderheitsgewerkschaft den erstrittenen Tarifvertrag verloren, zugleich mangels Mitgliedschaft aber auch nicht an den Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft gebunden waren. Somit standen sie letztlich ohne Tarifvertrag da.
Aufgabe der Rechtsprechung im Jahr 2010
Das BAG hat diese Rechtsprechung, die weder gesetzlich noch gewohnheitsrechtlich verankert ist, im Jahr 2010 mit Hinweis auf Art. 9 Abs. 3 GG ausdrücklich aufgegeben (BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 3/10; BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 10, 645). Es liege ein Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer in der Minderheitsgewerkschaft vor, da deren Tarifvertrag immer ausgestochen werde. Zum einen sei kein Tarif- oder Streikchaos für den Fall der Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb zu erwarten, zum anderen könne dies einen solch schwerwiegenden Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG auch nicht rechtfertigen.
Diese Entwicklung verdient Beifall. Erstens führt der Grundsatz der Tarifeinheit zu einer Verzerrung der Entlohnung bestimmter Gruppen. So konnten Zugführer oder Piloten jahrzentelang nicht den marktangemessenen Lohn durch Streiks erzwingen, sondern mussten mit der Mehrheitsgewerkschaft Kompromisse eingehen. Damit lag ihr Lohn unter ihrem Marktwert, so dass letztlich die Arbeitgeber durch geringere Entgeltzahlungen Nutznießer dieser Rechtsprechung waren. Ein weiterer Nutznießer waren zweitens die „großen“ Gewerkschaften, deren Position quasi unanfechtbar war. Die Tarifeinheit zementierte ihre Monopolstellung, da mangels Tarifgeltung und Streikrecht kleinere Gewerkschaften de facto keine Möglichkeit hatten zu wachsen. Wer wird schon Mitglied einer Gewerkschaft, die ohnehin nichts durchsetzen kann? Drittens ist ein Tarifchaos oder eine Zersplitterung der Tariflandschaft nicht eingetreten. Lokführer- oder Pilotenstreiks führen immer zu einem volkswirtschaftlichen Schaden, unabhängig davon, ob sie von einer Mehrheits- oder Minderheitsgewerkschaft ausgeführt werden. Und viertens – ein häufig übersehenes Argument: Arbeitsrechtler beklagen den schwindenden Organisationsgrad in den Gewerkschaften. Arbeitnehmer sind immer seltener bereit, sich in Gewerkschaften zu organisieren und ihre Rechte durchzusetzen. Die Tarifeinheit verstärkte diesen Trend noch, da es für die meisten Minderheitsberufsgruppen in einem Betrieb sinnlos war, sich zu organisieren, da ihr Einfluss ohnehin verschwindend gering war und sie sich nicht selten durch die goßen Gewerkschaften nicht hinreichend vertreten fühlten.
Man mag die „überzogenen“ Forderungen von GDL, Cockpit und Co. kritisieren – für die Dynamik der Tariflandschaft und die Effektivität der grundrechtlich geschützten Tarifautonomie sind die erzielten Abschlüsse aber ein eindrucksvolles Zeugnis. Zugleich kann den Tarifabschlüssen der Lokführer, Vorfeldlotsen oder Piloten eine Vorbildwirkung zukommen. Auch andere Arbeitnehmer können sich hierdurch angespornt sehen, mehr für ihre Rechte zu kämpfen – und der mündige Arbeitnehmer ist doch das Ziel jeder Arbeitsmarktpolitik.
II. Welche Vorschläge zur Normierung gibt es?
In der Zwischenzeit gab es einige Vorschläge zur gesetzlichen Normierung der Tarifeinheit. Diese werden – wenig überraschend – nicht nur von den großen Gewerkschaften, sondern auch von Arbeitgeberseite unterstützt.
Arbeitsministerin Nahles drohte zuletzt als Reaktion auf die Streiks der GDL eine Gesetzesinitiative an (kurios hierbei ihr Hinweis, dass die Ausgestaltung „am besten natürlich verfassungskonform“ erfolgen solle). Zuvor gab es schon einen gemeinsamen Vorschlag des Arbeitgeberverbandes und der Gewerkschaften sowie einen sog. Professorenentwurf (NZA Aktuell, Heft 7/2012). Alle wurden ganz überwiegend als verfassungswidrig eingeordnet, jedenfalls im Ergebnis aber abgelehnt (Bayreuther, NZA 2013, 1395).
III. Was kann verfassungskonform geregelt werden?
Aktuell wurde das Thema zudem durch den jüngsten 71. Juristentag in Hannover. Die Abteilung Arbeitsrecht konnte sich auf keinen Beschluss einigen – was die Brisanz des Themas noch einmal verdeutlicht. Anscheinend will es sich niemand mit der Politik verscherzen und dieser ins Stammbuch schreiben, dass der Grundsatz der Tarifeinheit in Form der alten Rechtsprechung des BAG tot ist – ohne Chance auf verfassungskonforme Reanimation.
Verfassungskonform könnten hingegen Abspracheerfordernisse zwischen den Gewerkschaften sein. So wird man dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgend eine Streikabsprache zwischen den einzelnen Gewerkschaften fordern können, soweit eine Vielzahl von aufeinander folgenden Streiks drohte und hiermit das bestreikte Unternehmen in eine wirtschaftliche Schieflage geriete. Auch könnte ein einheitlicher Endzeitpunkt für die abgeschlossenen Tarifverträge verlangt werden (so Franzen, RdA 2008, 193, 203f.). Solche Minusmaßnahmen könnten auch gesetzlich festgeschrieben werden. Erforderlich ist dies aber nicht, hat sich doch bisher die Rechtsprechung in der Ausgestaltung des Streikrechts verdient gemacht.
IV. Warum sollte ich das alles wissen?
Die Diskussionen zur Tarifeinheit flachen nicht ab. Und wie so häufig ist es sinnvoll, die rechtlichen Grundlagen durchdacht zu haben, um zu einer fundierten Meinung zu kommen. Die Tatsache, dass sog. Funktionseliten wie Vorfeldlotsen und Piloten extreme Gehaltssteigerungen erkämpfen konnten, spricht insoweit eine eindeutige Sprache: Der Grundsatz der Tarifeinheit hat jahrzehntelang den Markt zuungunsten dieser Berufsgruppen verzerrt. Der Ärger über verspätete Bahnen oder Flugzeuge ist sicherlich kein valides Argument, in Zukunft diesen ihren gerechten – auf der Angemessenheitsvermutung des Tarifvertrages beruhenden – Lohn vorzuenthalten.
Sehr schöner, informativer Beitrag! Danke!
Sehr schöner Beitrag!
Danke für den Beitrag, der zunächst wunderbar verständlich die Problematik erläutert. Die politisch-ökonomische Einschätzung am Ende ist aber zumindest fragwürdig und könnte hier neutraler dargestellt werden.
Gegenargumente wären: Die Spartengewerkschaften haben ein sehr hohes Erpressungspotential, dass die Existenz des ganzen Unternehmens aufs Spiel setzen kann, und können deshalb die angesprochenen Gehaltssteigerungen aushandeln können. Der angesprochene Wettbewerb auf dem Markt der Tarifgruppen ist (jedenfalls überwiegend) primär komplementär und nicht substitutiv (es gibt also nur einen Wettbewerb um die Unternehmensressourcen und nicht um die AN). Es lässt sich daher zumindest diskutieren, ob es Sinn des Art. 9 GG ist, dass die Spartengewerkschaften externe Effekte, also zB die Auswirkungen auf die AN, die nicht in Schlüsselposition sitzen, nicht berücksichtigen und so ihre Abschlüsse auf dem Rücken der streikschwächeren AN erstreiken.
Man merkt, dass Sie das Thema durchdrungen haben- im Gegensatz zu dem ein- oder anderen Journalisten! Sehr schöner, informativer Beitrag, Danke!