Wir freuen uns sehr, nachfolgend einen Gastbeitrag von Felix Bleckmann veröffentlichen zu können. Der Autor hat an der Universität zu Köln studiert und ist dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Staatsrecht.
Für das Posten einer „zerschnittenen“ Deutschlandfahne, bei der der goldene Teil (bis auf einen sichtbaren Rest) abgetrennt war, hat das AG Tiergarten einen Angeklagten mit Urteil vom 31.07.2018 zu einer Geldstrafe von 2.500 € verurteilt.[1] Dieses Urteil bietet Anlass, sich mit der klausur- und examensrelevanten Materie des Verhältnisses von Grundrechten und dem Schutz staatlicher Symbole auseinander zu setzten. Der Beitrag zeigt, wie das wichtige Grundlagenwissen zur Meinungs- und Kunstfreiheit in einer Klausur mit speziellen Tatbeständen wie dem des § 90a StGB verknüpft werden kann und worauf hierbei besonders zu achten ist.
I. § 90a StGB
Der auch im aktuellen Fall einschlägige § 90a StGB ist die wichtigste strafrechtliche Bestimmung zum Schutz staatlicher Symbole.[2] Schutzgegenstand der Norm ist der Bestand der Bundesrepublik, ihrer Länder und Symbole gegen öffentliche Herabsetzung.[3] Nach Abs. 1 wird das Beschimpfen und böswillige verächtlich Machen der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder oder ihrer verfassungsmäßigen Ordnung (Nr. 1) und die Verunglimpfung der Farben, der Flagge oder der Hymne der Bundesrepublik (Nr. 2) in der Öffentlichkeit, in einer Versammlung oder durch das Verbreiten von Schriften mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe bestraft. Das selbe Strafmaß sieht Abs. 2 für die Entfernung, Zerstörung, Beschädigung, Unbrauchbar- oder Unkenntlichmachung einer öffentlich gezeigten Flagge der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder oder eines von Behörden öffentlich angebrachten Hoheitszeichens vor.
II. Verfassungsrechtliche Grenzen
Je nach Fallgestaltung steht dieser strafrechtliche Schutz staatlicher Symbole in einem Spannungsverhältnis zu den Grundrechten der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG). Das Bundeverfassungsgericht hat sich bereits mit verschiedenen Judikaten zu § 90a StGB auseinandergesetzt: So waren etwa die satirische Verfremdung des Deutschlandlieds,[4] die Darstellung des Urinierens auf eine Bundesflagge in einer Collage, die Verwendung des aus der Weimarer Zeit überlieferten Kampfbegriffs „schwarz-rot-senf“[5] oder die Bezeichnung des „BRD-Systems“ als „verkommen“[6] Gegenstand von Entscheidungen der Karlsruher Richter. In der Gesamtbetrachtung ergeben sich aus diesen Entscheidungen einige Besonderheiten, die bei einer Prüfung zu beachten sind.
1. Verfassungsprozessuale Besonderheiten
Die staatsrechtlichen Fallgestaltungen zu § 90a StGB sind prozessual regelmäßig in eine Urteilsverfassungsbeschwerde eingekleidet. Hier sind einige Besonderheiten hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes zu beachten. Abweichend von der sonst üblichen Prüfung der „Verletzung spezifischen Verfassungsrechts“[7] dehnt das Bundesverfassungsgericht betreffend Art. 5 Abs. 3 S.GG[8] und der Meinungsfreiheit[9] den Prüfungsumfang weit aus.
2. Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG)
Die Meinungsfreiheit schützt von den Elementen der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägte Äußerungen, im Rahmen der geistigen Auseinandersetzung, unabhängig von Wert, Richtigkeit oder Vernünftigkeit.[10] Die davon abzugrenzenden, dem Beweis zugänglichen Tatsachenbehauptungen sind vom Schutzbereich nur erfasst, soweit sie Grundlage der Meinungsbildung sind.[11] Äußerungen, die den Tatbestand des § 90a StGB verwirklichen, sind häufig zugleich Meinungsäußerungen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Zu beachten ist, dass es auf Schutzbereichsebene irrelevant ist, ob diese gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind, oder ob es sich um eine Form von Schmähkritik handelt. Das Bundeverfassungsgericht sieht auch Äußerungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen als vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst an, unabhängig von der Realisierbarkeit im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung.[12] Dies ist bei den Fällen des § 90a StGB von besonderer Bedeutung. Selbiges gilt für Schmähkritik, die ebenfalls dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfällt.[13]
Die Meinungsfreiheit wird begrenzt durch die Schranke der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG). Hierunter ist nach der „Kombinationsformel“ des Bundesverfassungsgerichts jede Norm zu fassen, die sich weder gegen die Meinungsfreiheit an sich noch gegen bestimmte Meinungen richtet, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf bestimmte Meinungen, zu schützenden Rechtsguts dient.[14] § 90a StGB ist nach ständiger Rechtsprechung ein solches allgemeines Gesetz und somit eine den Gesetzesvorbehalt ausfüllenden Schrankenregelung.[15]
Bei der Prüfung der Schranken-Schranken sind die Besonderheiten der Wechselwirkungslehre zu beachten.[16] Die Gerichte haben bei Auslegung und Anwendung strafrechtlicher Vorschriften die Bedeutung der Meinungsfreiheit zu beachten.[17] Hierzu gehört insbesondere eine Erfassung des Sinns der umstrittenen Äußerung und die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus Sicht eines „unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums“. Bei den Staatsschutznormen wie § 90a StGB ist hier besonders sorgfältig zwischen zulässiger Polemik einerseits und einer Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung andererseits zu differenzieren.[18] Das Bundesverfassungsgericht überträgt die Maßstäbe seiner Schmähkritik-Rechtsprechung auf die Staatsschutzdelikte.[19] Bei der Bejahung von Schmähung ist an dieser Stelle Zurückhaltung geboten:[20] Nicht einmal das offenkundige Anknüpfen an die Mostrich-Rhetorik der Weimarer Zeit in Verbindung mit den Aussagen „Heil dem deutschen Reich“ und „wird dereinst unser Volk und Reich in neuem Glanz erstehen“ waren nach Ansicht des Gerichts hierfür ausreichend.[21]
Die zahlreichen ablehnenden Judikate zu Verurteilungen nach § 90a StGB dürfen aber nicht dahingehend fehlinterpretiert werden, dass der Meinungsfreiheit ein grundsätzlicher Vorrang zukomme. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung gilt es genau zu prüfen: handelt es sich um „eine böswillige Verächtlichmachung, die über eine – Systemkritik einschließende – Polemik hinausgeht“[22] und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs eine Verurteilung nach § 90a StGB zu rechtfertigen vermag?
3. Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG)
Die für den sachlichen Schutzbereich der Kunstfreiheit zentrale Bestimmung des Kunstbegriffs nimmt das Bundesverfassungsgericht anhand von drei kumulativ anwendbaren Kunstbegriffen vor: formal, materiell und offen.[23] Ausgehend von dem sich daraus ergebenden weiten Schutzbereich der Kunstfreiheit ergibt sich das Konfliktpotential der von § 90a StGB erfassten Verhaltensweisen.
Einschränkungen der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit sind anders als Eingriffe in die Meinungsfreiheit nur auf Grundlage kollidierenden Verfassungsrechts möglich. Dies ist bei den Schutzgütern des § 90a StGB nicht unproblematisch und in der Klausur ist an dieser Stelle eine umfassende Argumentation gefragt. Die Bundesflagge betreffend ist zunächst ein Anknüpfen an Art. 22 Abs. 2 GG geboten. Da sich dessen normative Aussage allerdings auf die Festlegung der Bundesfarben beschränkt, ist er nur Ausgangspunkt der Argumentation und enthält alleine keine unmittelbare oder ausschließliche Begründung für strafrechtlichen Schutz der Bundesflagge.[24] Das Bundesverfassungsgericht sieht eine über den unmittelbaren Inhalt der Norm hinausgehende Bedeutung in der Form, dass mit dem dort vorausgesetzten Recht des Staates, sich zur Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen, der Zweck einhergehe, an das Staatsgefühl der Bürger zu appellieren.[25] Das Grundgesetz nehme diese Wirkung der Flagge nicht lediglich in Kauf, vielmehr sei die Bundesrepublik als freiheitlicher Staat auf die Identifikation ihrer Bürger mit den in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten angewiesen. Die in Art. 22 Abs. 2 GG enthaltenen Staatsfarben ständen für diese Werte und für die freiheitlich demokratische Grundordnung. Aus dieser Bedeutung ergebe sich das der Kunstfreiheit widerstreitende Schutzgut. Diene die Flagge als wichtiges Integrationsmittel, so könne ihre Verunglimpfung die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen.[26]
Anknüpfend an diese Argumentation räumt das Bundverfassungsgericht auch dem Schutz der Hymne Verfassungsrang ein, da diese ebenso wie die Bundesflagge Symbol der Bundesrepublik sei.[27] Problematisch ist, dass die Hymne im Gegensatz zur Flagge nicht im Grundgesetz erwähnt ist. Vor dem Hintergrund der oben genannten Argumente und des wenig ergiebigen Wortlauts des Art. 22 Abs. 2 GG erscheint eine Verschiedenbehandlung nicht geboten, sodass auch in Fällen der Hymne oder anderer von § 90a StGB geschützter Symbole eine verfassungsimmanente Begrenzung der Kunstfreiheit zu bejahen ist.[28]
Das Bundesverfassungsgericht setzt hohe Hürden für die verfassungsrechtliche Angemessenheit von mit § 90a StGB verbundenen Eingriffen in die Kunstfreiheit.[29] Im Lichte des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG dürfe der Symbolschutz nicht zur Immunisierung des Staates gegen Kritik und Ablehnung führen.[30] Aus diesem Grund spricht eine Vermutung für den Vorrang der Kunstfreiheit und der Unzulässigkeit einer strafrechtlichen Verurteilung, solange die Kunst bei kunstspezifischer Betrachtung noch als (wenn auch überzogene) Kritik gedeutet werden kann.[31]
4. Verhältnis von Kunst und Meinungsfreiheit
Sind Kunst- und Meinungsfreiheit einschlägig, stellt sich die Frage der Spezialität. Dieses Verhältnis ist nicht unumstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kunstfreiheit im Mephisto-Beschluss als „lex specialis“ gegenüber der Meinungsfreiheit eingestuft.[32] Teile des Schrifttums kritisieren die Widersprüchlichkeit der Ausführungen des Gerichts an dieser Stelle und lehnen eine Spezialität ab, mit der Folge, dass die Grundrechte nebeneinander zur Anwendung kommen.[33] Beide Ansichten sind vertretbar, nicht zu empfehlen ist die Lösung über einen Erst-Recht-Schluss, da hier die unterschiedlichen Anforderungen an die Grundrechte nicht hinreichend berücksichtigt werden.[34]
III. Ausblick
Die Berliner Entscheidung zeigt die Aktualität des „Klausurklassikers“, der dem Klausursteller vielfältigen Gestaltungsspielraum eröffnet und sich eignet klassische grundrechtliche Problemstellung in Kombination mit bereichspezifischem Wissen abzuprüfen. Vor dem Hintergrund der hohen verfassungsrechtlichen Hürden erscheint es sehr fraglich, ob die Entscheidung des AG-Tiergarten – die Anwältin des Verurteilten hat die Einlegung von Rechtsmittel angekündigt[35] – Bestand haben wird.
Fußnoten:
[1] AG Berlin-Tiergarten, Urt. v. 31. 07. 2018 – 229 DS 111/17. Siehe dazu auch taz, Deutschland unten ohne , 31.07.2018 (https://www.taz.de/Strafe-fuer-Flaggen-Kuerzung/!5520585/). Das Urteil ist bisher nicht veröffentlicht.
[2] Vgl. Burkiczak, JR , 2005, 50 (51); als weiteres Delikt kommt noch § 124 OWiG in Betracht, bei dem die selben verfassungsrechtlichen Erwägungen zu Grunde zu legen sind.
[3] Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage (2018), § 90a, Rdnr. 1.
[4] BVerfGE 81, 298.
[5] BVerfG, NJW , 2009, 908.
[6] BVerfG, NJW , 2012, 1273.
[7] Zum Prüfungsmaßstab Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, S. 310 ff.
[8] Wittreck, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage (2013), Art. 5 III, Rdnr. 67.
[9] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[10] BVerfGE 124, 300 (320).
[11] Epping, Grundrechte, 2017, Rdnrn. 214 f.; nicht erfasst sind erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen.
[12] BVerfGE 124, 300 (320 f.).
[13] BVerfGE 82, 272 (281); Grabenwarter, Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. 1, Rdnr. 61 (a.A. vertretbar).
[14] BVerfGE 7, 198 (209 f.).
[15] St. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht BVerfG, NJW , 2009, 908 (909); BVerfG, NJW , 2012, 1273 (1274); zum Begriff der allgemeinen Gesetze Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 241 ff.
[16] Siehe zur Wechselwirkungslehre Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 249 ff.
[17] So. st. Rechtsprechung seit BVerfGE 7, 198 (208 f.).
[18] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[19] Hufen, JuS , 2009, 951 (951).
[20] Vgl. Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage (2013), Art. 5 I, II, Rdnr. 179.
[21] Peisner, NJW , 2009, 897 (898) und Hufen, JuS , 2009, 951 (951).
[22] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[23] Siehe dazu Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 274 ff.
[24] BVerfGE 81, 278 (293).
[25] BVerfGE 81, 278 (293).
[26] BVerfGE 81, 278 (293 f.).
[27] BVerfGE 81, 298 (308).
[28] So auch m.w.N. Burkiczak, JR , 2005, 50 (51); ablehnend Gusy, JZ , 1990, 640 (641).
[29] Burkiczak, JR , 2005, 50 (51).
[30] BVerfGE 81, 278 (294).
[31] Wittreck (o. Fußn. 8), Rdnr. 59.
[32] BVerfGE 30, 173 (191 f.); daran anknüpfend Epping (o. Fußn. 11), Rdnr. 266; Wittreck (o. Fußn. 8), Rdnr. 76.
[33] So insbesondere Sachs, Verfassungsrecht II Grundrechte, 2017, S. 414.
[34] So zutreffend Kobor, JuS , 2006, 593 (596).
[35] taz, Schwaz-rot-gelbe Umgangsformen , 01.08.2018 (https://www.taz.de/!5520652/).