Art. 19 Abs. 1 GG lautet:
Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.
Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG sieht demnach vor, dass soweit ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes eingeschränkt werden kann, auch das jeweilige Grundrecht im Gesetz unter Angabe des Artikels genannt werden muss. In der verfassungsrechtlichen Klausur, aber auch im Verwaltungsrecht (im Rahmen einer inzidenten Kontrolle) kann das Zitiergebot Bedeutung erlangen. Aus diesem Grund sollen die examensrelevanten Standardprobleme, die in diesem Kontext vorkommen können, kurz erläutert werden.
I. Funktion des Zitiergebots
Das Zitiergebot hat für den Gesetzgeber zum einen eine Hinweisfunktion. Darüber hinaus steht im Vordergrund eine Warn- und Besinnungsfunktion, die vor Erlass eines Gesetzes beachtet werden muss. Es wird somit für den Gesetzgeber eine Art psychologische Barriere errichtet, die es vor jeder gesetzgeberischen Tätigkeit zu überwinden gilt. Es sollen hierdurch ungewollte Eingriffe in Grundrechte vermieden werden. Zudem soll sich der Gesetzgeber „über die Auswirkungen seiner Regelungen für die betroffenen Grundrechte Rechenschaft geben“ (BVerfGE 64, 72, 79).
Sofern das Zitiergebot beachtet werden muss, findet sich ein entsprechender Verweis auf die mögliche Beeinträchtigung eines Grundrechts entweder direkt bei der jeweiligen Eingriffsnorm oder (was häufiger der Fall ist) in einer Sammelnorm am Ende eines Gesetzes bzw. der Präambel.
II. Prüfungsstandort
Im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde kann das Zitiergebot als Schranken-Schranke bei der Prüfung einer Grundrechtsverletzung in die Prüfung eingebaut werden. Das bedeutet, dass zunächst Schutzbereich, Eingriff und Schranke der Rechtfertigung geprüft werden. Im Rahmen der Schranken-Schranken kann dann neben dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein Verstoß gegen das Zitiergebot erörtert werden.
Bei einer abstrakten Normenkontrolle kann ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG indes separat als eigener Prüfungspunkt im Rahmen der formellen Verfassungsmäßigkeit (Zuständigkeit, Verfahren, Form) bei der Form anzusprechen sein. Dies deshalb, da es sich streng genommen um eine formale Anforderung handelt (so Maunz/Dürig/Remmert, Art. 19 Abs. 1 GG, 2011, Rn. 33). Sofern das Zitiergebot im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit erörtert wird (wenn man das Zitieren als inhaltliches Erfordernis einordnet), dürfte dies auch noch vertretbar sein. In der Klausur gilt, da es sich um eine Aufbaufrage handelt, dass man keinerlei Erläuterungen hierzu abzugeben braucht.
Bei einer verwaltungsrechtlichen Klausur kann es (sofern dies vom Sachverhalt angedeutet wird) erforderlich sein, inzident die Verfassungsmäßigkeit einer Ermächtigungsgrundlage zu überprüfen. Vom Aufbau her wird dies nicht bereits bei dem Prüfungspunkt „Ermächtigungsgrundlage“ im Rahmen der Begründetheit einer verwaltungsrechtlichen Klage (oder eines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz) zu erörtern sein, sondern erst als vorgeschobener erster Prüfungspunkt bei der materiellen Rechtmäßigkeit der Maßnahme. Sofern das Ergebnis dann lautet, dass das Gesetz wegen Verstoß gegen das Zitiergebot verfassungswidrig und damit nichtig ist, brauchen dessen Tatbestandsmerkmale nicht mehr zu subsumiert werden.
III. Anwendungsbereich – Gesetz
Der Begriff des „Gesetzes“ i.S.d. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG meint jedes Bundes- oder Landesgesetz im formellen Sinne. Somit sind nur Gesetze, die von einem Parlament erlassen wurden, erfasst. Rechtsverordnungen und Satzungen, die Gesetze im nur materiellen Sinne darstellen, brauchen hingegen nicht dem Zitiergebot zu genügen. Das Zitiergebot gilt es hingegen notwendig bei der vom Parlamentsgesetzgeber erlassenen Ermächtigungsgrundlage zu beachten, wenn hierdurch die Exekutive zu grundrechtseinschränkenden gesetzgeberischem Handeln ermächtigt wird.
IV. Reichweite des Zitiergebots
Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der Anwendungsbereich durchweg geringfügiger, als es der Gesetzeswortlaut des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG bei unvoreingenommenen Lesen zunächst vermuten lässt.
Unumstritten und dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nach eindeutig ist, dass das Zitiergebot Anwendung findet, sobald durch Gesetz in Grundrechte eingegriffen werden kann, die einem ausdrücklich formulierten Einschränkungsvorbehalt unterliegen. Erfasst sind demnach alle Grundrechte, bei denen eine Einschränkung „durch oder aufgrund eines Gesetzes“ möglich ist. Hierzu zählen insbesondere die Folgenden Schranken und deren korrespondierende Grundrechte: Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 6 Abs. 3, Art. 8 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2S. 1 1, Art. 11 Abs. 2, Art. 13 Abs. 2, Abs.3 und Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG (vgl. Maunz/Dürig/Remmert, Art. 19 Abs. 1 GG, 2011, Rn. 43 f.).
Anderes gilt nach dem BVerfG für alle übrigen Grundrechte, also insbesondere solche, die grundsätzlich vorbehaltlos gewährleistet werden und solche mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt. Für die Folgenden Grundrechte muss das Zitiergebot deshalb nicht beachtet werden: Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Abs. 3 und alle übrigen vorbehaltslos gewährleisteten Grundrechte (vgl. Maunz/Dürig/Remmert, Art. 19 Abs. 1 GG, 2011, Rn. 43 f.).
Als Argumente für diese Auslegung wird vom BVerfG zum einen eine restriktive Auslegung des Wortlauts des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG vorgebracht. Des Weiteren solle der Gesetzgeber durch überzogene Formanforderungen nicht in seiner Arbeit unnötig behindert werden. In der Literatur ist diese Argumentation auf Kritik gestoßen. Für die Klausur bietet es sich gleichwohl an, der Meinung des BVerfG mittels der o.g. Aspekte zu folgen. Sofern das Zitiergebot bei einem der unstreitigen Fälle in Frage steht, kann der Streit dahingestellt bleiben.
V. Reflexwirkungen
Nach dem BVerfG ist das Zitiergebot zudem grundsätzlich nur dann zu beachten, wenn die von einem Gesetz ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen auf finale Eingriffe abstellen. Bloße Rechtsreflexe, die sich auf unbestimmte Dritte auswirken, sind dementsprechend nicht für die Betrachtung nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG relevant. Nur dann, wenn bei objektiver ex-ante-Sicht mit einer gesetzlichen Regelung notwendig Grundrechtseinschränkungen bei Dritten verbunden sind, müssen deren Grundrechte ebenfalls mit dem Zitiergebot berücksichtigt werden.
Als Beispiel lässt sich der Folgende Fall (nach BVerfG NJW 1999, 3399) heranziehen: Ein an Organspender gerichtetes Verbot, Körperorgane an Personen außerhalb eines besonderen Näheverhältnisses zur Verfügung zu stellen, tangiert neben der allgemeinen Handlungsfreiheit des Spenders mittelbar natürlich auch das Grundrecht auf Gesundheit (und u.U. sogar auf Leben) des potentiellen Empfängers einer solchen Spende. Trotzdem muss das Zitiergebot im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht beachtet werden, da die Folge für den potentiellen Empfänger nur einen mittelbaren Rechtsreflex darstellt. Final und unmittelbar richtet sich das hier besprochene Gesetz nur an den willigen Organspender.
VI. Verfassungsändernde Gesetze
Von der Beachtung des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG befreit sind allerdings solche grundrechtseinschränkende Gesetze, die die Verfassung ändern. Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG überlagert insofern die Vorgabe des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG. Dies ist aufgrund der besonderen Anforderungen, die an die Verfassungsänderung zu stellen sind, gerechtfertigt.
VII. Zweifaches Zitieren
Das BVerfG geht weiter davon aus, dass das Zitiergebot nicht anzuwenden ist, wenn gesetzliche Neuregelungen „bereits geltende Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederholen“ (vgl. etwa BVerfGE 5, 13, 16). Sofern also bereits eine Eingriffsnorm besteht, wobei das Zitiergebot auch beachtet wurde, kann durchaus in einem neuen zusätzlichen Gesetz der gleiche Eingriff mit den gleichen Voraussetzungen wiederholt werden, ohne dass erneut Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG entsprochen werden muss.
Zur Verdeutlichung kann das folgende Beispiel zum Recht des Untersuchungsausschusses dienen: Nach Art 43 Abs. 2 GG i.V.m. § 70 Abs. 1 StPO kann im Falle einer grundlosen Zeugnisverweigerung Haft angedroht werden. Dies stellt eine Beschränkung der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) dar, so dass Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG zu wahren ist. Die gleiche (in Nuancen etwas abgeschwächte Regelung) findet sich auch in § 27 Abs. 2 PUAG. Da für die StPO bereits das Zitiergebot gewahrt wurde, muss Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG bei der Regelung des PUAG nicht erneut beachtet werden, obwohl diese Regelung auch die Freiheit der Person beschränkt. Die Funktion des Zitiergebots, nämlich die Warnung des Gesetzgebers vor Grundrechtsbeeinträchtigungen, bleibt gewahrt, da mit der zweiten Regelung keine zusätzlichen Eingriffe verbunden sind.
Bei der Änderung eines bestehenden Gesetzes, das das Zitiergebot wahrt, gilt es Folgendes zu beachten: Das Zitiergebot ist hier nur dann anzuwenden, wenn eine gesetzliche Regelung Eingriffsvoraussetzungen der Norm verändert oder wenn neue Grundrechtseinschränkungen hinzukommen. Bei einer Änderung einer Norm, wobei das Zitiergebot zu beachten ist, bedarf es darüber hinaus eines ausdrücklichen Hinweises auf das einzuschränkende Gesetz im entsprechenden Änderungsgesetz selbst (so etwa BVerfGE 113, 348).
VIII. Nur nachkonstitutionelle Gesetze
Keine Anwendung findet das Zitiergebot nach dem BVerfG auch auf vorkonstitutionelle Gesetze (vgl. BVerfGE 5, 13, 16), also solche, die vor Inkrafttreten der Verfassung des GG in Kraft waren. Sofern ein solches Gesetz aber in dem Sinne geändert wird, dass die Eingriffsvoraussetzungen bzw. die Eingriffsreichweite modifiziert wird, gilt wie oben beschrieben das Zitiergebot.
IX. Zitiergebot beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht
Zu guter Letzt ist insbesondere auch umstritten und bislang nicht vom BVerfG geklärt, ob das Zitiergebot bei möglichen Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewahrt werden muss (dafür etwa Sachs/Sachs, Art. 19 GG, Rn. 29; offengelassen von BVerfGE 120, 274, 340). Aufgrund dieser Besonderheit und aufgrund der sonstigen Examensrelevanz von Problemkreisen rund um das APR bietet sich eine solche Konstellation gut für eine Klausur oder die mündliche Prüfung an.
Zum einen kann man hier mit der grundsätzlich restriktiven Haltung des BVerfG zum Zitiergebot argumentieren. Des Weiteren steckt im APR neben Art. 2 Abs. 1 GG auch der Gedanke des Art. 1 Abs. 1 GG. Eingriffe in die Menschenwürde sind ohnehin nicht zu rechtfertigen, so dass das Zitiergebot im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG nie beachtet werden muss. Dies spricht somit auch gegen die Beachtung des Zitiergebots bei möglichen Eingriffen in das APR. Bis dahin gilt es eine Entscheidung des BVerfG allerdings noch abzuwarten.