In einer kürzlich ergangenen Entscheidung hat sich das BVerfG (v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a.) zu der schon seit Jahrzehnten diskutierten Frage geäußert, ob der Untreuetatbestand (§ 266 StGB) dem straf- und verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügt. Die Entscheidung bietet eine gute Gelegenheit, noch einmal die Grundsätze des Bestimmtheitsgebotes zu wiederholen; dieses ist sowohl in Klausuren wie in der mündlichen Prüfung immer wieder gefragt (neben § 266 StGB etwa bei § 240 StGB). Dort wird überlicherweise erwartet, dass der Prüfling die Problematik möglicherweise unzureichender Bestimmtheit sieht, das rechtsstaatliche Problem dahinter erkennt und dann mit den vom BVerfG vorgegebenen Argumenten zu einem vertretbaren Ergebnis kommt. Dabei wird das Ergebnis praktisch immer sein, dass – insbesondere im Hinblick auf die Konkretisierung durch jahrelange Rechtsprechung – die Norm gerade noch bestimmt genug ist.
I. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe des Bestimmtheitsgebotes (Art. 103 Abs. 2 GG)
1. Das Bestimmtheitsgebot für den Gesetzgeber
Diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe entwickelt das BVerfG in der vorliegenden Entscheidung sehr schön. Es folgt dabei dem üblichen Einerseits-andererseits Schema: Zunächst wird die Bedeutung des Bestimmtheitsgebotes dargestellt, dann aber auf die praktischen Bedürfnissen geschuldete notwendige Eingrenzung hingewiesen.
„Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie.“(Rn. 62).
„Einerseits soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt […] Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit zählt; es ist eine grundlegende Entscheidung […] Andererseits geht es um den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Art. 103 Abs. 2 GG hat insofern freiheitsgewährleistende Funktion […] (Rn. 71f.)“
Also gilt:
„Für den Gesetzgeber enthält Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Funktion als Bestimmtheitsgebot dementsprechend die Verpflichtung, wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess zu klären und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 75, 329 <340 f.>).“(Rn. 72)
Und jetzt kommt das der Praktikabiltät geschuldete ABER:
„Allerdings muss der Gesetzgeber auch im Strafrecht in der Lage bleiben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden (BVerfGE 28, 175 <183>; 47, 109 <120>). Müsste er stets jeden Straftatbestand bis ins Letzte ausführen, anstatt sich auf die wesentlichen für die Dauer gedachten Bestimmungen über Voraussetzungen, Art und Maß der Strafe zu beschränken, bestünde die Gefahr, dass die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden könnten (vgl. BVerfGE 14, 245 <251>). […] Wegen der gebotenen Allgemeinheit und der damit zwangsläufig verbundenen Abstraktheit von Strafnormen ist es unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht.“ (Rn. 73f.)
„Welchen Grad an gesetzlicher Bestimmtheit der einzelne Straftatbestand haben muss, lässt sich nach alledem nicht allgemein sagen (BVerfGE 28, 175 <183>). Deshalb ist im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung möglicher Regelungsalternativen […] wobei der Gesetzgeber die Strafbarkeitsvoraussetzungen umso genauer festlegen und präziser bestimmen muss, je schwerer die von ihm angedrohte Strafe ist (BVerfGE 75, 329 <342>).“ (Rn. 75)
„Soweit es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Grenzfällen ausnahmsweise genügt, wenn lediglich das Risiko einer Bestrafung erkennbar ist (vgl. BVerfGE 48, 48 <56 f.>; 92, 1 <12>), trägt dies der Unvermeidbarkeit von Randunschärfen Rechnung. “ (Rn. 76)
Und jetzt kommt der „Zaubertrick“ der gefestigten Rechtsprechung:
„Verfassungsrechtliche Bedenken, die die Weite eines Tatbestands (-merkmals) bei isolierter Betrachtung auslösen müsste, können zudem durch weitgehende Einigkeit über einen engeren Bedeutungsinhalt, insbesondere durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, entkräftet werden (vgl. BVerfGE 26, 41 <43>; 87, 209 <226 f.>; 92, 1 <18>).“ (Rn. 76).
2. Bestimmtheitsgebot für die Rechtsprechung
Das Gesagte gilt auch für die Rechtsprechung – sie muss die Vorgaben des Gesetzgebers, der unter Beachtung des Bestimmtheitsgebotes Gesetze geschaffen hat, beachten:
„Dementsprechend darf die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. In Betracht kommt aber auch, dass bei methodengerechter Auslegung ein Verhalten nicht strafbewehrt ist, obwohl es vom Wortlaut des Strafgesetzes erfasst sein könnte. […] Vielmehr haben die Gerichte dies zu respektieren und erforderlichenfalls durch restriktive Auslegung eines weiter gefassten Wortlauts der Norm sicherzustellen (vgl. BVerfGE 82, 236 <270 f.>; 87, 399 <411>), im Ergebnis also freizusprechen..“ (Rn. 79)
Bei unklaren Normen besteht für die Fachgerichten ein Präzisierungsgebot:
„Art. 103 Abs. 2 GG enthält zudem Vorgaben für die Handhabung weit gefasster Tatbestände und Tatbestandselemente. Die Gerichte dürfen nicht durch eine fernliegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren Konturen mehr erkennen lässt, dazu beitragen, bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm zu erhöhen, und sich damit noch weiter vom Ziel des Art. 103 Abs. 2 GG entfernen (vgl. BVerfGE 71, 108 <121>; 87, 209 <224 ff., 229>; 92, 1 <19>). Andererseits ist die Rechtsprechung gehalten, verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzisierungsgebot). Besondere Bedeutung hat diese Pflicht bei solchen Tatbeständen, die der Gesetzgeber im Rahmen des Zulässigen durch Verwendung von Generalklauseln verhältnismäßig weit und unscharf gefasst hat.“ (Rn. 81)
Auch dem Verfassungsgericht selbst kommt eine Rolle bei der Absicherung des Bestimmtheitsgebotes zu – es überprüft die Einhaltung desselben durch die Fachgerichte voll. Dies ist eine Abweichung von dem Grundsatz, dass Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts Sache der Fachgerichte ist. Sie ist durch die Bedeutung des Art. 103 Abs. 2 GG gerechtfertigt.
„Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung, ob die Strafgerichte diesen aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Vorgaben gerecht geworden sind, ist das Bundesverfassungsgericht nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt. Der in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommende strenge Gesetzesvorbehalt erhöht die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Sowohl die Überschreitung der Grenzen des Strafgesetzes als auch die Konturierung und Präzisierung ihres Inhalts betreffen die Entscheidung über die Strafbarkeit und damit die Abgrenzung von Judikative und Legislative. Für die Klärung der insoweit aufgeworfenen Fragen ist das Bundesverfassungsgericht zuständig.“ (Rn. 82)
II. In concreto: Ist § 266 StGB verfassungsgemäß?
Der Streit darum, ob § 266 StGB dem straf- und verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügt, ist (beinahe) so alt wie das Grundgesetz (s. bereits H. Mayer, Die Untreue, Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 1, Gutachten der Strafrechtslehrer, 1954, S. 337; für den aktuellen Meinungsstand vgl. nur MüKoStGB/Dierlamm, 1. Aufl. 2006, § 266 Rn. 3 m.w.N.).
Besonders eklatant ist die Problematik der Unbestimmtheit des Tatbestandes in den jüngeren wirtschaftsstrafrechtlichen Fällen zu Tage getreten, gegen die sich auch die Verfassungsbeschwerden richteten. In den Fällen um die schwarzen Kassen bei Siemens hat es der BGH die bloße Führung schwarzer Kassen als endgültigen Vermögensschaden ausreichen lassen, obwohl die Täter die Kasse nicht selbst eingerichtet, sondern von ihren Vorgängern übernommen und das Geld weiterhin für Zwecke ihres Arbeitgebers eingesetzt haben (BGH v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07, NJW 2009, 89). Das Landgericht Berlin hat sogar – im Einklang mit älterer Rechtsprechung – eine bloße Vermögensgefährung nicht weiter spezifizierten Ausmaßes für ausreichend gehalten. Kriterien dafür, ob eine konkrete Forderung gefährdet war, waren, ob mit der Begründung der Forderung „weit von den Geboten kaufmännischer Sorgfalt abgewichen wurde“ oder ob der Angeklagte nach „nach Art eines Spielers“ gehandelt hat.
1. Untreuetatbestand als solcher verfassungsgemäß
„Nach diesen Maßstäben ist der Untreuetatbestand in seiner geltenden Fassung mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG noch zu vereinbaren. § 266 Abs. 1 StGB lässt ein Rechtsgut ebenso klar erkennen wie die besonderen Gefahren, vor denen der Gesetzgeber dieses mit Hilfe des Tatbestands schützen will (1.). Vor diesem Hintergrund kann der Tatbestand trotz seiner Weite und damit einhergehenden relativen Unschärfe (2.) hinreichend restriktiv und präzisierend ausgelegt werden, um den unter dem Gesichtspunkt ausreichender Bestimmtheit bestehenden Bedenken angemessen Rechnung zu tragen (3.).“ (Rn. 85)
Der Untreuetatbestand ist zwar weit, da er völlig unterschiedliche Sachverhalte erfassen soll…
„Folge [der gesetzgeberischen] Konzeption ist, dass der Untreuetatbestand in beiden Varianten sehr abstrakt formuliert und von großer Weite ist. Entsprechend hoch ist seine Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit.“ (Rn. 92)
Aber er lässt sich hinreichend konkretisieren. Dabei hilft die enge Auslegung des Begriffs der Vermögensbetreuungspflicht:
Dementsprechend ist in Rechtsprechung und Lehre heute anerkannt, dass allein der Bezug einer Verpflichtung zu fremden Vermögensinteressen sie noch nicht zur Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 Var. 2 StGB macht. Die Pflicht, einen Vertrag zu erfüllen, genügt danach als solche ebenso wenig wie die allgemeine vertragliche Nebenpflicht (vgl. § 241 Abs. 2, § 242, § 311 Abs. 2 BGB), auf die (Vermögens-) Interessen des Partners Rücksicht zu nehmen; der bloße Vertragsbruch soll nicht unter Strafe stehen. […] Die gefestigte Rechtsprechung in diesem Bereich ist geeignet, den Anwendungsbereich des Untreuetatbestands im Sinne der dahinterstehenden Schutzkonzeption zu begrenzen.
Insbesondere da dieses durch die Rechtsprechung in langen Entscheidungsreihen konkretisiert wurde und sich klare Fallgruppen erkennen lassen:
„Auch das Merkmal der Pflichtwidrigkeit hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in fallgruppenspezifischen Obersätzen hinreichend in einer Weise konkretisiert, die die Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit im Regelfall sichert. Voraussehbarkeit der Strafdrohung und Kohärenz der Rechtsordnung stehen in engem Zusammenhang. Die Ziele dementsprechender Auslegung müssen von Verfassungs wegen darin bestehen, die Anwendung des Untreuetatbestands auf Fälle klarer und deutlicher (evidenter) Fälle pflichtwidrigen Handelns zu beschränken, Wertungswidersprüche zur Ausgestaltung spezifischer Sanktionsregelungen zu vermeiden und den Charakter des Untreuetatbestands als eines Vermögensdelikts zu bewahren. Die (Fort-)Entwicklung geeigneter dogmatischer Mittel zu diesem Ziel obliegt in erster Linie den Strafgerichten und hier vornehmlich den Revisionsgerichten.(Rn. 111)“
Dort, wo Bedenken bestehen, muss der Tatbestand restriktiv ausgelegt werden. Dies gilt insbesondere für den Begriff des „Vermögensnachteils“, s. dazu sogleich.
2. Aber eine eingrenzende Auslegung erforderlich
Deshalb reicht es nicht aus, nur global eine nicht näher bezifferte Vermögensgefährung festzustellen. Damit wird das vom Gesetgeber zur Eingrenzung geschaffene Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens letztlich fallengelassen („verschliffen“). Dies ist unzulässig. Vielmehr muss auch die Gefährdung als konkreter Schaden nachweisbar sein:
„Im Falle des Nachteilsmerkmals muss die Auslegung den gesetzgeberischen Willen beachten, dieses Merkmal als selbständiges neben dem der Pflichtverletzung zu statuieren; sie darf daher dieses Tatbestandsmerkmal nicht mit dem Pflichtwidrigkeitsmerkmal verschleifen, das heißt, es in diesem Merkmal aufgehen lassen (zu dieser Gefahr vgl. Saliger, ZStW 112 <2000>, S. 563 <610>; ders., HRRS 2006, S. 10 <14>). Deswegen und um das Vollendungserfordernis zu wahren, sind eigenständige Feststellungen zum Vorliegen eines Nachteils geboten. Von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen – etwa bei einem ohne weiteres greifbaren Mindestschaden – abgesehen, werden die Strafgerichte den von ihnen angenommenen Nachteil der Höhe nach beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darlegen müssen.“ (Rn. 113)
Deshalb ist die bisherige Rechtsprechung nicht verfassungsgemäß:
„Demgegenüber hält die Rechtsprechung in den Fällen des Gefährdungsschadens eine konkrete Feststellung der Schadenshöhe nach anerkannten Bewertungsmaßstäben nicht durchweg für erforderlich. [… Liegt demnach nach den Kritieren der Rechtsprechung ein Gefährung einer konkreten Forderung vor,] dann wird die Forderung mit ihrem Nominalbetrag als Vermögensnachteil in Form einer Vermögensgefährdung eingestuft, die wegen des hohen Ausfallrisikos schadensgleich ist. Bei der Strafzumessung wird aber auf den „echten“ Schaden abgestellt, indem schuldmindernd bewertet wird, dass „nur“ ein Gefährdungsschaden vorgelegen hat (vgl. Nack, StraFo 2008, S. 277 <280>). Zugunsten des Verzichts auf eine Quantifizierung des Gefährdungsschadens werden die mit einer Bewertung verbundenen praktischen Schwierigkeiten angeführt, die auch durch den Einsatz von Sachverständigen nicht ohne weiteres zu bewältigen seien.“ (Rn. 147f.)
„Der Verzicht auf eine eigenständige Ermittlung des Nachteils, wozu angesichts der Schwierigkeiten der Beurteilung bei Kreditvergaben in der Regel die Konkretisierung des Schadens der Höhe nach anhand üblicher Maßstäbe des Wirtschaftslebens gehört, begegnet durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Er ist geeignet, die eigenständige strafbarkeitsbegrenzende Funktion des Nachteilsmerkmals zu unterlaufen, indem an die Stelle der vom Gesetzgeber gewollten wirtschaftlichen Betrachtung eine weitgehend normativ geprägte Betrachtungsweise tritt, wie die zitierten Formeln der Rechtsprechung (weite Abweichung von den Geboten kaufmännischer Sorgfalt, Handeln nach Art eines Spielers) zeigen. Ein eigenständiger, über das Merkmal der Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht hinausgehender Gehalt des Nachteilsmerkmals ist bei solcher Auslegung nicht mehr zu erkennen; es findet eine „Verschleifung“ der Tatbestandsmerkmale entgegen der gesetzgeberischen Intentionen statt.“ (Rn. 149)
„Damit wird die Entscheidung des Gesetzgebers gegen die Versuchsstrafbarkeit unterlaufen. Erst die konkrete wirtschaftliche Auswirkung macht eine zukünftige Verlustgefahr zu einem gegenwärtigen Schaden. Wird auf die nachvollziehbare, in der Regel zahlenmäßig zu belegende Ermittlung und Benennung des („Gefährdungs“-) Schadens verzichtet, besteht die Gefahr einer allgemeinen und undifferenzierten Gleichsetzung von (zukünftiger) Verlustgefahr und (gegenwärtigem) Schadens. […]“ (Rn. 150).
„Um eine derartige verfassungswidrige Überdehnung des Untreuetatbestands in den Fällen des Gefährdungsschadens zu vermeiden, ist es notwendig – aber auch ausreichend -, die bereits dargelegten Maßgaben für die präzisierende und restriktive Auslegung des Nachteilsmerkmals strikt zu beachten. Danach sind auch Gefährdungsschäden von den Gerichten in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise festzustellen. Anerkannte Bewertungsverfahren und -maßstäbe sind zu berücksichtigen; soweit komplexe wirtschaftliche Analysen vorzunehmen sind, wird die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich sein. Die im Falle der hier vorzunehmenden Bewertung unvermeidlich verbleibenden Prognose- und Beurteilungsspielräume sind durch vorsichtige Schätzung auszufüllen. Im Zweifel muss freigesprochen werden. (Rn. 151)“
III. Ergebnis
Im Ergebnis hat das BVerfG die Rechtsprechung des BGH zum Fall Siemens durchgewinkt. Für unzulässig hält es allerdings den globalen Verweis auf eine „Vermögensgefährung“ als Schaden; hier verlangt es einen konkreten, bezifferten Nachweis eines Schadens, der freilich auch in einer Gefährung liegen mag (ähnlich einer Abschreibung im Bilanzrecht).