Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Johannes veröffentlichen zu können. Er ist Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht der Uni Bonn.
Der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt, seine Rechtsprechung zum Grundsatz der Tarifeinheit zu ändern, und hat deshalb nach § 45 Abs. 3 S. 1 ArbGG eine Divergenzanfrage an den Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts gerichtet.
A. Prozessuales
Die Divergenzanfrage ist eine Vorstufe der Vorlage an den großen Senat des BAG. Dieser entscheidet nach § 45 Abs. 1 ArbGG, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will. Nach § 45 Abs. 3 S. 1 ArbGG ist dies Vorlage an den großen Senat jedoch nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Rechtssprechung abgewichen werden soll, erklärt, er halte an seiner Rechtsauffassung fest. Vorliegend hatten der vierte und der zehnte Senat den Grundsatz der Tarifeinheit ihrer Rechtsprechung zu Grunde gelegt. Der Vierte Senat möchte nunmehr davon abweichen. Entsprechend muss sich der zehnte Senat erklären, ob er an der Rechtsprechung festhalten möchte.
B. Vorgeschlagene Lösung
Der vierte Senat würde den Fall wie folgt lösen:
I. Sachverhalt
Der Kläger war im Krankenhaus der Beklagten als Arzt beschäftigt und verlangt für den Monat Oktober 2005 einen Urlaubsaufschlag nach den Bestimmungen des Bundesangestellten-Tarifvertrages (BAT). Er ist Mitglied des Marburger Bundes (=“Gewerkschaft der Ärzte“). Die Beklagte ist Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband, der Mitglied in der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist.
Ursprünglich hatten die Arbeitgeberseite (VKA) und sowohl ver.di als auch der Marburger Bund die Geltung des BAT vereinbart. Zum 01.10.2005 ersetzen ver.di und VKA den BAT in durch den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Der Marburger Bund war an den Verhandlungen dazu nicht beteiligt. Das beklagte Krankenhaus war daher ab dem 01.10.2005 sowohl an den zwischen dem Marburger Bund und der VKA noch weiterhin geltenden BAT als auch an den TVöD unmittelbar tarifgebunden.
Die Beklagte verweigerte die Zahlung des Urlaubsaufschlags nach dem BAT, weil der für die Mitglieder des Marburger Bundes auch noch nach dem 01.10.2005 geltende BAT nach dem Grundsatz der so genannten Tarifeinheit ab diesem Zeitpunkt vom TVöD als speziellerem Tarifvertrag verdrängt worden sei.
II. Lösung
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung des Urlaubsaufschlages nach den Vorschriften des BAT, wenn diese gem. § 4 Abs. 1 S. 1 TVG zwischen ihm und dem Arbeitgeber gelten.
Nach § 4 Abs. 1 S. 1 TVG gelten die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen. Wer tarifgebunden ist, ist in § 3 Abs. 1 TVG geregelt: Danach sind tarifgebunden Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrags ist. Vorliegend ist der Kläger Mitglied des Marburger Bundes und die Beklagte Mitglied im Arbeitgeberverband VKA. Da zwischen diesen Tarifvertragsparteien ein Tarifvertrag, nämlich der BAT, vereinbart wurde, finden dessen Normen grundsätzlich Anwendung auf das Arbeitsverhältnis des Klägers.
1. Bisherige Rechtsprechung: Grundsatz der Tarifeinheit
Allerdings könnte der Anwendung des Tarifvertrages der – ungeschriebene – Grundsatz der Tarifeinheit entgegenstehen. Er besagt – nach bisherigem Verständnis des BAG – zweierlei: Für das einzelne Arbeitsverhältnis dürfen immer nur die Bestimmungen eines Tarifwerkes derselben Tarifvertragsparteien gelten (Auflösung sog. Tarifkonkurrenz). Er kommt jedoch nach der bisherigen Rechtsprechung auch dann zum Tragen, wenn ein Betrieb vom Geltungsbereich mehrerer Tarifverträge erfasst wurde, an die der Arbeitgeber deshalb gebunden war, weil er Mitglied im tarifschließenden Arbeitgeberverband oder selbst Tarifvertragspartei war, während demgegenüber für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Gewerkschaftsmitgliedschaft nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung fand (Tarifpluralität). In einem solchen Fall sollte der speziellere Tarifvertrag alle weiteren verdrängen.
Vorliegend ist der Arbeitgeber durch die Mitgliedschaft im VKA gegenüber den Mitgliedern des Marburger Bundes an den BAT, gegenüber den Mitgliedern von Ver.di jedoch an den TVöD gebunden. Damit liegt ein Fall der Tarifpluralität vor. Speziellerer Tarifvertrag wäre in diesem Fall der TVöD, da der BAT auf Grund der begrenzten Mitgliederschaft des Marburger Bundes nur die Ärzte im Betrieb des Beklagten erfassen würde. Entsprechend würde der BAT verdrängt, so dass der Kläger keinen Anspruch aus diesem geltend machen kann.
Für den Grundsatz der Tarifeinheit führte die Rechtsprechung im Wesentlichen Praktikabilitätserwägungen an. Nur die Geltung eines Tarifwerkes gewährleiste eine praktisch handhabbare und durchschaubare Regelung der Arbeitsbedingungen im einzelnen Arbeitsverhältnis. Die Rechtssicherheit erfordere auch, dass alle Arbeitsverhältnisse eines Betriebes demselben Tarifwerk unterstünden. Die Tarifbindung des Arbeitgebers als Anknüpfungspunkt gewährleiste eine vom Wechsel der Arbeitnehmer und vom Zufall unabhängige betriebseinheitliche Anwendung desjenigen Tarifvertrags, der den Erfordernissen des Betriebes und der beschäftigten Arbeitnehmer entspreche. Rechtliche und tatsächliche Unzuträglichkeiten, die sich aus einem Nebeneinander oder aus der Nichtanwendung von Tarifverträgen in einem Betrieb ergeben, würden dadurch vermieden Außerdem unterscheidet das Tarifvertragsrecht unterscheidet Individual- (§ 4 Abs. 1 S. 1 TVG) und Betriebsnormen (§§ 4 Abs. 1 S. 2, 3 Abs. 2 TVG). Da immer nur die Betriebsnormen eines Tarifvertrages auf in jedem Betrieb angewandt werden, muss in diesem Bereich Tarifeinheit gewahrt bleiben. Die Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit auch auf Individualnormen erspart die schwierige Abgrenzung von Betriebs- und Individualnormen.
2. Beabsichtigte Änderung: Tarifpluralität
Nunmehr beabsichtigt das BAG, seine Rechtsprechung zu ändern und den Grundsatz der Tarifeinheit auf Fälle der Tarifkonkurrenz zu beschränken. Tarifpluralität (ein Tarifvertrag pro Arbeitsverhältnis, aber mehrere Tarifverträge in einem Betrieb) wäre demnach möglich.
Vorliegend wäre die Klage begründet, da der Kläger seinen Anspruch aus dem BAT, der im Betrieb neben dem TVöD Anwendung fände, herleiten kann.
Die Rechtsnormen des BAT gelten im Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund der beiderseitigen Mitgliedschaft in den tarifschließenden Koalitionen unmittelbar und zwingend nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. Deshalb kann der Kläger einen Urlaubsaufschlag nach den Bestimmungen des BAT verlangen. Eine gesetzlich angeordnete Regelung für die Verdrängung dieser durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehenen Geltung besteht ebenso wenig wie eine zur Rechtsfortbildung berechtigende Lücke im Tarifvertragsgesetz angenommen werden kann. Die Verdrängung eines geltenden Tarifvertrages nach dem Grundsatz der Tarifeinheit in den Fällen einer durch Mitgliedschaft oder durch die Stellung als Tarifvertragspartei begründeten Tarifpluralität ist zudem mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu verein- baren. Schließlich lässt sich die zwangsweise Auflösung der verfassungsrechtlich vorgesehenen Tarifpluralität auch nicht mit möglichen Auswirkungen auf andere Rechtsbereiche rechtfertigen. Die aus einer Tarifpluralität möglicherweise erwachsenden Folgen z.B. für Arbeitskämpfe sind im Bereich des Arbeitskampfrechts zu lösen; entsprechendes gilt für das Betriebsverfassungsrecht.
III. Hinweis: Folgen der Entscheidung
Wie das BAG am Ende der Begründung andeutet, würde die Zulassung von Tarifpluralität weite Kreise ziehen, vor allem im Arbeitskampfrecht. Zunächst hätte die Zulassung von Tarifpluralität schwerwiegende Folgen für die das Verhältnis von Einheits- zu Spartengewerkschaften. Spartengewerkschaften, die nur eine Berufsgruppe vertreten (etwa Cockpit die Piloten) können auch nur für diese Gruppe einen Tarifvertrag schließen. Diese Tarifverträge werden – bei Geltung von Tarifeinheit – häufig durch Tarifverträge der großen Einheitsgewerkschaften (etwa ver.di), die alle Berufsgruppen eines Betriebes erfassen, verdrängt. Erlaubt man das Nebeneinander verschiedener Tarifverträge, stärkt man die Spartengewerkschaften, da ihre Tarifverträge anwendbar bleiben. Gleichzeitig sind Spartengewerkschaften, die häufig Funktionseliten vertreten, also Arbeitnehmer, die für den Arbeitgeber unverzichtbar sind, besonders kampfstark und können dementsprechend gute Abschlüsse erreichen. Dies kann zu Ungleichheiten und Unzufriedenheit in der Belegschaft führen. Es drohen Verteilungskämpfe innerhalb der Gruppe der Arbeitnehmer, wenn ein kleiner Teil der Belegschaft für sich hohe Löhne erstreitet, die letztlich auch auf Kosten der anderen Arbeitnehmer gehen.
Auch für den Arbeitgeber ist Tarifpluralität nicht ohne Folgen. Gibt es mehrere Tarifverträge, so drohen auch mehrere Arbeitskämpfe, also insgesamt häufigere Streiks. Diese müssen nicht abgestimmt sein. Hat ver.di gerade einen Vertrag unterschrieben, kann der Arbeitskampf mit dem Marburger Bund beginnen. Es besteht außerdem die Gefahr, dass sich die Gewerkschaften im Kampf um Mitglieder radikalisieren und sich mit ihren Forderungen gegenseitig hochschaukeln.
IV. Examensrelevanz
Die Praxisrelevanz der Entscheidung ist immens hoch, ihre Examensrelevanz im Verhältnis dazu relativ gering. Fragen des kollektiven Arbeitsrechts sind nicht Pflichtfachstoff. Wer Arbeitsrecht im Schwerpunkt hat, muss diese Entscheidung aber kennen!
BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010 – 4 AZR 549/08 (A)