Europarecht ist längst nicht mehr bloß ein Randgebiet, das eher selten in den Examensklausuren dran kommt – im Zivilrecht (Stichwörter: Quelle-Backofen-Fall, EuGH Entscheidung in der Rechtssache „Heinrich Heine“ oder aber „Kücükdeveci“ im Arbeitsrecht) wie auch im Öffentlichen Recht. Aktuell lief beispielsweise in der Ö-Recht Klausur im Examenstermin II/2009 in Bayern und auch in einigen anderen Bundesländern der Doc-Morris II-Fall i.V.m. mit einigen Fragen aus dem Verfassungsrecht. In NRW wurde im Examenstermin Mai 2010 in einer Verwaltungsrechtklausur einstweiliger Rechtsschutz im Zusammenspiel mit einer Verordnung und der Grundrechtscharta der Europäischen Union, die seit dem Vertrag an Lissabon enorm an Bedeutung gewonnen hat, abgeprüft.
Die Alcan-Entscheidung des Gerichtshofs aus dem Jahr 1997 ist ein Klassiker im Öffentlichen Recht, der beispielhaft zeigt, wie im Rahmen einer Verwaltungsrechtklausur europarechtliche Probleme eingebaut werden können.
Sachverhalt
Das Land Rheinland-Pfalz gewährte Anfang der 80er Jahre der Alcan Deutschland GmbH, die eine Aluminiumhütte in Ludwigshafen betrieb und sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand, Subventionen in Höhe von 8 Mio. Euro, um die Schließung der Hütte zu verhindern und die Arbeitsplätze zu erhalten. Der EG-Kommission teilte das Land hiervon nichts mit. Als die Kommission später in der Presse davon erfuhr, leitete sie ein Verfahren ein, in welchem sie feststellte, dass die Subvention mit Art. 107 AEUV (früher Art. 87 EGV) unvereinbar sei und zurückgezahlt werden müsse. Das Land Rheinland-Pfalz blieb jedoch untätig, weil im Fall der Rückforderung der Konkurs der Hütte gedroht hätte. Daraufhin erhob die Kommission eine Klage nach Art. 258 AEUV (früher Art. 226 EGV) vor dem EuGH, der die Bundesrepublik Deutschland verurteilte, von der Hütte die Rückzahlung der Beihilfe zu verlangen. Dies tat die BRD daraufhin. Gegen den Rückforderungsbescheid erhob wiederum die Alcan GmbH Klage vor dem Verwaltungsgericht. Sie machte geltend, eine Rückforderung sei aus drei Gründen des nationalen Verwaltungsrechts rechtswidrig:
1. Der Rücknahme stehe § 48 Abs. 2 S. 1 und 2 VwVfG entgegen, weil sie die Beihilfe bereits verbraucht habe.
2. Die Rücknahmefrist des § 48 Abs. 4 VwVfG sei verstrichen.
3. Einem Erstattungsanspruch stehe gemäß § 49a Abs. 2 VwVfG der Wegfall der Bereicherung entgegen.
Das BVerwG legte dem EuGH diese Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Entscheidung des EuGH
Im Rahmen der Zulässigkeit der Anfechtungsklage gibt es hier keine europarechtlichen Probleme, die beachtet werden müssen. Die üblichen Voraussetzungen einer Anfechtungsklage werden hier abgeprüft. Im Folgenden soll daher nur auf die Einordnung der europarechtlich relevanten Probleme im Rahmen der Begründetheit der Anfechtungsklage eingegangen werden.
I. Ermächtigungsgrundlage
Einschlägige Ermächtigungsgrundlage ist § 48 VwVfG mangels spezialgesetzlicher Regelungen. Insbesondere ist hier nicht nach einer europarechtlichen Spezialregelung zu suchen, weil von einer „deutschen“ Behörde (Rheinland-Pfalz liegt in Deutschland) ein „deutscher“ VA erlassen wurde!
1. Formelle Rechtmäßigkeit (im Rahmen dieser Entscheidung unproblematisch)
2. Materielle Rechtmäßigkeit
a. Voraussetzungen
aa. Es müsste ein rechtswidriger Verwaltungsakt vorliegen.
1. Problem: Unionsrechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, weil das Notifizierungserfordernis missachtet wurde
Da staatliche Beihilfen (= Subventionen auf europäischer Ebene) zu Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt führen können, sind sie nur unter den in Art. 107 AEUV (früher Art. 87 EGV) genannten Bedingungen zulässig, über deren Einhaltung die Kommission in den Verfahren des Art. 108 AEUV (früher Art. 88 EGV) wacht. Nach Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV (früher Art. 88 Abs. 3 S. 1 EGV) wird die Kommission von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann. (sog. Notifizierungserfordernis) Nach Art. 108 Abs. 3. S. 1 AEUV (Art. 88 Abs. 3 S. 3 EGV) darf der betreffende Mitgliedstaat die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung erlassen hat. (sog. stand-still-Verpflichtung) Wenn die Kommission feststellt, dass eine Beihilfe mit Art. 107 AEUV unvereinbar ist, so beschließt sie auf der Grundlage von Art. 108 Abs. 2 S. 1 AEUV, dass der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat. Vorliegend war ohne vorherige Notifizierung bei der EU-Komission die staatliche Beihilfe bewilligt und ausgezahlt worden. Somit lag hier ein Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV vor.
bb. Weitere Voraussetzung ist das Nichteingreifen der Rücknahmeschranken des § 48 Abs. 2 – 4 VwVfG
2. Problem: Die Alcan-GmbH behauptete, der Rücknahme stehe § 48 Abs. 2 S. 1 und 2 VwVfG entgegen, weil sie die Beihilfe bereits verbraucht habe. Somit genieße sie Vertrauensschutz.
Die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte muss nach § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG den Voraussetzungen der folgenden Absätze 2 bis 4 genügen. Die §§ 48 ff. VwVfG müssen jedoch so angewandt werden, dass sie auch dem europarechtlichen Effizienzgebot entsprechen. Zu diesem Zweck müssen diese Regelungen gemeinschaftskonform angewandt werden. Auf Vertrauensschutz kann sich gemäß § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG nicht berufen, wer die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die grobe Fahrlässigkeit des Unternehmens bestand in diesem Fall darin, dass sich die Alcan-GmbH vor der Gewährung der Beihilfe trotz des nicht unerheblichen Volumens von 8 Millionen DM (!) nicht über die Einhaltung des Verfahrens nach Art. 108 Abs. 3 AEUV vergewissert hatte. Einem sorgfältigen Gewerbetreibenden ist es jedoch regelmäßig möglich, sich zu vergewissern, dass dieses Verfahren eingehalten wurde. Somit war hier ein schutzwürdiges Vertrauen gem. § 48 Abs. 2 S. 3. Nr. 3 VwVfG ausgeschlossen.
3. Problem: Verstreichen der Rücknahmefrist des § 48 Abs. 4 VwVfG
In der Alcan Entscheidung war die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG bereits abgelaufen, auch wenn man die Frist mit dem Großen Senat des BVerwG für eine Entscheidungsfrist halten würde, die erst beginnt, wenn die Behörde alle für die Rücknahme relevanten Umstände (einschließlich Ermessen und Vertrauensschutz) kennt. Seit der bestandskräftigen Entscheidung der EU-Kommission stand fest, dass eine Rücknahme erfolgen musste, der somit kein Vertrauensschutz entgegensteht. Ein Untätigbleiben unter Berufung auf diese Frist würde jedoch nicht zur Rechtssicherheit führen, sondern die Rechtsunsicherheit erhöhen. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, hier des Effizienzgebots, führt darum dazu, dass § 48 Abs. 4 VwVfG hier nicht zur Anwendung kommt.
b. Rechtsfolgenseite des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG
4. Problem: Ermessensfehler?
Grundsätzlich sieht § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG ein Ermessen vor. Wegen der bestandskräftig gewordenen Entscheidung der EU-Kommission war die BRD jedoch zur Rückforderung der Beihilfe verpflichtet, so dass im Wege der europarechtskonformen Auslegung des § 48 VwVfG hier das Rücknahmeermessen auf Null reduziert war.
Damit war die Rücknahme nach § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG insgesamt rechtmäßig, die Anfechtungsklage der Alcan-GmbH mithin unbegründet.
Neben der Anfechtungsklage gegen die Rücknahme musste die Alcan-GmbH auch Anfechtungsklage gegen den Rückforderungsbescheid erheben. (Objektive Klagehäufung gem. § 44 VwGO)
Die Ermächtigungsgrundlage für den Rückforderungsbescheid ist § 49a Abs. 1 VwVfG. Im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit taucht noch ein letztes Problem auf:
5. Problem: Steht der Wegfall der Bereicherung gemäß § 49a Abs. 2 VwVfG einem Erstattungsanspruch entgegen?
Die Alcan-GmbH machte geltend, dass sie die Beihilfen bereits verbraucht habe. Sie kann den Einwand des Wegfalls der Bereicherung jedoch nicht erheben, weil dieser gemäß § 49a Abs. 2 S. 2 2 VwVfG bei grober Fahrlässigkeit ausgeschlossen. (s.o.)
Zum Abschluss noch die Leitsätze der Alcan-Entscheidung des EuGH:
1. Die zuständige Behörde ist gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, den Bewilligungsbescheid für eine rechtswidrig gewährte Beihilfe gemäß einer bestandskräftigen Entscheidung der Kommission, in der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung verlangt wird, selbst dann noch zurückzunehmen, wenn sie die nach nationalem Recht im Interesse der Rechtssicherheit dafür bestehende Ausschlussfrist hat verstreichen lassen.
2. Dies gilt auch dann, wenn die zuständige Behörde für die Rechtswidrigkeit in einem solchen Maße verantwortlich ist, dass die Rücknahme dem Begünstigten gegenüber als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint, sofern der Begünstigte wegen Nichteinhaltung des im Vertrag vorgesehenen Verfahrens kein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe haben konnte.
3. Dies gilt selbst dann, wenn dies nach nationalem Recht wegen Wegfalls der Bereicherung mangels Bösgläubigkeit des Beihilfeempfängers ausgeschlossen ist.
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