Wir freuen uns, heute erneut einen Gastbeitrag von David Ullenboom veröffentlichen zu können. David ist zur Zeit Rechtsreferendar am LG Münster und hat auch schon sehr erfolgreich (2. Platz) an unserem Aufsatzwettbewerb teilgenommen.
Hinweis: Wie ihr seht, handelt es sich um einen sehr langen Beitrag, der das Problem des Nachbarschutzes sehr ausführlich und unter allen Aspekten behandelt. Natürlich müsst ihr den Beitrag nicht am Monitor lesen, denn wir haben – wie ihr vielleicht schon wisst – ganz am Ende die print-Funktion durch die ihr den Eintrag als pdf speichern und auch eine entsprechende Version drucken könnt.
I. Einführung
Öffentliches Baurecht, insbesondere das Bauplanungsrecht nach dem BauGB, spielt in den Klausuren zum Ersten und Zweiten Staatsexamen eine große Rolle. Ein Großteil der Examensklausuren im öffentlichen Recht sind Klausuren aus dem Bereich des Bau(planungs)rechts. Hintergrund des hohen Anteils an Baurechtsrechtsklausuren in den Staatsprüfungen mag u. a. sein, dass das Bauplanungsrecht im BauGB bundeseinheitlich geregelt ist und deshalb die Möglichkeit eröffnet, die Klausuren bundesweit als Aufsichtsarbeiten zu stellen. Dadurch unterscheidet sich dieses Rechtsgebiet insbesondere von den anderen Bereichen des besonderen Verwaltungsrechts in den Staatsexamina, welches überwiegend in die Zuständigkeit der Länder fällt (Polizei- und Ordnungsrecht, Kommunalrecht). Obwohl im Ersten und Zweiten Staatsexamen in NRW das Baurecht vom Prüfling nur „im Überblick“, d. h. in seinen gesetzlichen Grundstrukturen ohne vertieftes Wissen von Rechtsprechung und Literatur, beherrscht werden muss (§§ 11 II Nr.13 c), IV, 52 I 1 Nr.1 JAG NRW), verlangt eine typische Examensklausur aus dem Baurecht dem Kandidaten in der Examenswirklichkeit doch einiges an „Detailwissen“ ab. Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht ist vor diesem Hintergrund seit jeher ein absoluter Examens-Klassiker. Die Rechtsprechung des BVerwG wurde in diesem Bereich in den letzten Jahrzenten zunehmend ausdifferenziert. Dabei lässt sich ein Trend „hin zu einem Mehr an Nachbarschutz“ ausmachen. Während das BVerwG das Bauplanungsrecht zunächst als rein objektives Städtebaurecht einordnete, das allein dem öffentlichen Interesse an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung diene, hat das höchste deutsche Verwaltungsgericht diese Rechtsauffassung sukzessive aufgegeben und in der Folge immer mehr Vorschriften des BauGB drittschützende Wirkung zuerkannt (vgl. etwa Gaentzsch, ZfBR 2009, 321).
II. Klausurkonstellationen
Die Frage des Drittschutzes im öffentlichen Baurecht stellt sich in Examensklausuren insbesondere in zwei Konstellationen:
– Der Bauherr B erhält antragsgemäß von der Bauaufsichtsbehörde eine Baugenehmigung. Der Nachbar N erhebt Anfechtungsklage gegen die dem Bauherrn erteilte Baugenehmigung. Die Anfechtungsklage ist nur zulässig, wenn N geltend machen kann, möglicherweise in einem subjektiven öffentlichen Recht verletzt zu sein (§ 42 II VwGO). Die Anfechtungsklage des N ist gem. § 113 I 1 VwGO nur begründet, wenn die Erteilung der Baugenehmigung gegen den Schutz des Nachbarn bezweckende Baurechtsnormen verstößt.
– Der Bauherr B baut ohne Baugenehmigung oder außerhalb einer erteilten Baugenehmigung („Schwarzbau“). Der Nachbar N erhebt Verpflichtungsklage gegen die Bauaufsichtsbehörde auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen den Schwarzbau. Die Verpflichtungsklage ist nur zulässig, wenn der N geltend macht, einen Anspruch auf behördliches Einschreiten aus einer drittschützenden EGL der Behörde zu haben (§ 42 II VwGO). Die Klage ist nur begründet, wenn dieser Anspruch tatsächlich besteht (§ 113 V VwGO).
III. Drittschützende Normen im Baurecht
Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Arten von drittschützenden Normen unterscheiden. Zum einen gibt es drittschützende Normen, die den Nachbarn unabhängig von einer tatsächlichen persönlichen Betroffenheit schützen (generell-typisierender Drittschutz). Zum anderen gibt es solche drittschützenden Normen, die erst im Falle einer tatsächlichen (unzumutbaren) persönlichen Betroffenheit tangiert sind (einzelfallbezogener Drittschutz). Zur ersten Gruppe gehört insbesondere der sog. „Gebietserhaltungsanspruch“ hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung im Bebauungsplangebiet, unter die zweite Gruppe fallen insbesondere die einfachgesetzlichen Ausprägungen des sog. „Rücksichtnahmegebots“. Davon wird noch genauer die Rede sein.
1. generell-typisierender Drittschutz
Einige Normen des öffentlichen Baurechts vermitteln Drittschutz unabhängig von einer tatsächlichen persönlichen Betroffenheit. Der Hintergrund eines derartigen generell-typisierenden Drittschutzes wird überwiegend in Folgendem gesehen: Das Eigentum an einem Grundstück wird grds. nicht grenzenlos gewährt. Vielmehr ist der Gesetzgeber ermächtigt, Inhalt und Schranken des Eigentums durch einfachgesetzliche Bestimmungen festzulegen (Art. 14 I 2 GG). Wenn nun aber der Eigentümer eines Grundstücks in einem bestimmten Baugebiet in der Nutzung seines Grundstücks durch öffentlich-rechtliche Vorschriften beschränkt wird, dann soll er die Einhaltung derartiger (beschränkender) Vorschriften wenigstens auch von den anderen Grundstückseigentümern im selben Baugebiet verlangen können. Insofern bilden alle Grundstückseigentümer in einem Baugebiet eine „Schicksalsgemeinschaft“. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom „nachbarschaftlichen Austauschverhältnis“ (vgl. zum Ganzen BVerwG NJW 1994, 1548).
a) „Gebietserhaltungsanspruch“
1. Durch die Festsetzung der in § 1 II BauNVO genannten Baugebiete (z. B. allgemeines Wohngebiet [WA], Mischgebiet [MI] oder Gewerbegebiet [GE]) in einem Bebauungsplan, werden die diesbezüglichen Vorschriften der §§ 2 ff. BauNVO kraft Gesetzes gem. § 1 III 2 BauNVO Bestandteil des B-Plans. Die § 2 ff. BauNVO sind dabei überwiegend jeweils gleich strukturiert. Im jeweiligen Absatz 1 wird der Zweck bzw. Charakter des jeweiligen Baugebiets festgelegt. Im jeweiligen Absatz 2 findet sich die allgemein zulässige Bebauung (sog. „Regelbebauung“). Im jeweiligen Absatz 3 schließlich regelt die BauNVO die ausnahmsweise zulässige Bebauung (sog. „Ausnahmebebauung“). Wenn § 30 I BauGB nun davon spricht, dass ein Bauvorhaben zulässig ist, wenn es „den Festsetzungen des B-Plans nicht widerspricht“, so bedeutet dies, dass das Vorhaben nach der Art der baulichen Nutzung zulässig ist, wenn es dem Absatz 2 des einschlägigen Baugebiets nach den §§ 2 ff. BauNVO entspricht, also einem der dort aufgeführten Gebäude und Anlagen zugeordnet werden kann (z. B. Zulässigkeit eines Wohngebäudes im allgemeinen Wohngebiet gem. § 4 II Nr.1 BauNVO). Denn der jeweilige Absatz 2 der §§ 2 ff. BauNVO ist ja, wie oben bereits ausgeführt, kraft Gesetzes Bestandteil des B-Plans geworden.
Wenn demgegenüber § 31 I BauGB davon spricht, dass von den Festsetzungen des B-Plans solche Ausnahmen zugelassen werden können, welche „in dem B-Plan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen sind“, so ist dies ein Verweis auf die Ausnahmebebauung der jeweiligen Absätze 3 der §§ 2 ff. BauNVO. Denn da die BauNVO kraft Gesetzes Bestandteil des B-Plans geworden ist, ist die in den Absätzen 3 der BauNVO vorgesehene Ausnahmebebauung eben eine solche, die der B-Plan ausdrücklich vorsieht.
Vorhaben hingegen, die weder unter die Tatbestände der Regelbebauung noch unter die der Ausnahmebebauung subsumiert werden können, können nur unter den sehr strengen Voraussetzungen des § 31 II BauGB zugelassen werden (sog. „Dispens“).
2. Das BVerwG hat nun jedem Grundstückseigentümer ausdrücklich das Recht zuerkannt, sich innerhalb des von ihm bewohnten Baugebiets gegen jede artfremde Bebauung zu wehren, unabhängig davon, ob sie ihn tatsächlich beeinträchtigt (sog. „Gebietserhaltungsanspruch“). Seine Grundlage hat der Gebietserhaltungsanspruch im „nachbarlichen Austauschverhältnis“ und im Gedanken der „Schicksalsgemeinschaft“ (vgl. bereits oben). Der Nachbar eines Baugebiets kann sich also gegen jedes Vorhaben in seinem Baugebiet zur Wehr setzen, das weder Regel- noch Ausnahmebebauung nach der BauNVO ist. Der Gebietserhaltungsanspruch ist aber begrenzt auf das jeweilige Baugebiet, gebietsübergreifenden Rechtsschutz auch in Bezug auf benachbarte Baugebiete vermittelt er hingegen nicht.
b) „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“
1. Vom „Gebietserhaltungsanspruch“ streng zu unterscheiden ist der sog. „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“. Der Gebietsprägungserhaltungsanspruch ist ein noch vergleichsweise junges Rechtsinstitut, welches vom BVerwG insbesondere in zwei Entscheidungen aus den Jahren 2002 und 2008 entwickelt wurde (NVwZ 2002, 118; NVwZ 2008, 786). Im Unterschied zum Gebietserhaltungsanspruch beschreibt der Gebietsprägungserhaltungsanspruch folgendes Phänomen: Ein Vorhaben, dass an sich unter die Regel- oder Ausnahmebebauung der §§ 2 ff. BauNVO subsumiert werden kann (deshalb greift der Gebietserhaltungsanspruch nicht ein!) ist bei generell-typisierender Betrachtungsweise in dem einschlägigen Baugebiet gebietsunverträglich, weil es den prägenden Charakter des Baugebiets konterkariert. Bei oberflächlicher Betrachtungsweise könnte man versucht sein, den Gebietsprägungserhaltungsanspruch mit der Regelung in § 15 I 1 BauNVO gleichzusetzen, die ebenfalls davon spricht, dass ein nach den §§ 2 ff. BauNVO grundsätzlich zulässiges Vorhaben im Einzelfall unzulässig ist, wenn es der Eigenart des Baugebiets widerspricht. Der Gebietsprägungserhaltungsanspruch muss aber auch zu § 15 I 1 BauNVO abgegrenzt werden, keinesfalls sind beide Regelungskomplexe gleichzusetzen. Während nämlich der Gebietsprägungserhaltungsanspruch ein Vorhaben betrifft, dass bereits nach genereller und typisierender Betrachtungsweise in dem jeweiligen Baugebiet gebietsunverträglich ist, meint § 15 I 1 BauNVO den Fall, dass ein Bauvorhaben zwar nach abstrakt-typisierender Anschauung dem Gebietscharakter nicht widerspricht (deshalb greift der Gebietsprägungserhaltungsanspruch nicht ein!), aber dennoch im konkreten Einzelfall gebietsunverträglich ist. Der Gebietsprägungserhaltungsanspruch ist der Regelung des § 15 I 1 BauNVO also logisch vorgeschaltet (sehr ausführlich z. B. Decker, JA 2007, 55).
2. Hinter dem „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ steht folgende Idee: Bei den in den Absätzen 2 und 3 der §§ 2 ff. BauNVO aufgeführten Gebäuden und Anlagen handelt es sich um in hohem Maße unbestimmte Rechtsbegriffe. Z. B. umfasst der Begriff der „Anlage zu gesundheitlichen Zwecken“ in § 4 II Nr.3 BauNVO nach seinem Wortlaut sowohl die kleine Praxisgemeinschaft niedergelassener Ärzte als auch das Krankenhaus mit 100 Krankenhausbetten. Zudem wird der Begriff der „Anlage zu gesundheitlichen Zwecken“ auch noch in den Vorschriften anderer Baugebiete aufgegriffen (z. B. § 6 II Nr.5 für „Mischgebiete“ und § 8 III Nr.2 für „Gewerbegebiete“) und kann wegen der erheblichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Baugebieten unmöglich überall im gleichen Sinne verstanden werden. Da allein der „Feinfilter“ des § 15 I 1 BauNVO, der immer erst bei einzelfallbezogener Gebietsunverträglichkeit eingreift, dem Interesse der Bewohner des Baugebiets an einer Wahrung des prägenden Gebietscharakters nicht gerecht wird, hat das BVerwG einen „Grobfilter“ in Form des Gebietsprägungserhaltungsanspruchs vorgeschaltet.
Hierbei werden die in den Absätzen 2 und 3 der §§ 2 ff. BauNVO jeweils genannten Gebäude und Anlagen in Beziehung zu dem jeweiligen Absatz 1 der Vorschrift gesetzt, welcher eine allgemeine Charakterisierung bzw. Zweckrichtung des Baugebiets enthält. Beispielsweise dienen allgemeine Wohngebiete gem. § 4 I BauNVO vorwiegend dem Wohnen. Bauvorhaben, die bereits nach generell-typisierender Betrachtungsweise geeignet sind, die Wohnruhe im allgemeinen Wohngebiet erheblich zu stören und deshalb gebietsunverträglich sind, können also mit dem Gebietsprägungserhaltungsanspruch von den Bewohnern dieses Baugebiets abgewehrt werden. Ein Dialysezentrum mit 33 Behandlungsplätzen, Zwei-Schicht-Betrieb und regem An- und Abfahrtsverkehr, welches eine erhebliche Unruhe in das Wohngebiet hineinträgt, ist deshalb beispielsweise in einem allgemeinen Wohngebiet (obwohl gem. § 4 II Nr.3 BauNVO grds. zulässig) gebietsunverträglich (BVerwG NVwZ 2008, 786).
c) § 15 I 1 BauNVO
§ 15 I 1 vermittelt allen Bewohnern eines Baugebiets einen Anspruch auf Erhalt des prägenden Gebietscharakters. Vorhaben, die zwar an sich nach den §§ 2 ff. BauNVO regelhaft oder ausnahmsweise zulässig sind, können von den Baugebietsnachbarn abgewehrt werden, wenn sie im Einzelfall nach Lage, Umfang, Anzahl oder Zweckbestimmung dem prägenden Gebietscharakter widersprechen. § 15 I 1 BauNVO ist insofern weiter als § 15 I 2 BauNVO, als er keine unzumutbare persönliche Betroffenheit voraussetzt. Er ist auf der anderen Seite enger, weil er nur die Bewohner des betroffenen Baugebiets schützt, nicht aber die Bewohner benachbarter Baugebiete (kein plangebietsübergreifender Nachbarschutz; vgl. Stuer, Der B.Plan, Rn. 917). § 15 I 1 BauNVO kommt aber erst zum Zuge, wenn das Vorhaben nicht bereits nach generell-typisierender Betrachtungsweise gebietsunverträglich ist (dann greift vorrangig der „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ ein, s. oben).
d) „faktisches Baugebiet“, § 34 II BauGB
Im „faktischen Baugebiet“ nach § 34 II BauGB besteht hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung genau derselbe Drittschutz wie im Bebauungsplangebiet (BVerwG NJW 1994, 1546). D. h. entspricht die nähere Umgebung eines Bauvorhabens im Innenbereich einem der Baugebiete nach der BauNVO, so stehen dem Nachbar ebenso wie im beplanten Innenbereich der „Gebietserhaltungsanspruch“, der „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ und § 15 I BauNVO zur Seite.
e) Maß der baulichen Nutzung, Bauweise, überbaubare Grundstücksflächen
Während es oben um die Festsetzungen des B-Plans über die Art der baulichen Nutzung ging, stellt sich die Frage, ob auch die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung (§§ 16 ff. BauNVO), die Bauweise und die überbaubaren Grundstücksflächen (§§ 22 ff. BauNVO) Drittschutz entfalten können.
1. Nach h. M. entfalten die Festsetzungen des B-Plans über das Maß der baulichen Nutzung grds. keine drittschützende Wirkung zugunsten des Nachbarn, da sie ausschließlich dem öffentlichen Interesse an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung dienen sollen. Ausnahmsweise haben aber auch Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung drittschützende Wirkung, wenn der Drittschutz im B-Plan von der planenden Gemeinde ausdrücklich festgeschrieben wird (vgl. Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 68 f.). Möglich ist eine Geltendmachung der drittschützenden Wirkung des Maßes der baulichen Nutzung – trotz Einhaltung der Abtsandsflächen nach § 6 BauO NW- auch in denjenigen Ausnahmefällen, in denen dem Bauvorhaben eine „erdrückende Wirkung“ zukommt und dem Nachbarn ein Gefühl des „Eingemauertseins“ vermittelt und ihm die „Luft zum Atmen nimmt“ (sog. „Gefängnishofsituation“; Thiel, AL 2012, 179). Diese sehr enge Ausnahme ist dann wiederum Ausdruck des Rücksichtnahmegebots. In derartigen Ausnahmefällen dient dann im Bebauungsplangebiet ausnahmsweise § 15 I 1 BauNVO (der an sich nur für die Art der baulichen Nutzung gilt!) als Einfallstor für das Gebot der Rücksichtnahme (vgl. dort Merkmal „Umfang“ des Vorhabens). Denn die Rechtsprechung geht davon aus, dass in derartigen Fällen „Quantität in Qualität umschlägt“, d. h. dass ausnahmsweise die Größe einer Anlage die Art der baulichen Nutzung tangiert (vgl. zum Ganzen BVerwG, NVwZ 1995, 900). Im unbeplanten Innenbereich kann die „erdrückende Wirkung“ rücksichtsloser Vorhaben über § 34 I 1 BauGB („Einfügen“) im Außenbereich über § 35 III 1 (ungeschriebener „öffentlicher Belang“!) geltend gemacht werden.
2. Die Festsetzung einer offenen Bauweise wird überwiegend als drittschützend angesehen, der Festsetzung einer geschlossenen Bauweise wird Drittschutz hingegen überwiegend versagt (Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 70 f.). Die Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen gem. § 23 BauNVO (Baulinien, Baugrenzen, Bautiefen) sind nur dann nachbarschützend, wenn sie (ähnlich wie die Abstandsflächenregelung des § 6 BauO NRW) die ausreichende Licht- und Luftzufuhr zum Nachbargrundstück bezwecken (Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 72). Allerdings sollte man hier Vorsicht walten lassen: Die Tatsache, dass z. B. seitliche und hintere Baugrenzen in rein tatsächlicher Hinsicht eine ähnliche Wirkung wie die Abstandsflächenregelungen in den Landesbauordnungen der Länder haben, lässt noch keinen Rückschluss auf deren nachbarschützende Wirkung zu. Insofern handelt es sich dann nämlich zunächst um einen reinen Rechtsreflex. Entscheidend ist, ob der Gesetzgeber diese tatsächlichen Wirkungen der Festsetzungen auch bezweckt hat.
f) Bauordnungsrecht: insbesondere Abstandsflächenregelung
Im Bauordnungsrecht entfalten insbesondere die Abstandsflächenregelungen in den jeweiligen Bauordnungen der Länder drittschützende Wirkung (z. B. § 6 BauO NRW). Die Abstandsflächenregelungen haben nämlich insbesondere den Zweck, das Nachbargrundstück vor einer Verschattung zu schützen und die Zufuhr mit Licht und Luft sicherzustellen. Zudem soll einem zu schnellen Übergreifen von Bränden auf Nachbarhäuser vorgebeugt werden (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 103. Ergänzungslieferung 2012, § 22 BauNVO Rn. 37). Die Abständsflächenregelungen schützen den Nachbarn wiederum unabhängig von einer tatsächlichen Beeinträchtigung. D. h. der Nachbar kann die Einhaltung der Abstandsflächen im Verhältnis zum Angrenzer unabhängig davon verlangen, ob es z. B. tatsächlich zu einer Verschattung seines Grundstücks kommt. Hintergrund ist hier aber nicht das nachbarschaftliche Austauschverhältnis und der Gedanke der Schicksalsgemeinschaft, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Gesetzgeber die abstrakte Gefahr eines Nutzungskonflikts der benachbarten Grundstücke im Rahmen einer generellen Interessenabwägung einer gesetzlichen Lösung zugeführt hat.
2. einzelfallbezogener Drittschutz
Es gibt des Weiteren drittschützende Normen des öffentlichen Baurechts, die immer erst dann tangiert sind, wenn der rechtsschutzsuchende Nachbar tatsächlich und unzumutbar in seinen Rechten betroffen ist. Derartiger einzelfallbezogener Drittschutz begegnet insbesondere in Form einfachgesetzlicher Ausprägungen des sog. „Rücksichtnahmegebots“.
a) Das Gebot der Rücksichtnahme
1. Auch das Rücksichtnahmegebot ist ein „Kind des Bundesverwaltungsgerichts“. Das Rücksichtnahmegebot ist dabei zunächst ein objektiv-rechtliches Rechtsinstitut. Als so verstandener objektiv-rechtlicher Rechtssatz ist das Rücksichtnahmegebot an sich eine Selbstverständlichkeit: Die Baufaufsichtsbehörde ist bei der Entscheidung über die Erteilung einer Bauerlaubnis verpflichtet, die Interessen des Bauherrn und des Nachbarn gerecht gegeneinander abzuwägen. Da die Exekutive im Verhältnis zum Bauherrn und zum Nachbarn an die Grundrechte gebunden ist (Art. 1 III GG, 20 III GG) und durch die Erteilung oder Versagung einer Bauerlaubnis in das Eigentumsgrundrecht des Nachbarn oder des Bauherrn aus Art. 14 I 1 GG eingegreift, muss die Bauaufsichtsbehörde diese widerstreitenden Interessen grundsätzlich zu einem möglichst schonenden Ausgleich bringen. Insofern ist das Rücksichtnahmegebot eine spezielle Ausprägung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. etwa Battis/Krautzberger/Löhr, § 1 Rn. 122).
2. Das Rücksichtnahmegebot hat aber auch eine subjektiv-rechtliche Komponente. Das Rücksichtnahmegebot darf dabei zunächst nicht als übergesetzliches, losgelöst von gesetzlichen Vorschriften existierendes Prinzip missverstanden werden. Es folgt insbesondere nicht aus Art. 14 I GG. Der Gesetzgeber hat in den §§ 29 ff. BauGB Inhalt und Schranken des Eigentums iSv Art. 14 I 2 GG abschließend festgelegt (Inhalts- und Schrankenbestimmung). Durch den Rückgriff des Tatrichters auf vermeintliche vor-rechtliche Prinzipien, würde die Werteentscheidung des Gesetzgebers unterlaufen und das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 III GG) verletzt. Das Gebot der Rücksichtnahme ist vielmehr immer nur insoweit von Bedeutung, als es Ausdruck in einer konkreten einfach-gesetzlichen Rechtsnorm gefunden hat. Drittschutz folgt also nicht aus dem Rücksichtnahmegebot, sondern aus einer einfach-rechtlichen Norm, mag diese auch eine Ausprägung des Rücksichtnahmegebots sein. Insofern ist das Rücksichtnahmegebot eine Art „Einfallstor“ für den Drittschutz baurechtlicher Normen, vergleichbar den zivilrechtlichen Generalklauseln der §§ 134, 138 BGB. Hinter dem „Rücksichtnahmegebot“ verbirgt sich letztlich nichts anderes als eine Art „Auslegungshilfe“ bzw. „Auslegungsregel“ in Bezug auf einfach-gesetzliche Normen des Baurechts (vgl. zum Ganzen Gaentzsch, ZfBR 2009, 324). Auslegungshilfe ist es dabei sowohl im Hinblick auf das „Ob“ des Drittschutzes als auch hinsichtlich des „Wie“ des Drittschutzes:
– „Ob“ des Drittschutzes: Zunächst wird das Rücksichtnahmegebot für die Frage herangezogen, ob eine bestimmte Baurechtsvorschrift überhaupt Drittschutz vermittelt. Das BVerwG hat dabei mehrfach entschieden, dass eine Vorschrift des öffentlichen Baurechts nur dann drittschützende Wirkung entfaltet, wenn sie deutlich macht, „dass in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schützwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist“ (zuletzt etwa BVerwG JuS 2004, 173). Mit anderen Worten: Eine Norm ist dann drittschützend, wenn die Auslegung ergibt, dass auf einen abgrenzbaren Personenkreis in besonderer Weise Rücksicht genommen werden soll. In dieser Funktion ist das Rücksichtnahmegebot nichts anderes als eine spezielle Ausprägung der „Schutznormtheorie“ im Baurecht.
– „Wie“ des Drittschutzes: Sodann wird das Rücksichtnahmegebot weiterhin herangezogen, um das Maß des Drittschutzes zu ermitteln. Dabei reicht für die Verletzung von Baurechtsnormen, deren drittschützende Wirkung anhand der „Lehre vom Rücksichtnahmegebot“ festgestellt wurde, nicht bereits jede Beeinträchtigung nachbarlicher Interessen, erforderlich ist vielmehr eine unzumutbare Beeinträchtigung. Das BVerwG hat das so formuliert: „Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung dessen ist, auf den Rücksicht zu nehmen ist, umso mehr kann an Rücksicht verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht der Bauherr Rücksicht zu nehmen“ (BVerwG NVwZ 1993, 1185). Der Sache nach handelt es sich dabei um eine umfassende Interessenabwägung zwischen den Interessen des Bauherrn an der Bebauung seines Grundstücks und den Interessen des Nachbarn an der ungestörten Nutzung seines Eigentums. Zu berücksichtigen sind bei der Interessenabwägung insbesondere bereits bestehende Vorbelastungen (z. B. bereits vorhandene Lärmquellen).
b) § 15 I 2 BauNVO
Eine wichtige einfachgesetzliche Ausprägung des Rücksichtnahmegebots ist die Regelung des § 15 I BauNVO (sog. „Feinfilter“). Hierbei sollte man grds. zwischen der Regelung des § 15 I 1 BauNVO (dazu bereits oben) und des § 15 I 2 BauNVO unterscheiden. Beide Regelungen setzen ein Bauvorhaben im Bebauungsplangebiet oder im faktischen Baugebiet (§ 34 II BauGB) voraus, welches an sich den §§ 2 ff. BauNVO entspricht, aber im Einzefall gebietsunverträglich ist. § 15 I 1 BauNVO greift wie bereits oben erläutert nicht erst bei unzumutbarer persönlicher Betroffenheit, sondern gibt den Bewohnern eines Baugebiets im Zusammenspiel mit dem sog. „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ einen allgemeinen Anspruch auf Erhalt des prägenden Charakters eines Baugebiets.
Durch das Tatbestandsmerkmal der „unzumutbaren Störungen und Belästigungen“ in § 15 I 2 BauNVO macht die Regelung deutlich, dass auf die Interessen der Grundstückseigentümer im jeweiligen Baugebiet oder in benachbarten Baugebieten besondere Rücksicht zu nehmen ist. Unterscheiden muss man bei § 15 I 2 die 1. Alternative (= Bauvorhaben wird Störer) und die 2. Alternative (= Bauvorhaben wird störanfällig). Durch die Wendung „im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung“ macht das Gesetz deutlich, dass nicht nur die Grundstückseigentümer des betroffenen Baugebiets, sondern auch die Nachbarn benachbarter Baugebiete in den Schutzbereich des § 15 I 2 BauNVO einbezogen sind. § 15 I 2 BauNVO eröffnet damit insbesondere die Möglichkeit plangebietsübergreifenden Drittschutzes! Soweit die Störungen und Belästigungen des Vorhabens über das Baugebiet hinaus in benachbarte Baugebiete ausstrahlen, können sich auch die Plangebietsnachbarn zur Wehr setzen. Andererseits ist § 15 I 2 BauNVO erst dann verletzt, wenn die Belästigungen die Zumutbarkeitsschwelle überschreiten. Dies ist insbesondere anhand der Abwägungsformel des BVerwG zu bestimmen (vgl. oben). § 15 I 2 BauNVO stellt damit insgesamt recht hohe Hürden auf.
c) Dispens gem. § 31 II BauGB
Beim bauplanungsrechtlichen Dispens gem. § 31 II BauGB muss man unbedingt zwei Fälle unterscheiden. Bei einer Befreiung von nachbarschützenden Vorschriften, insbesondere von den Vorgaben für die Art der baulichen Nutzung gem. §§ 2 ff. BauNVO, vermittelt § 31 II BauGB immer und uneingeschränkt Drittschutz. Denn insbesondere bei einem Dispens von den §§ 2 ff. BauNVO wird der „Gebietserhaltungsanspruch“ des Nachbarn tangiert, der sich unabhängig von einer persönlichen Betroffenheit gegen jede artfremde Bebauung wehren kann.
Bei einem Dispens von nicht nachbarschützenden Vorschriften bietet § 31 II BauGB nur Drittschutz nach Maßgabe des Rücksichtnahmegebots. Das Tatbestandsmerkmal der „Würdigung nachbarlicher Interessen“ gem. § 31 II a. E. BauGB macht hierbei deutlich, dass die betroffenen Baugebietsnachbarn in besonderer Weise geschützt werden sollen. Eine Verletzung drittschützender Vorschriften ist in diesen Fällen erst gegeben, wenn die nachbarlichen Interessen in unzumtbarer Weise beeinträchtigt werden. Auch dies bemisst sich wiederum anhand der Abwägungsformel des BVerwG (s. oben.).
d) Merkmal „Einfügen“ iSv § 34 I 1 BauGB
Das BVerwG hat im Merkmal des „Einfügens“ iSv § 34 I 1 BauGB mithilfe der Auslegungsregel des Rücksichtnahmegebots die drittschützende Wirkung dieser Vorschrift erkannt. Ein Bauvorhaben „fügt“ sich danach nur dann in die vorhandene Umgebungsbebauung ein, wenn es die gebotene Rücksicht auf die bereits vorhandene Nachbarbebauung nimmt (Battis/Krautzberger/Löhr, § 34 Rn. 17). Das wird auch durch die Regelung über den Dispens von dem Erfordernis des „Einfügens“ in § 34 IIIa Nr.3 BauGB deutlich, der von der „Würdigung nachbarlicher Interessen“ spricht.
e) „Schädliche Umwelteinwirkungen“ iSv § 35 III 1 Nr.3
Der drittschützende Charakter des § 35 BauGB kann mithilfe des Rücksichtnahmegebots insbesondere aus § 35 III 1 Nr.3 anhand des Merkmals der „schädlichen Umwelteinwirkungen“ entnommen werden (Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 80). Denn gem. § 3 I BImschG sind schädliche Umwelteinwirkungen Immissionen, die geeignet sind, erhebliche Nachteile oder Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen (Rechtsgedanke des § 3 BImschG). Früher hat das BVerwG das Rücksichtnahmegebot z. T. als ungeschriebenen „öffentlichen Belang“ iSv § 35 III 1 BauGB eingeordnet (BVerwG NJW 1978, 62; sog. „Schweinemäster-Fall“). Das ist aber zum einen missverständlich, weil das Rücksichtnahmegebot eben kein selbständiges rechtliches Prinzip ist, sondern eine bloße Auslegungshilfe für das „Ob“ und „Wie“ des drittschützenden Charakters baurechtlicher Normen. Zum anderen spricht der Wortlaut „öffentlich“ gerade eher gegen den drittschützenden Charakter und macht eine besondere Schutzbedürftigkeit eines abgrenzbaren Personenkreises gerade nicht deutlich.
Auch auf privilegierte Vorhaben iSv § 35 I BauGB ist in besonderer Weise Rücksicht zu nehmen, weil die gesetzliche Systematik des § 35 I und II BauGB deutlich macht, dass privilegierte Vorhaben im Außenbereich in besonderem Maße schützenswert sind. Privilegierte Grundstückseigentümer können sich deshalb insbesondere gegen eine heranrückende störende Außenbereichsbebauung wehren (Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 80).
IV.Klausurtipps
Zum Abschluss noch ein paar Tipps für Klausuren, die häufig zu beobachtende Fehlerquellen betreffen.
1. Da das „Rücksichtnahmegebot“ kein eigenständiges, übergesetzliches Prinzip ist, darf im Rahmen der Klagebefugnis nach § 42 II VwGO und im Rahmen der Rechtsverletzung iSv § 113 I 1 VwGO nicht auf eine (mögliche) „Verletzung des Rücksichtnahmegebots“ abgestellt werden. Richtig ist vielmehr die Prüfung einer (möglichen) Verletzung einer drittschützenden einfachrechtlichen Norm in Verbindung mit dem Rücksichtnahmegebot (z. B.: „X kann geltend machen, möglicherweise in seinem subjektiven Recht aus dem Merkmal des „Einfügens“ iSv § 34 I 1 BauGB iVm dem Rücksichtnahmegebot verletzt zu sein.“).
2. Auch wenn § 113 I 1 VwGO eine zweistufige Prüfung nach objektiver Rechtswidrigkeit und Rechtsverletzung vorgibt, prüft man bei Baunachbarstreitigkeiten von vornherein nur, ob nachbarschützende Vorschriften verletzt sind. Die Baunachbaranfechtungsklage ist also begründet, „wenn der VA nachbarschützende Vorschriften verletzt“(!). Die Prüfung der objektiven Rechtswidrigkeit nicht nachbarschützender Normen ist nicht nur überflüssig, sondern sogar falsch. Es bietet sich deshalb an, im Rahmen der Klagebefugnis gem. § 42 II VwGO zu diskutieren, welche der gerügten Vorschriften nachbarschützend sind und welche nicht und sodann die mögliche Verletzung dieser drittschützenden Vorschriften festzustellen. In der Begründetheit wird dann nur noch die tatsächliche Verletzung der (übrig gebliebenen) nachbarschützenden Normen geprüft.
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