Strafrechts-Klassiker: Der Verfolger-Fall
BGH, Urteil v. 23.01.1958 – 4 StR 613/57 (= BGHSt 11, 268 ff.)
Vereinbaren mehrere Teilnehmer einer Straftat, daß jeder auf etwaige Verfolger zu schießen habe, um ihre Festnahme um jeden Preis zu verhindern, und schießt einer von ihnen auf Grund dieser Abrede irrtümlich auf einen Tatbeteiligten, den er nur verletzt, so ist auch dieser als Mittäter wegen versuchten Mordes zu bestrafen.
1. Der Sachverhalt
Der Angeklagte P hatte zusammen mit den früheren Mitangeklagten M und T in der Nacht zum 21. April 1952 versucht, in das Lebensmittelgeschäft von A in L einzudringen, um dort zu stehlen. Jeder der Täter war dabei mit einer geladenen Pistole bewaffnet, wobei vereinbart war, dass auch auf Menschen gefeuert werden solle, wenn die Gefahr der Festnahme eines der Teilnehmer drohe. Als P die Fensterscheibe des Schlafzimmers der Eheleute A, das er für einen Büroraum gehalten hatte, eingedrückt und M die Fensterflügel ins Zimmer hinein aufgestoßen hatte, war der Geschäftsinhaber A ans Fenster gegangen, hatte die Fensterflügel wieder zugestoßen und sich wild gestikulierend und brüllend vor das Fenster gestellt. Darauf gaben M und T je einen Schuss auf die Fenster ab, wobei die sich gerade aus ihrem Bett erhebende Frau des A schwer verletzt wurde. Danach liefen T und M hintereinander auf die Straße zu. An der vorderen Hausecke bemerkte M rückwärts schauend, dass ihm in einer Entfernung von nicht mehr als 2 bis 3 m eine Person folgte. Diese war P. M hielt ihn aber für einen Verfolger und fürchtete von ihm ergriffen zu werden. Um der vermeintlich drohenden Festnahme und der Aufdeckung seiner Täterschaft zu entgehen, schoss er auf die hinter ihm hergehende Person; dabei rechnete er mit einer tödlichen Wirkung seines Schusses und billigte diese Möglichkeit. Das Geschoss traf P am rechten Oberarm, durchschlug aber nur den gefütterten Ärmel seines Rockes und verfing sich im aufgekrempelten Hemdärmel.
2. Die Kernfrage
Die Vorinstanz hatte nicht nur M und T, sondern auch den angeschossenen P wegen versuchten Mordes in Mittäterschaft verurteilt, §§ 211 Abs. 1, 2, 25 Abs. 2 StGB. Mit der hiergegen gerichteten Revision wollte der P geklärt wissen, ob er als Mittäter eines Mordversuchs in Betracht kommt, obwohl er doch gleichzeitig das Opfer desselben gewesen ist und er mit dem Schuss des M gegen ihn selbst – selbstverständlich – keinesfalls einverstanden war, so dass sich der M hiermit außerhalb des gemeinsamen Tatplans bewegt habe.
3. Das sagt der BGH
Das Gericht hat die Entscheidung der Vorinstanz bestätigt und die Verurteilung des P wegen mittäterschaftlichen versuchten Mordes aufrechterhalten.
a) Es hat dabei zunächst einmal klargestellt, dass der Umstand, dass P selbst Opfer der Tat geworden ist, rechtlich durchaus Berücksichtigung findet, und zwar in der für P geltenden Wertung der Tat als bloßer Versuch, die zu einer wenigstens fakultativen Milderung seiner Strafbarkeit nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB führt. Diese Vergünstigung wird vorliegend freilich durch den Umstand verdeckt, dass auch alle anderen Mittäter nur wegen Versuchs bestraft werden, was aber auf andere Gründe zurückzuführen ist. Der BGH verdeutlicht dies an dem hypothetischen Fall, dass der im konkreten Sachverhalt als Schütze fungierende M von vornherein nur einen Angriff mit Verletzungsvorsatz durchgeführt hätte, so dass im Unterschied zum vorliegenden Geschehen nur eine Bestrafung wegen vollendeter Körperverletzung in Rede stehen würde:
Wenn z.B. die Diebe vereinbart hätten, ihre Verfolger nicht zu töten, sondern etwa dadurch unschädlich zu machen, daß sie ihnen zum Zwecke der Blendung Gift oder andere Stoffe in die Augen spritzten (…) und wenn M auf Grund einer solchen Abrede P derart in der Meinung angegriffen hätte, er sei ein Verfolger, so würde sich P´s Tatbeitrag rechtlich als ein versuchtes Verbrechen nach § 229 StGB darstellen, M dagegen hätte sich eines vollendeten Verbrechens nach dieser Vorschrift schuldig gemacht. Denn er hätte vorsätzlich einem anderen die in § 229 StGB bezeichneten Stoffe beigebracht (…).
Der BGH hebt dabei hervor, dass die Tatsache, dass M tatsächlich seinen Kumpan und nicht einen von ihm vorgestellten Verfolger angegriffen hat, als bloßer error in persona zu werten ist, der für seine Strafbarkeit keine Bedeutung hat:
Insoweit läge nämlich bei M – ebenso wie im Falle der Mordabrede – eine sog. Objektsverwechslung vor, die nur bei Ungleichwertigkeit der angegriffenen Rechtsgüter strafrechtlich von Bedeutung ist (…).
Demgegenüber führt die Objektverwechslung bei dem eigentlichen Opfer der Tat, P, durchaus zu einem signifikanten Unterschied, da niemand taugliches Opfer seiner selbst sein kann:
Für P aber wäre die Tatsache, daß er selbst der Verletzte, also nicht „ein anderer“ im Sinne jener Vorschriften war, ein „Mangel am Tatbestand“, der aber der Beurteilung der Tat als untauglicher Versuch nicht entgegenstehen würde, weil P durch seinen Tatbeitrag (die Verabredung der Tat und deren geistige Unterstützung durch seine Gegenwart) M´s Entschluß, einem – damals noch unbekannten – Menschen Gift beizubringen, und die Verwirklichung dieses Entschlusses mitverursacht und als Ergänzung seines eigenen gleichwertigen Tatanteils von vornherein gewollt haben würde. Dem könnte auch nicht entgegengehalten werden, daß P´s untauglicher Versuch kein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut gefährdet habe, weil das Gesetz die eigene Gesundheit des Täters gegen ihn selbst nicht schütze. Denn beim untauglichen Versuch kommt es nicht auf die Gefährdung eines bestimmten gegenwärtigen Rechtsguts an, weil schon die allgemeine Auflehnung gegen die rechtlich geschützte Ordnung gefährlich ist (…).
b) Im Anschluss an diese Überlegungen bejaht der BGH sodann die für eine Zurechnung des Mordversuchs an P im konkreten Fall erforderlichen Voraussetzungen, nämlich die gemeinsame Tatausführung und den gemeinschaftlichen Tatplan, auch im Hinblick auf dessen Person. Zum Tatplan:
(…) dabei muß er zur Zeit dieser geistigen Mitwirkung den ganzen Erfolg der Straftat als eigenen mitverursachen, d.h. im vorliegenden Falle die etwaige Erschießung eines Verfolgers durch seinen Tatbeitrag sich zu eigen machen wollen. Das hat das Landgericht mit der Feststellung des ein für allemal verabredeten Waffengebrauchs zur Verhinderung drohender Festnahme und der auf dieser Abrede beruhenden Gefahrengemeinschaft aller drei Mittäter, die M gewissermaßen zum Schießen „verpflichtete“, hinreichend begründet.
Sodann bejaht der BGH auch die Tatherrschaft des P zum Zeitpunkt der relevanten Tathandlung, also des Schusses durch M:
P war auch im fraglichen Zeitraum an der Tatherrschaft beteiligt. Er hätte bei der räumlichen Nähe seiner beiden Tatgenossen deren Tun jederzeit steuern und sie auffordern können, dieses Mal entgegen der Abrede nicht auf Verfolger zu schießen. Daß er dies bis zur Abgabe des Schusses nicht getan hat, begründet seine Mitverantwortung auch für den auf ihn abgegebenen Schuß (vgl. dazu Maurach, aaO., S. 504 b). Dieser Schuß entsprach, da er einem vermeintlichen Verfolger galt, der Abrede aller Beteiligten, überschritt mithin auch nicht den Rahmen des vom Vorsatz des Angeklagten Umfaßten und muß ihm daher voll zugerechnet werden (vgl. RGSt 54, 177, 179 f.).
Schlussendlich macht der BGH noch deutlich, dass es im Hinblick auf den gemeinsamen Tatplan unschädlich sei, dass der P selbstverständlich keinen Schuss auf sich selbst gewollt habe, was eine Zurechnung der Tathandlung jedoch nicht hindere:
Entgegen der Meinung der Revision kommt es innerhalb dieses Rahmens nicht darauf an, ob P im Augenblick des Schusses mit diesem selbst einverstanden war. Nachdem er durch seinen früheren Tatbeitrag mit Tätervorsatz den Stein ins Rollen gebracht hatte, hätte eine Sinnesänderung ihn nur nach den Grundsätzen des Rücktritts vom Versuch (§ 46 StGB) straflos machen können. Dazu aber wäre Voraussetzung, daß er entweder auch seine Mittäter zur Aufgabe ihres Tötungsvorsatzes bestimmt oder aber sonstwie seinem eigenen Tatbeitrag die ursächliche Wirkung für das weitere strafbare Tun der anderen entzogen hätte (…). Daß dies hier nicht geschehen ist, der Angeklagte vielmehr bis zum Schluß und zur Zeit der Abgabe des Schusses in ständigem Zusammenwirken mit den beiden anderen an ihrer ursprünglichen Abrede festgehalten hat, ergeben die klaren Feststellungen des Landgerichts.
4. Fazit
Die vorgehend präsentierte BGH-Entscheidung stellt einen zeitlosen Klassiker dar, der so oder in ähnlicher Konstellation (gerne auch mit anderen Rechtsgütern, etwa Beeinträchtigung des Eigentums eines Mittäters) jederzeit in einem Examensfall verarbeitet werden kann.
a) Knackpunkt des Falles ist dabei sicherlich die Frage, ob dem P im Hinblick auf den subjektiven gemeinsamen Tatplan tatsächlich ein Schuss auf ihn selbst zugerechnet werden kann, was er ja keinesfalls wollte, oder ob insofern nicht ein Exzess des M vorliegt. Insofern erscheint das Ergebnis des BGH aber durchaus richtig, auch wenn sein zuletzt vorgenommener Rekurs auf die Grundsätze des Rücktritts vom Versuch m.E. nicht sonderlich überzeugend ist: Denn es geht vorliegend ja nicht um eine vom BGH zuletzt angesprochene „Sinnesänderung“ des P, dieser wollte vielmehr von vornherein nicht, dass auf ihn geschossen wird.
b) Entscheidend erscheint daher vielmehr, ob man für einen zurechnungsausschließenden Exzess des handelnden Mittäters zugunsten der Übrigen allein auf das objektive Geschehen abstellt oder aber auch die subjektive Intention des Handelnden bei seiner Tat berücksichtigt: Objektiv betrachtet war der Schuss gegen P sicherlich nicht vom gemeinsamen Tatplan erfasst, subjektiv gesehen hingegen durchaus, da der M ja mit seinem Schuss – wie abgesprochen – einen vermeintlichen Verfolger treffen wollte. Für eine Zurechnung der vorliegenden Konstellation spricht dabei, dass die Fehlvorstellung für M gerade kein relevanter Tatbestandsirrtum, sondern ein unerheblicher Motivirrtum in Gestalt des error in persona ist. Dass dieser die anderen Mittäter aber entlasten soll, widerspricht bereits den Grundsätzen dieser Rechtsfigur, wonach jeder Mittäter auch für den anderen handelt, das arbeitsteilige Vorgehen also gerade nicht zu einer Entlastung der einzelnen Beteiligten im Hinblick auf nicht eigenhändig ausgeführte Tatteile führen soll: Hätte ein anderer Mittäter als M den fraglichen Schuss irrtümlich abgegeben, wäre er ebensowenig straflos geblieben, so dass die Tatsache, dass dies von M übernommen wurde, gleichfalls nicht zu Gunsten der Übrigen wirken kann. Ergänzend kann außerdem auf einen Vergleich zur Wirkung des error in persona bei anderen Beteiligungskonstellationen abgestellt werden: So wird sowohl bei der Anstiftung (Rose-Rosahl-Fall) als auch der mittelbaren Täterschaft die Zurechnung einer Objektverwechslung beim Vordermann zu Lasten des Hintermanns regelmäßig zumindest dann angenommen, wenn der Irrtum im Rahmen des allgemeinen Risikos der Tat begründet liegt. Letzteres kann aber auch für den vorliegenden Fall der Mittäterschaft unzweifelhaft angenommen werden, da bei der Abrede, auf Verfolger zu schießen, aufgrund der Hektik und Anspannung dieser Situation mit Fehlentscheidungen der vorliegenden Art gerechnet werden muss, so dass diese sozusagen dem Tatplan „immanent“ sind. Damit verbleibt aber als einziger zweifelhafter Umstand noch die Tatsache, dass P von der Tat selbst betroffen wurde, also nicht nur als Täter, sondern ebenso als Opfer derselben auftritt. Dieser Umstand kann indes unabhängig von der Frage des „ob“ der Strafbarkeit im Rahmen der Rechtsfolgenbestimmung berücksichtigt werden, namentlich durch den – hier allerdings nicht einschlägigen – § 61 StGB (Absehen von Strafe bei schweren Folgen), aber auch im Rahmen der allgemeinen Strafzumessungserwägungen, die bei der Bestimmung der konkreten Strafe anzustellen sind und auch die Folgen der Tat umfassen.
c) Bezüglich der Prüfungsreihenfolge in der Klausur ist noch anzumerken, dass das Vorgehen des BGH, welches hier chronologisch zum Urteil abgebildet wurde, in Teilbereichen selbstverständlich umzustellen ist: Danach wäre in einem ersten Schritt – wie auch sonst bei der Mittäterschaft – die Strafbarkeit des M, der den Schuss ja alleine abgegeben hat, zu prüfen und hierbei auch die Irrelevanz seiner Personenverwechslung (bei der Frage nach dem Vorliegen eines Tatbestandsirrtums gem. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB) zu thematisieren. Im Anschluss an die Feststellung seiner Strafbarkeit ist dann die mittäterschaftliche Zurechnung dieser Tat an den getroffenen P zu untersuchen, wobei dann im Rahmen des gemeinsamen Tatentschlusses die Frage zu klären ist, ob sich der Schuss des M (wenigstens aus seiner Perspektive) nicht als zurechnungsfreier Exzess darstellt – hier können dann auch die Erwägungen, die der BGH zu Beginn seiner Entscheidung aufführt (Berücksichtigung der eingetretenen Selbstverletzung bereits durch die Einordnung der Tat als bloß untauglichen Versuch des P), verarbeitet werden. Schlussendlich ist zu betonen, dass mit guten Argumenten selbstverständlich auch ein von der Lösung des BGH abweichendes Ergebnis vertretbar ist, wobei der Begründungsaufwand hier allerdings höher liegen dürfte als wenn konservativ der höchstrichterlichen Rechtsprechung gefolgt wird.
Wieso soll hier der error in persona – ob auf einen Mittäter oder einen anderen geschossen wird – ohne weiteres als tatbestandlich gleichwertig und daher unbeachtlich angenommen werden? Nur weil in beiden Fällen, dem vorgestellten und dem tatsächlichen ein Mensch als Objekt beteiligt ist?
Es handelt sich doch aber in dem einen Fall um ein taugliches und in dem anderen Fall eben um ein untaugliches Tatobjekt? Wer sich selbst umzubringen versucht, in der Annahme, es handele sich um einen anderen, unterliegt der dann immer einen tatbestandlich gleichwertigen und daher unbeachtlichen error in persona?
Die Umstände aus der Sicht des Angeschossenen bleiben unberücksichtigt. Der Angeschossene muss sich das Verhalten aus der Sicht des Schießenden zurechnen lassen. Auch wenn das Verhalten aus der Sicht des Angeschossenen einen untauglichen Versuch darstellt, ändert dies nichts an seiner Strafbarkeit