Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Lüth (BVerfGE 7, 198)
Leitsätze:
1. Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.
2. Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Er ergreift vor allem Bestimmungen zwingenden Charakters und ist für den Richter besonders realisierbar durch die Generalklauseln.
3. Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen (§ 90 BVerfGG), wenn er die Einwirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht verkennt. Das Bundesverfassungsgericht prüft zivilgerichtliche Urteile nur auf solche Verletzungen von Grundrechten, nicht allgemein auf Rechtsfehler.
4. Auch zivilrechtliche Vorschriften können „allgemeine Gesetze“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sein und so das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung beschränken.
5. Die „allgemeinen Gesetze“ müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden.
6. Das Grundrecht des Art.5 GG schützt nicht nur das Äußern einer Meinung als solches, sondern auch das geistige Wirken durch die Meinungsäußerung.
7. Eine Meinungsäußerung, die eine Aufforderung zum Boykott enthält, verstößt nicht notwendig gegen die guten Sitten im Sinne des § 826 BGB; sie kann bei Abwägung aller Umstände des Falles durch die Freiheit der Meinungsäußerung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Bedeutung:
In dem Lüth-Urteil entschied das BVerfG, inwieweit die Grundrechte auch im Privatrecht zu berücksichtigen sind. Es folgte dabei den Ansätzen in der Literatur, die eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte favorisierte. Die Grundrechte seien Ausdruck einer objektiven Wertentscheidung (zumindest in ihrem jeweiligen Kern), welche auch im Privatrecht zu beachten sei. So kommt den Grundrechten insbesondere bei den Generalklauseln des Zivilrechts (§§ 138, 157, 242, 823 I, 826, 1004 BGB etc.) eine Bedeutung bei der Auslegung des Zivilrechts zu („Ausstrahlungswirkung“). Eine unmittelbare Drittwirkung lehnte das BVerfG hingegen ab. Das Lüth-Urteil ist wohl eines der wichtigsten Urteile der gesamten deutschen Nachkriegsgeschichte.
Im Fall rief der Hamburger Innensenator Lüth zum Boykott des Films „Unsterbliche Geliebte“ von Veit Harlan auf, da dieser in der Nazizeit den antisemitischen Film „Jud Süß“ gedreht hatte. Daraufhin wurde Lüth erfolgreich von der Produktionsfirma des Films auf Unterlassung verklagt (gestützt auf § 826 BGB). Gegen dieses Urteil richtete sich die Verfassungsbeschwerde von Lüth, der sich in seiner Meinungsfreiheit verletzt sah. Das BVerfG gab ihm Recht.
Zu erwähnen ist auch die sog. Lüth-Formel, nach der in einem demokratischen Staat die Vermutung für die freie Rede gilt. Und zwar in allen Bereichen, insbesondere aber im Bereich des öffentlichen Lebens. In der Abwägung des „allgemeinen Gesetzes“ gegen den Schutzbereich der Meinungsfreiheit gilt daher stets die Vermutung der freien Rede.
Weiter wurde im Lüth-Urteil entschieden, dass friedliche Boykottaufrufe von Art. 5 I GG geschützt sind. Im Gegenzug dazu wurde im Blinkfüer-Urteil entschieden, dass gewaltsame Boykottaufrufe bzw. Aufrufe mit wirtschaftlichem Druck nicht mehr erfasst sind.
Hm, ein Unterlassungsanspruch „gestützt auf § 826 BGB“? Mir liegt das Urteil des LG Hamburg nicht vor, aber § 826 BGB gibt doch nur einen Schadensersatz, oder?