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Schlagwortarchiv für: BVerfG Leitentscheidungen

Nicolas Hohn-Hein

BVerfG: Mehrstündiges Festhalten auf Polizeiwache zur Anfertigung von Lichtbildern verstößt gegen Grundrechte

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

Vor kurzem ist eine examensrelevante Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen, die jetzt veröffentlicht wurde (BVerfG 1 BvR 142/05 – Urteil vom 08.03.2011). Es geht um die Frage, wann die Polizei, trotz erfolgter Identitätsfeststellung vor Ort, Verdächtige einer Straftat zur Anfertigung von Lichtbildern auf die Polizeistation mitnehmen und dort für mehrere Stunden festhalten darf. Konkret geht es um die Verletzung von Art. 2 Abs.2 GG, sowie Art. 104 Abs.2 GG.
Sachverhalt
B ist Mitglied der sog. „Bauwagenszene“ in der Stadt H. B und ca. 100 weitere Personen hatten sich am 27. September 2003 dazu entschlossen, ihre Bauwagen auf einem Grundstück ohne entsprechende Erlaubnis oder Billigung des Eigentümers abzustellen und dort dauerhaft zu leben. Die Gruppe hatte bereits mit der Stadt H über das Grundstück als Abstellort verhandelt, was bis zu diesem Zeitpunkt jedoch ergebnislos geblieben war.
Noch gegen Abend des gleichen Tages wurde das Grundstück von der Polizei, die von den Vorgängen Kenntnis erlangt hatte, umstellt und die Gruppe um B am Verlassen des Platzes gehindert. Wegen Verdachts des Hausfriedensbruchs (ein entsprechender Strafantrag seitens des Berechtigten war bereits gestellt worden), wurde die Identität aller anwesenden Personen festgestellt. Alle Personen konnten sich dabei ordnungsgemäß und vollständig ausweisen.
Daraufhin wurde der Gruppe per Megaphon durch die Polizei mitgeteilt, dass alle Personen wegen Verdachts des Hausfriedensbruchs vorläufig festgenommen seien. B berichtet wahrheitsgemäß, dass er im Folgenden – so wie alle anderen Beteiligten – auf eine Polizeiwache gebracht wurde, wo er etwa fünf Stunden in einer Zelle verbrachte. Erst nachdem er gegen 3:00 Uhr zum Polizeipräsidium gebracht worden war, wo er eine weitere Stunde in einer Zelle zubringen musste, wurden zwei Lichtbilder angefertigt. Hiernach ließ man B gehen.
In der Folge klagte B auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen vor dem zuständigen Gericht. Seine Beschwerde wird letztinstanzlich als unbegründet abgewiesen. Es habe sich ersichtlich nicht um eine vorläufige Festnahme nach § 127 Abs.2 StPO gehandelt. Vielmehr habe es die Identitätsfeststellung erfordert, B nach § 163b StPO festzuhalten und gemäß § 81b StPO erkennungsdienstlich zu behandeln. B wendet sich in seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts und macht die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs.2, und Art. 104 Abs.1 und 2 GG geltend.
Schutzbereich von Art. 2 Abs.2 GG eröffnet
Das BVerfG sieht den Schutzbereich von Art. 2 Abs.2 GG im vorliegenden Fall als eröffnet.

Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Eine Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung ist nur dann gegeben, wenn die tatsächlich und rechtlich an sich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird.

B hat durch das „Einsperren“ durch die Polizei seine körperliche Bewegungsfreiheit in jeder Hinsicht verloren.

Schwierigkeiten der Identitätsfeststellung müssen tatsächlich „erheblich“ sein
Das BVerfG macht deutlich, dass das Merkmal der „erheblichen Schwierigkeiten“ § 163b Abs.1 S.2 StPO restriktiv auszulegen ist. Diese Betrachtung trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei der Norm um eine Konkretisierung der Verhältnismäßigkeitsgebots handelt und die persönliche Freiheit nur in Ausnahmefällen zugunsten einer staatlichen Maßnahme eingeschränkt werden darf.

Die Vorschrift des § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO lässt ein Festhalten zur Identitätsfeststellung nur zu, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Die Vorschrift stellt insofern eine gesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebots dar und soll sicherstellen, dass ein Eingriff in die persönliche Freiheit nur dann erfolgt, wenn er zur Feststellung der Identität unerlässlich ist. Ein solcher Fall lag hier nicht vor. § 163b Abs. 1 Satz 1 StPO ermächtigt Polizeibeamte, gegenüber einem Verdächtigen die notwendigen Maßnahmen zur Identitätsfeststellung zu treffen, also den Betreffenden nach seinen Personalien zu befragen und diesen aufzufordern, mitgeführte Ausweisdokumente auszuhändigen. Nur dann, wenn die Identität des Betreffenden auch unter Ausschöpfung dieser Maßnahmen nicht mit der erforderlichen Sicherheit geklärt werden kann oder dies mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre, kommt ein weiteres Festhalten nach Satz 2 in Betracht. Ein weiterer Eingriff in das Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darf also nur dann erfolgen, wenn die Polizei auf der Basis der bereits bekannten Daten berechtigte Zweifel an der Identität der Person hat. Hiervon kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer hat sich gegenüber der Polizei vor Ort mit einem Reisepass samt Meldebestätigung ausgewiesen. Diese amtlichen Dokumente sind zur Feststellung der Identität geeignet. Anhaltspunkte dafür, dass der Pass des Beschwerdeführers gefälscht war oder seine Person nicht mit dem Passinhaber übereinstimmte, etwa, weil das Foto keine oder nur geringe Ähnlichkeit mit ihm aufwies, sind weder von der Polizei noch vom Landgericht benannt worden, noch sind sie ansonsten ersichtlich. Daher ist – insbesondere im Hinblick auf das verfassungsrechtlich fundierte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen bloßer Identitätsfeststellung und weiterem Festhalten – davon auszugehen, dass es den Polizeibeamten möglich war, die Identität aufgrund des vorgelegten Reisepasses vor Ort hinreichend sicher festzustellen. Ein Festhalten aus reinen Praktikabilitätserwägungen vermag schon die Erforderlichkeit der Maßnahme nicht zu begründen und dürfte im Übrigen auch auf die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer derartigen Maßnahme keinen Einfluss haben.

Zeitraum bis zur Anfertigung der Lichtbilder zu lang
Bezüglich der Frage, ob § 81b Alt.2 StPO hier anwendbar war, stellt sich die Frage, wie lange die angeordnete Maßnahme dauern darf. Ausgangspunkt ist auch hier wieder der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch wenn die Anfertigung der Lichtbilder tatsächlich gerechtfertigt war, muss trotzdem die zeitliche Komponente beachtet werden. Es darf nicht auf einem „Umweg“ zu einer Freiheitsentziehung kommen, indem der Betroffene übermäßig lange auf die erkennungsdienstliche Behandlung warten muss.

Auch ein Festhalten des Beschwerdeführers auf der Grundlage des § 81b Alt. 2 StPO war jedenfalls unverhältnismäßig, denn es verkannte die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Insoweit ist zwischen der Anordnung der Maßnahme und der Durchführung zu unterscheiden. Selbst wenn man in Bezug auf die Anordnung der Maßnahme mit dem Landgericht davon ausgeht, dass trotz eindeutig festgestellter Identität des Beschwerdeführers und aller anderen Personen die Erinnerung der einzelnen Polizisten als Zeugen vor Gericht aufgrund der Vielzahl an Personen ohne weitere Fotos möglicherweise nicht hinreichend gewährleistet gewesen wäre und es als Erinnerungsstütze noch ein Bedürfnis an weiteren im Strafprozess zu verwertenden Beweismitteln gab, rechtfertigt dies für die Durchführung jedenfalls nicht ein stundenlanges Festhalten und Einsperren des Beschwerdeführers auf verschiedenen Polizeiwachen. Die Gerichte verkennen die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips, dass in der Formulierung „soweit (…) notwendig“ in § 81b StPO seinen Niederschlag auch in der einfachgesetzlichen Regelung gefunden hat. Sie haben insoweit nicht ausgeführt, dass ein stundenlanges Festhalten des Beschwerdeführers für das Anfertigen der Lichtbilder des Beschwerdeführers notwendig war. Zwar kann die Masse der zu bearbeitenden Fälle eine zeitliche Verzögerung rechtfertigen, jedoch fehlt es an Ausführungen zum Vorliegen von Erschwernissen solchen Ausmaßes. Allerdings ist die Polizei als Strafverfolgungsbehörde – soweit nicht ein genereller entsprechender Bedarf besteht – nicht gezwungen, Personal und Material für erkennungsdienstliche Maßnahmen in solchem Maß vorzuhalten, dass eine Bearbeitung in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe erfolgen kann. Vielmehr kann es durchaus verhältnismäßig sein, derartige spezielle Ressourcen insbesondere räumlich zusammenzufassen. Eine Verbringung an diesen Ort und eine organisatorisch nicht zu vermeidende und gemäßigte Wartefrist können jedenfalls bei hinreichend gewichtigen Straftaten angemessene Eingriffe im Verhältnis zur Bedeutung des staatlichen Strafanspruches sein. Ein solcher Fall liegt aber auf der Basis des festgestellten Sachverhalts nicht vor. Der Beschwerdeführer ist nach mehreren Stunden ausschließlich in der Art erkennungsdienstlich behandelt worden, dass von ihm zwei einfache Fotos angefertigt wurden.[…] Insofern stellt sich die erkennungsdienstliche Behandlung als die Anfertigung von einfachen, alltäglichen Fotoaufnahmen dar. Für die Annahme der Erforderlichkeit in diesem Fall hätte es einer genaueren Auseinandersetzung mit anderen Möglichkeiten bedurft, zeitlich früher Aufnahmen des Beschwerdeführers in der gleichen Qualität und Machart anzufertigen, die den Zweck des § 81b StPO nicht schlechter erfüllt hätten. Hierbei hätten die Gerichte insbesondere prüfen müssen, ob die Beamten entsprechende Aufnahmen nicht mit einer verfügbaren oder kurzfristig herbeizuschaffenden Kamera auch vor Ort, als die Personen einzeln aus dem Kessel zur Identitätsfeststellung herausgeführt wurden, hätten machen können oder sonst spätestens auf den einzelnen Polizeiwachen.

Freiheitsentziehung nur aufgrund richterlicher Anordnung
Durch die erhebliche Dauer des Festhaltens des B sieht das BVerfG eine Verletzung von Art. 104 Abs.2 GG. Im Gegensatz zu einer bloßen vorübergehenden Freiheitsbeschränkung ist an die Rechtfertigung einer Freiheitsentziehung ein höherer Maßstab anzulegen. Da es sich um eine völlige Beseitigung der Bewegungsfreiheit des Betroffenen handelt und damit ein besonders schwerer Eingriff erfolgt, ist in der Regel eine richterliche Anordnung erforderlich.

Das Einsperren des Beschwerdeführers in eine Gewahrsamszelle auf der Polizeiwache beziehungsweise auf dem Polizeipräsidium sowie als Verbindungsglied zwischen beiden das Verbringen dorthin mittels Polizeifahrzeugen stellen eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG und nicht lediglich eine Freiheitsbeschränkung dar. Während eine Freiheitsbeschränkung schon dann anzunehmen ist, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist, liegt eine Freiheitsentziehung erst dann vor, wenn die tatsächlich und rechtlich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit nach allen Seiten hin aufgehoben wird. Die Freiheitsentziehung ist der schwerste Fall der Freiheitsbeschränkung. Beide Begriffe sind entsprechend ihrer Intensität abzugrenzen. Jedenfalls muss die Unterbringung einer Person gegen ihren Willen in einem Haftraum als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG angesehen werden. Nur kurzfristige Aufhebungen der Bewegungsfreiheit stellen dagegen keine Freiheitsentziehung dar. Nach Art. 104 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG ist die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung allein dem Richter vorbehalten, wobei bei nicht vorgelagerter richterlicher Entscheidung diese unverzüglich nach Beginn der Freiheitsentziehung zu bewirken ist.

Eine entsprechende richterliche Entscheidung ist nicht eingeholt worden. Diese wäre im Fall notwendig gewesen, da die Lichtbilder nicht umgehend nach Eintreffen auf der Polizeiwache angefertigt wurden, sondern erst Stunden später.

[…] Das Festhalten des Beschwerdeführers in Gewahrsamszellen auf der Polizeiwache und im Polizeipräsidium sowie die jeweilige Verbringung dahin stellen eine vollständige Aufhebung seiner Bewegungsfreiheit dar. Dabei stellt der Einschluss in Zellen den typischen Fall der hoheitlichen Freiheitsentziehung dar, den das Grundgesetz unter die besonderen Voraussetzungen des Art. 104 Abs. 2 GG stellen wollte. Anders als im Regelfall von § 81b StPO wurde der Beschwerdeführer nicht allein zur Dienststelle verbracht und im Weiteren umgehend erkennungsdienstlich behandelt, sondern über eine Dauer von mehreren Stunden allein verwahrt für eine nachfolgende erkennungsdienstliche Behandlung. […] Insbesondere ist die Gesamtdauer der Freiheitsentziehung nicht nur als kurzfristig anzusehen, denn sie umfasst jedenfalls einen Zeitraum, der nicht mehr unbedeutend ist. Die Gerichte haben damit die Auswirkungen des Festhaltens des Beschwerdeführers in tatsächlicher und in der Folge auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht verkannt und sich nicht mit den Anforderungen des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG auseinandergesetzt.

Fazit
Die Verfassungsbeschwerde des B ist damit begründet. Der Fall lässt sich in einer Klausur mittels sauberer Auslegung der einschlägigen Normen der StPO und der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in den Griff bekommen. Wichtig ist, die verschiedenen Maßnahmen der Polizei getrennt zu betrachten (Identitätsfeststellung vor Ort, Festhalten auf der Polizeiwache zwecks Lichtbildanfertigung). Der Unterschied zwischen Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung i.R.v. Art. 104 Abs.2 GG und im Polizeirecht sollte bekannt sein.

07.04.2011/0 Kommentare/von Nicolas Hohn-Hein
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Nicolas Hohn-Hein https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Nicolas Hohn-Hein2011-04-07 20:23:192011-04-07 20:23:19BVerfG: Mehrstündiges Festhalten auf Polizeiwache zur Anfertigung von Lichtbildern verstößt gegen Grundrechte
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Schwangerschaftsabbruch I (BVerfGE 39, 19)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.
2. Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter.
3. Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.
4. Der Gesetzgeber kann die grundgesetzlich gebotene rechtliche Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend ist, ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet. Im äußersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.
5. Eine Fortsetzung der Schwangerschaft ist unzumutbar, wenn der Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden. Darüber hinaus steht es dem Gesetzgeber frei, andere außergewöhnliche Belastungen für die Schwangere, die ähnlich schwer wiegen, als unzumutbar zu werten und in diesen Fällen den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen.
6. Das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) ist der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, das werdende Leben zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden.
Bedeutung:
Durch dieses Urteil wurde der Grundrechtschutz des ungeborenen Lebens / Nasciturus anerkannt. Eine teilweise Straffreiheit (z. B. nach einer qualifizierten Beratung, §§ 218a I, 219 StGB) einer Abtreibung ist aber verfassungsgemäß.

26.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 15:34:412009-04-26 15:34:41Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Schwangerschaftsabbruch I (BVerfGE 39, 19)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Josephine Mutzenbacher (BVerfGE 83, 130)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Ein pornographischer Roman kann Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sein.
2. Die Indizierung einer als Kunstwerk anzusehenden Schrift setzt auch dann eine Abwägung mit der Kunstfreiheit voraus, wenn die Schrift offensichtlich geeignet ist, Kinder oder Jugendliche sittlich schwer zu gefährden (§ 6 Nr. 3 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften – GjS -).
3. Die Vorschrift des § 9 Abs. 2 GjS ist verfassungsrechtlich unzulänglich, weil die Auswahl der Beisitzer für die Bundesprüfstelle nicht ausreichend geregel ist, der Wesensgehaltsgrundsatz also nicht gewahrt ist.
Bedeutung:
In diesem Urteil setzt das BVerfG eindrucksvoll seine sehr weite Interpretation des Kunstbegriffs fort. Weiterhin setzt sich dieses Urteil vorbildlich mit den Anforderungen einer gerechten Abwägung im Wege praktischer Konkordanz und den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips auseinander. Die Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Schriften hatte das Grundrecht des Verlegers des Buches „Josephine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“ bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Das BVerfG hält eine Indizierung mit dem Zweck des Jugendschutzes zwar für möglich, die Bundesprüfstelle hätte aber ausführen müssen, warum Sie dem Jugendschutz im Einzelfall bei der Abwägung Vorrang vor der Kunstfreiheit zukommen lässt.

26.04.2009/1 Kommentar/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 15:25:392009-04-26 15:25:39Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Josephine Mutzenbacher (BVerfGE 83, 130)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Strafgefangene (BVerfGE 33, 1)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Auch die Grundrechte von Strafgefangenen können nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden.
2. Eingriffe in die Grundrechte von Strafgefangenen, die keine gesetzliche Grundlage haben, müssen jedoch für eine gewisse Übergangsfrist hingenommen werden.
3. Eine Einschränkung der Grundrechte des Strafgefangenen kommt nur in Betracht, wenn sie zur Erreichung eines von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zweckes unerlässlich ist.
4. Es wird Aufgabe eines Strafvollzugsgesetzes sein, eine Grenze zu ziehen, die sowohl der Meinungsfreiheit des Gefangenen wie den unabdingbaren Erfordernissen eines geordneten und sinnvollen Strafvollzuges angemessen Rechnung trägt.
Bedeutung:
Seit dieser Entscheidung des BVerfG ist geklärt, dass die Grundrechte auch im „besonderen Gewaltverhältnis“/“Sonderrechtsverhältnis“ gelten. Als Sonderrechtsverhältnis bezeichnet man einen Zustand der gesteigerten Bindung des Bürgers an den Staat, welche in ihrer Intensität über die normale Bindung des Bürgers an den Staat (allgemeines Gewaltverhältnis) hinausgeht. Auch hier gilt nach dem BVerfG der Gesetzesvorbehalt für grundrechtsbeschränkende Maßnahmen.
Typische Sonderrechtsverhältnisse sind: Strafgefangene, Wehrdienstleistende, Schüler, Richter und sonstige Beamte.

26.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 15:18:212009-04-26 15:18:21Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Strafgefangene (BVerfGE 33, 1)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – der Nassauskiesungs-Beschluss (BVerfGE 58, 300)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. a) Bei Streit über die Rechtmäßigkeit einer enteignenden Maßnahme haben die grundsätzlich zuständigen Verwaltungsgerichte deren Rechtmäßigkeit in vollem Umfang zu prüfen. Hierzu gehört die Feststellung, ob das Gesetz, auf dem der Eingriff beruht, eine Regelung über Art und Ausmaß der zu leistenden Entschädigung enthält.
b) Den ordentlichen Gerichten obliegt bei Streit wegen der Höhe der Enteignungsentschädigung die Prüfung, ob dem Betroffenen eine den (vorhandenen) gesetzlichen Vorschriften entsprechende Entschädigung gewährt worden ist (vgl. BVerfGE 46, 268 [285]).
2. Sieht der Betroffene in einer gegen ihn gerichteten Maßnahme eine Enteignung, so kann er eine Entschädigung nur einklagen, wenn eine gesetzliche Anspruchsgrundlage vorhanden ist. Fehlt sie, muss er sich bei den zuständigen Gerichten um die Aufhebung des Eingriffsaktes bemühen.
3. Bei der Bestimmung der Rechtsstellung des Grundstückseigentümers nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG wirken bürgerliches Recht und öffentlich-rechtliche Gesetze gleichrangig zusammen.
4. Es steht mit dem Grundgesetz in Einklang, dass das Wasserhaushaltsgesetz das unterirdische Wasser zur Sicherung einer funktionsfähigen Wasserbewirtschaftung – insbesondere der öffentlichen Wasserversorgung – einer vom Grundstückseigentum getrennten öffentlich-rechtlichen Benutzungsordnung unterstellt hat.
Bedeutung:
(s. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Nassauskiesungsbeschluss)
Diese Entscheidung ist wesentlich für die Abgrenzung von Enteignungen einerseits und Inhalts- und Schrankenbestimmungen andererseits (Art. 14 GG). Nach dem Beschluss des BVerfG sind diese Rechtsinstitute grundverschieden, sodass die bisherige Auffassung der Instanzgerichte, nach der eine Inhalts- und Schrankenbestimmung bei besonders schweren Belastungen in eine Enteignung „umschlagen“ konnte, nicht mehr haltbar ist. Weiterhin beendete das BVerfG durch den Nassauskiesungsbeschluss die bis dato übliche Praxis des „Dulden und Liquidierens“ (es war zuvor möglich, einen rechtswidrigen Eingriff in Art. 14 GG hinzunehmen und dann Schadensersatz zu verlangen). Somit gewährleistet Art. 14 GG nunmehr in erster Linie einen Bestandsschutz und keinen reinen Wertschutz. Rechtswidrige Beeinträchtigungen seines Eigentums muss der Bürger gerichtlich abwehren, ansonsten kann ihm ein Entschädigungsanspruch (wegen enteignungsgleichem Eingriff) nicht zustehen (analog § 254 BGB).

26.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 15:03:272009-04-26 15:03:27Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – der Nassauskiesungs-Beschluss (BVerfGE 58, 300)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Bundestagsauflösung / Vertrauensfrage Helmut Kohls (BVerfGE 62, 1)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht

Leitsätze:
1. Im Organstreit kann der einzelne Bundestagsabgeordnete die behauptete Verletzung jedes Rechts, das mit seinem Status als Abgeordneter verfassungsrechtlich verbunden ist, im eigenen Namen geltend machen. An der Gewährleistung der in GG Art 39 Abs 1 S 1 festgelegten Dauer der Wahlperiode hat der Status des Abgeordneten Anteil.
2. Die Anordnung der Auflösung des Bundestages oder ihre Ablehnung gem GG Art 68 ist eine politische Leitentscheidung, die dem pflichtgemäßen Ermessen des Bundespräsidenten obliegt. Ein Ermessen im Rahmen des GG Art 68 Abs 1 S 1 ist dem Bundespräsidenten freilich nur dann eröffnet, wenn im Zeitpunkt seiner Entscheidung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen.
3. GG Art 68 normiert einen zeitlich gestreckten Tatbestand. Verfassungswidrigkeiten, die auf den zeitlich vorangehenden Stufen eingetreten sind, wirken auf die Entscheidungslage fort, vor die der Bundespräsident nach dem Auflösungsvorschlag des Bundeskanzlers gestellt ist.
4.1 GG Art 68 Abs 1 S 1 ist eine offene Verfassungsnorm, die der Konkretisierung zugänglich und bedürftig ist.
4.2 Die Befugnis zur Konkretisierung von Bundesverfassungsrecht kommt nicht allein dem Bundesverfassungsgericht, sondern auch anderen obersten Verfassungsorganen zu. Dabei sind die bereits vorgegebenen Wertungen, Grundentscheidungen, Grundsätze und Normen der Verfassung zu wahren.
4.3 Bei der Konkretisierung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung ist zumal ein hohes Maß an Übereinstimmung in der verfassungsrechtlichen wie verfassungspolitischen Beurteilung und Bewertung der in Rede stehenden Sachverhalte zwischen den möglichen betroffenen obersten Verfassungsorganen unabdingbar und eine auf Dauer angelegte, stetige Handhabung unerläßlich. Eine politisch umkämpfte und rechtlich umstrittene Praxis von Parlamentsmehrheiten und Regierungsmehrheiten reicht als solche hierfür nicht aus.
5. Vertrauen im Sinne des GG Art 68 meint gem. der deutschen verfassungsgeschichtlichen Tradition die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers.
6. Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Wege des GG Art 68 anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Dies ist ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des GG Art 68 Abs 1 S 1.
7. Eine Auslegung dahin, dass GG Art 68 einem Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, gestattete, sich zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben, würde dem Sinn des GG Art 68 nicht gerecht. Desgleichen rechtfertigen besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben die Auflösung nicht.
8.1 Ob eine Lage vorliegt, die eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr sinnvoll ermöglicht, hat der Bundeskanzler zu prüfen, wenn er beabsichtigt, einen Antrag mit dem Ziel zu stellen, darüber die Auflösung des Bundestages anzustreben.
8.2 Der Bundespräsident hat bei der Prüfung, ob der Antrag und der Vorschlag des Bundeskanzlers nach GG Art 68 mit der Verfassung vereinbar sind, andere Maßstäbe nicht anzulegen; er hat insoweit die Einschätzungskompetenz und Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers zu beachten, wenn nicht eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung der politischen Lage der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist.
8.3 Die Einmütigkeit der im Bundestag vertretenen Parteien, zu Neuwahlen zu gelangen, vermag den Ermessensspielraum des Bundespräsidenten nicht einzuschränken; er kann hierin jedoch einen zusätzlichen Hinweis sehen, daß eine Auflösung des Bundestages zu einem Ergebnis führen werde, das dem Anliegen des GG Art 68 näher kommt als eine ablehnende Entscheidung.
9. In GG Art 68 hat das Grundgesetz selbst durch die Einräumung von Einschätzungsspielräumen und Beurteilungsspielräumen sowie von Ermessen zu politischen Leitentscheidungen an drei oberste Verfassungsorgane die verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten weiter zurückgenommen, als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug; das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in GG Art 68 selbst angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten obersten Verfassungsorganen. Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten.
Bedeutung:
(s. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Vertrauensfrage)
Dieses Urteil des BVerfG ermöglicht es dem Bundeskanzler eine Vertrauensfrage zu stellen mit dem Ziel, dass ihm das Vertrauen pro forma nicht ausgesprochen wird, um so letztlich eine Auflösung des Bundestages und Neuwahlen zu erreichen. Eine solche Vorgehensweise sieht das GG eigentlich nicht vor. Es gibt nur die „echte“ Vertrauensfrage und das konstruktive Misstrauensvotum (Art. 68 bzw. 67 GG). Damit erteilt das GG dem Bundestag bewusst kein Selbstauflösungsrecht. Ausnahmsweise kann aber die von Helmut Kohl praktizierte Vorgehensweise verfassungskonform sein, wenn hierdurch eine Lage politischer Instabilität behoben werden soll (vgl. insoweit die Leitsätze Nr.6 – 8). Die Regierung darf nur bedingt handlungsfähig sein. Die Überprüfung dieser Voraussetzungen durch das BVerfG findet allerdings nur eingeschränkt statt, es besteht ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum der drei anderen involvierten Verfassungsorgane (BK, BT, BPrä).
Dieses Urteil war somit auch der Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der von Gerhard Schröder gestellten Vertrauensfrage, welche 2005 durch das BVerfG ebenfalls bestätigt wurde (BVerfGE 114, 121). Es gab dabei jedoch zwei Sondervoten.

26.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 13:27:012009-04-26 13:27:01Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Bundestagsauflösung / Vertrauensfrage Helmut Kohls (BVerfGE 62, 1)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. In Art. 12 Abs. 1 GG wird nicht die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung proklamiert, sondern dem Einzelnen das Grundrecht gewährleistet, jede erlaubte Tätigkeit als Beruf zu ergreifen, auch wenn sie nicht einem traditionell oder rechtlich fixierten „Berufsbild“ entspricht.
2. Der Begriff „Beruf“ in Art. 12 Abs. 1 GG umfasst grundsätzlich auch Berufe, die Tätigkeiten zum Inhalt haben, welche dem Staate vorbehalten sind, sowie „staatlich gebundene“ Berufe. Jedoch enthält Art. 33 GG für Berufe, die „öffentlicher Dienst“ sind, in weitem Umfang Sonderregelungen.
3. Wenn eine Tätigkeit in selbständiger und in unselbständiger Form ausgeübt werden kann und beide Formen der Ausübung eigenes soziales Gewicht haben, so ist auch die Wahl der einen oder anderen Form der Berufstätigkeit und der Übergang von der einen zur anderen eine Berufswahl im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG.
4. Inhalt und Umfang der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG lassen sich schon durch eine Auslegung, die dem Sinn des Grundrechts und seiner Bedeutung im sozialen Leben Rechnung trägt, weitgehend sachgemäß bestimmen; es bedarf dann nicht des Rückgriffs auf die Schranke des Wesensgehalts (Art. 19 Abs. 2 GG).
5. Die Regelungsbefugnis nach Art. 12 Abs. 1 Satz GG erstreckt sich auf Berufsausübung und Berufswahl, aber nicht auf beide in gleicher Intensität. Sie ist um der Berufsausübung willen gegeben und darf nur unter diesem Blickpunkt allenfalls auch in die Freiheit der Berufswahl eingreifen. Inhaltlich ist sie umso freier, je mehr sie reine Ausübungsregelung ist, umso enger begrenzt, je mehr sie auch die Berufswahl berührt.
6. Das Grundrecht soll die Freiheit des Individuums schützen, der Regelungsvorbehalt ausreichenden Schutz der Gemeinschaftsinteressen sicherstellen. Aus der Notwendigkeit, beiden Forderungen gerecht zu werden, ergibt sich für das Eingreifen des Gesetzgebers ein Gebot der Differenzierung etwa nach folgenden Grundsätzen:
a) Die Freiheit der Berufsausübung kann beschränkt werden, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen; der Grundrechtsschutz beschränkt sich auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen.
b) Die Freiheit der Berufswahl darf nur eingeschränkt werden, soweit der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert. Ist ein solcher Eingriff unumgänglich, so muss der Gesetzgeber stets diejenige Form des Eingriffs wählen, die das Grundrecht am wenigsten beschränkt.
c) Wird in die Freiheit der Berufswahl durch Aufstellung bestimmter Voraussetzungen für die Aufnahme des Berufs eingegriffen, so ist zwischen subjektiven und objektiven Voraussetzungen zu unterscheiden: für die subjektiven Voraussetzungen (insbesondere Vor- und Ausbildung) gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in dem Sinn, dass sie zu dem angestrebten Zweck der ordnungsmäßigen Erfüllung der Berufstätigkeit nicht außer Verhältnis stehen dürfen. An den Nachweis der Notwendigkeit objektiver Zulassungsvoraussetzungen sind besonders strenge Anforderungen zu stellen; im allgemeinen wird nur die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut diese Maßnahme rechtfertigen können.
d) Regelungen nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG müssen stets auf der „Stufe“ vorgenommen werden, die den geringsten Eingriff in die Freiheit der Berufswahl mit sich bringt; die nächste „Stufe“ darf der Gesetzgeber erst dann betreten, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit dargetan werden kann, dass die befürchteten Gefahren mit (verfassungsmäßigen) Mitteln der vorausgehenden „Stufe“ nicht wirksam bekämpft werden können.
7. Das Bundesverfassungsgericht hat zu prüfen, ob der Gesetzgeber die sich hiernach ergebenden Beschränkungen seiner Regelungsbefugnis beachtet hat; wenn die freie Berufswahl durch objektive Zulassungsvoraussetzungen eingeschränkt wird, kann es auch prüfen, ob gerade dieser Eingriff zum Schutz eines überragenden Gemeinschaftsguts zwingend geboten ist.
8. Auf dem Gebiet des Apothekenrechts entspricht der Verfassungslage gegenwärtig allein die Niederlassungsfreiheit, verstanden als das Fehlen objektiver Beschränkungen der Zulassung.
Bedeutung:
(s. hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/Apothekenurteil)
In diesem frühen und für die weitere Dogmatik prägenden Urteil legte das BVerfG die Grundsteine für seine spätere Rechtsprechung zu Art. 12 I GG. Nach dem BVerfG gewährleistet dieser Artikel ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit. Daraus schlussfolgert es, dass – eigentlich entgegen dem Wortlaut – nicht nur Eingriffe in die Berufsausübung (Art. 12 I S. 2 GG), sondern auch in die Berufswahl (Art. 12 I s. 1 GG) möglich sein sollen. Weiterhin begründet das BVerfG in diesem Urteil seine Drei-Stufen-Theorie (s. insb. Leitsatz Nr. 5 und 6). Danach ist zwischen Eingriffen in die Berufsausübung (1. Stufe = niedrigste Eingriffsintensität) und subjektiven (2. Stufe) und objektiven (3. Stufe) Zulassungsschranken zu differenzieren. Je nach Eingriffsintensität/Stufe steigen die Anforderungen an eine etwaige Rechtfertigung. Letztlich handelt es sich bei der Drei-Stufen-Theorie jedoch „nur“ um eine spezielle Ausprägung bzw. eine Daumenregel für die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Schranken-Schranke. Wenn bspw. das gesetzgeberische Ziel auch durch einen Eingriff auf einer niedrigeren Stufe hätte verwirklicht werden können, so ist regelmäßig die Erforderlichkeit zu verneinen. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung müssen je nach Stufe gewichtige oder weniger gewichtige Ziele den Eingriff rechtfertigen.

26.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 12:58:062009-04-26 12:58:06Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Lebenslange Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Die lebenslange Freiheitsstrafe für Mord (§ 211 Abs. 1 StGB) ist nach Maßgabe der folgenden Leitsätze mit dem Grundgesetz vereinbar.
2. Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse kann nicht festgestellt werden, dass der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe gemäß den Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Gnadenpraxis zwangsläufig zu irreparablen Schäden psychischer oder physischer Art führt, welche die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verletzen.
3. Zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Die Möglichkeit der Begnadigung allein ist nicht ausreichend. Vielmehr gebietet das Rechtsstaatsprinzip, die Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann, und das dabei anzuwendende Verfahren gesetzlich zu regeln.
4. Die Qualifikation der heimtückischen und der zur Verdeckung einer anderen Straftat begangenen Tötung eines Menschen als Mord gemäß § 211 Abs. 2 StGB verletzt bei einer, an dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten, restriktiven Auslegung nicht das Grundgesetz.
Bedeutung:
Dieses Urteil prägt noch heute maßgeblich die (restriktive) Auslegung der Mordmerkmale durch die Rechtsprechung des BGHSt (vgl. Leitsatz Nr. 4). Auch wurde durch dieses Urteil verbindlich entschieden, dass „lebenslänglich“ i.S.v. § 211 StGB bei verfassungskonformer Auslegung eben nicht wirklich „ein Leben lang“/“bis zum Tode“ heißt, sondern dass die Menschenwürde gebietet, dass auch ein Mörder eine realistische Perspektive haben muss, irgendwann wieder in Freiheit leben zu können. Das Gnadenrecht ist hierfür nicht ausreichend – das Rechtsstaatsprinzip gebietet insoweit eine rechtliche Regelung (Gnade ist nach hM etwas außerrechtliches und nicht gerichtlich überprüfbar).
Eigentlich gibt es dieses Urteil ja schon ziemlich lang (21. Juni 1977), gleichwohl fragen die Boulevard-Zeitungen immer wieder gerne und mit gespielter Empörung, warum lebenslänglich bei den Juristen denn nicht lebenslänglich heißt. Man kann Ihnen die Lektüre dieses Urteils nur empfehlen…

26.04.2009/2 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 12:54:222009-04-26 12:54:22Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Lebenslange Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Numerus Clausus (BVerfGE 33, 303)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung absoluter, durch Erschöpfung der gesamten Ausbildungskapazität gekennzeichneter Zulassungsbeschränkungen für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung (hier: absoluter numerus clausus für das Medizinstudium).
2. Aus dem in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Recht auf freie Wahl des Berufes und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip folgt ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium. Dieses Recht ist durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes einschränkbar.
3. Absolute Zulassungsbeschränkungen für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung sind nur verfassungsmäßig,
a) wenn sie in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten angeordnet werden und
b) wenn die Auswahl und Verteilung der Bewerber nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber und unter möglichster Berücksichtigung der individuellen Wahl des Ausbildungsortes erfolgen.
4. Die wesentlichen Entscheidungen über die Voraussetzungen für die Anordnung absoluter Zulassungsbeschränkungen und über die anzuwendenden Auswahlkriterien hat der Gesetzgeber selbst zu treffen. Die Hochschulen können zur Regelung der weiteren Einzelheiten innerhalb bestimmter Grenzen ermächtigt werden.
5. § 17 des hamburgischen Universitätsgesetzes vom 25. April 1969 ist insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar, als der Gesetzgeber seinerseits für den Fall absoluter Zulassungsbeschränkungen keine Bestimmungen über Art und Rangverhältnis der Auswahlkriterien getroffen hat.
6. Art. 3 Abs. 2 des bayerischen Zulassungsgesetzes vom 8. Juli 1970 ist mit dem Grundgesetz unvereinbar, soweit Studienbewerbern mit bayerischem Wohnsitz, die einen in Bayern oder an einer der nächsterreichbaren Bildungseinrichtungen von Nachbarländern erworbenen Vorbildungsnachweis besitzen, generell und auch für den Fall absoluter Erschöpfung der Ausbildungskapazitäten ein Studium an heimatnahen Universitäten ermöglicht werden soll und zu diesem Zweck eine Vergünstigung hinsichtlich des durch den Eignungsgrad bestimmten Zulassungsranges gewährt wird.
7. Zur gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern für die Verteilung aller freien Studienplätze durch eine überregionale Stelle unter Anwendung einheitlicher Auswahlkriterien.
Bedeutung:
Dieses Urteil gilt als eine der wichtigsten Entscheidungen zur Leistungsdimension (status positivus) der Grundrechte. Diese sind eigentlich nach ihrer ursprünglichen Konzeption Abwehrrechte (status negativus) des Einzelnen gegen den Staat. Bei den Leistungsrechten ist zwischen originären Leistungsrechten (Anspruch auf Schaffung neuer staatlicher Leistungen, z.B. Art. 6 IV GG) und derivativen Teilhaberechten (d.h. gerechte Teilhabe an den vorhandenen Kapazitäten).
Das BVerfG leitete im Numerus-Clausus-Urteil aus der Berufsfreiheit (i.V.m. Art. 3 I GG und dem Sozialstaatsprinzip) einen Anspruch auf Zulassung zum Hochschulstudium ab, s. Leitsatz Nr. 2. Es handelt sich in erster Linie um ein derivatives Teilhaberecht. Es steht unter dem Vorbehalt des Möglichen. Ein Anspruch besteht grds. nur im Rahmen der vorhandenen Kapazitäten (vgl. Leits. 3a).

26.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 12:51:142009-04-26 12:51:14Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Numerus Clausus (BVerfGE 33, 303)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – DDR-Mauerschützen (BVerfGE 95, 96)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. a) Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist absolut und erfüllt seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung.
b) Es gebietet auch, einen bei Begehung der Tat gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgrund weiter anzuwenden, wenn dieser im Zeitpunkt des Strafverfahrens entfallen ist. Ob und inwieweit Art. 103 Abs. 2 GG auch das Vertrauen in den Fortbestand ungeschriebener Rechtfertigungsgründe in gleicher Weise schützt, wird nicht abschließend entschieden.
2. Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG findet seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden.
3. An einer solchen besonderen Vertrauensgrundlage fehlt es, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG muss dann zurücktreten.
Bedeutung:
Durch dieses Urteil ermöglichte das BVerfG die strafrechtliche Ahndung von schwerem Unrecht, welches an der deutsch-deutschen Grenze begangen wurde. Das im Strafrecht eigentlich strikt geltende Rückwirkungsverbot (Art. 103 II GG) greift bei schwerwiegenden Verstößen gegen elementare Rechtsgrundsätze und Menschenrechtsverletzungen nicht. Damit ist also eine Bestrafung von Personen möglich, die nach dem in der DDR geltenden Recht eigentlich rechtmäßig handelten. Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit muss aber so unerträglich sein, dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit weichen muss. Dann kann es aber in der Tat „entgegen Art. 103 II GG“ zu einer Bestrafung „gesetzlichen Unrechts“ kommen. Diese Rechtsprechung des BVerfG geht dogmatisch auf die sog. Radbruch’sche Formel zurück (entwickelt von dem Naturrechtler Gustav Radbruch). Sie führt die Rechtsprechung zur möglichen Bestrafung von schwersten Verbrechen aus der NS-Zeit fort.

26.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-26 12:47:412009-04-26 12:47:41Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – DDR-Mauerschützen (BVerfGE 95, 96)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Sasbach (BVerfGE 61, 82)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Auch außerhalb des Bereichs der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben steht einer Gemeinde das Eigentumsrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht zu.
2. a) Zur Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehört vor allem, dass der Richter – bezogen auf das als verletzt behauptete Recht – eine hinreichende Prüfungsbefugnis über die tatsächliche und rechtliche Seite des Rechtsschutzbegehrens hat sowie über eine zureichende Entscheidungsmacht verfügt, um einer erfolgten oder drohenden Rechtsverletzung wirksam abzuhelfen.
b) § 3 Abs. 1 Atomanlagen-Verordnung in der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts verwehrte den Verwaltungsgerichten weder, umfassend tatsächlich und rechtlich nachzuprüfen, ob ein Sachverhalt unter den Tatbestand der Vorschrift fällt und welche Rechtsfolgen sich daran anknüpfen, noch hindert er sie, einer insoweit festgestellten Verletzung von Rechten des Betroffenen wirksam abzuhelfen.
Bedeutung:
Dieses Urteil ist wesentlich für die Rechtstellung der Gemeinden als kommunale Gebietskörperschaften. Den Gemeinden steht gem. Art. 28 II GG ein Selbstverwaltungsrecht zu, welche sie auch im Wege der Kommunalverfassungsbeschwerde als subjektives Recht einklagen können. Die Gemeinden können sich allerdings nach Ansicht des BVerfG in der Sasbach-Entscheidung (str.) nicht auf Art. 14 I GG oder andere Grundrechte im Wege einer Verfassungsbeschwerde berufen. Dies gilt nach dem BVerfG auch im Bereich des fiskalischen Handelns, wenn also die Gemeinde nicht hoheitlich, sondern „wie ein Privater“ tätig wird. Auch in diesem Bereich fehle es an einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“.

22.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-22 20:24:332009-04-22 20:24:33Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Sasbach (BVerfGE 61, 82)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Kalkar II (BVerfGE 81, 310)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Im Bereich der Auftragsverwaltung nach Artikel 85 GG sind die Kompetenzen dergestalt verteilt, daß dem Land unentziehbar die Wahrnehmungskompetenz zusteht, die Sachkompetenz hingegen von vornherein nur unter dem Vorbehalt ihrer Inanspruchnahme durch den Bund.
2. a) Das Land kann durch eine Weisung des Bundes nach Artikel 85 Absatz 3 GG nur dann in seinen Rechten verletzt sein, wenn gerade die Inanspruchnahme der Weisungsbefugnis gegen die Verfassung verstößt.
b) Das Land hat dem Bund gegenüber kein einforderbares Recht, daß dieser seine im Einklang mit der Verfassung in Anspruch genommene Weisungsbefugnis inhaltlich rechtmäßig ausübt oder gar einen Verfassungsverstoß, insbesondere eine Grundrechtsverletzung, unterläßt. Eine Grenze ergibt sich in dem äußersten Fall, daß eine zuständige oberste Bundesbehörde unter grober Mißachtung der ihr obliegenden Obhutspflicht zu einem Tun oder Unterlassen anweist, welches im Hinblick auf die damit einhergehende allgemeine Gefährdung oder Verletzung bedeutender Rechtsgüter schlechterdings nicht verantwortet werden kann.
3. Die Weisung unterliegt dem Gebot der Weisungsklarheit: Die angewiesene Behörde muß unter Zuhilfenahme der ihr zu Gebote stehenden Erkenntnismöglichkeiten ihren objektiven Sinn ermitteln können.
4. Bei Ausübung seiner Weisungskompetenz unterliegt der Bund der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten. Er muß grundsätzlich – d.h. außer bei Eilbedürftigkeit – vor Weisungserlaß dem Land Gelegenheit zur Stellungnahme geben, dessen Standpunkt erwägen und dem Land zu erkennen geben, daß der Erlaß einer Weisung in Betracht gezogen werde.
5. Aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen sind im kompetenzrechtlichen Bund-Länder-Verhältnis nicht anwendbar. Dies gilt insbesondere für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Bedeutung:
Das Urteil befasst sich ausführlich und grundlegend mit dem Verhältnis zwischen Bund und Ländern bei der Bundesauftragsverwaltung, Art. 85 GG. Wichtig ist insoweit vor allem der erste Leitsatz, welcher die Wahrnehmungskompetenz den Ländern zuschreibt und die Sachkompetenz (d.h. auch Zweckmäßigkeitserwägungen, nicht bloße Rechtmäßigkeitskontrolle) dem Bund zubilligt. Das Land kann in einem Bund-Länder-Streit nur die Verletzung von Vorschriften rügen, die dieses spezifische Verhältnis betreffen, nicht aber etwaige Verstöße gegen sonstiges Verfassungsrecht (vor allem auch Grundrechte) durch den Bund, denn die Sachkompetenz steht ja gerade dem Bund zu (s. Leitsatz 5!).
Außerdem enthält das Urteil grundlegende Ausführungen zum (ungeschriebenen) Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens (Bundestreue). Dieser kann zB eine Anhörung der Länder gebieten (Leitsatz 4).

22.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-22 19:59:592009-04-22 19:59:59Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Kalkar II (BVerfGE 81, 310)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Kalkar I (BVerfGE 49, 89)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Aus dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie darf nicht ein Vorrang des Parlaments und seiner Entscheidungen gegenüber den anderen Gewalten als ein alle konkreten Kompetenzzuordnungen überspielender Auslegungsgrundsatz hergeleitet werden.
2. Die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland ist wegen ihrer weitreichenden Auswirkungen auf die Bürger, insbesondere auf ihren Freiheitsbereich und Gleichheitsbereich, auf die allgemeinen Lebensverhältnisse und wegen der notwendigerweise damit verbundenen Art und Intensität der Regelung eine grundlegende und wesentliche Entscheidung im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes. Sie zu treffen ist allein der Gesetzgeber berufen.
3. Hat der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird, kann er von Verfassungs wegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist.
4. In einer notwendigerweise mit Ungewissheit belasteten Situation liegt es zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Bei dieser Sachlage ist es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten. Denn insoweit ermangelt es rechtlicher Maßstäbe.
5. Die in die Zukunft hin offene Fassung des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG dient einem dynamischen Grundrechtsschutz. Sie hilft, den Schutzzweck des § 1 Nr. 2 AtomG jeweils bestmöglich zu verwirklichen.
6. Vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb möglicherweise entstehen können, hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen. Für die Gestaltung der Sozialordnung muß es insoweit bei Abschätzungen anhand praktischer Vernunft bewenden. Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen.
Bedeutung:
Dieser Beschluss ist eine der wichtigsten Entscheidungen des BVerfG für die sog. Wesentlichkeitstheorie (s. vor allem der Leitsatz Nr. 2) und damit zum Vorbehalt des Gesetzes, welcher sich aus dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip ableitet.

22.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-22 12:40:302009-04-22 12:40:30Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Kalkar I (BVerfGE 49, 89)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Brokdorf-Beschluss (BVerfGE 69, 315)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts ist vom Gesetzgeber beim Erlass grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten.
2. Die Regelung des Versammlungsgesetzes über die Pflicht zur Anmeldung von Veranstaltungen unter freiem Himmel und über die Voraussetzungen für deren Auflösung oder Verbot (§§ 14, 15) genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn bei ihrer Auslegung und Anwendung berücksichtigt wird, dass:
a) die Anmeldepflicht bei Spontandemonstrationen nicht eingreift und ihre Verletzung nicht schematisch zur Auflösung oder zum Verbot berechtigt,
b) Auflösung und Verbot nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen dürfen (BVerfGE 69, 315 (315)BVerfGE 69, 315 (316)3). Die staatlichen Behörden sind gehalten, nach dem Vorbild friedlich verlaufender Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben. Je mehr die Veranstalter ihrerseits zu einseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen oder zu einer demonstrationsfreundlichen Kooperation bereit sind, desto höher rückt die Schwelle für behördliches Eingreifen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.
4. Steht nicht zu befürchten, dass eine Demonstration im ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, bleibt für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist. In einem solchen Fall setzt ein vorbeugendes Verbot der gesamten Veranstaltung strenge Anforderungen an die Gefahrenprognose sowie die vorherige Ausschöpfung aller sinnvoll anwendbaren Mittel voraus, welche den friedlichen Demonstranten eine Grundrechtsverwirklichung ermöglichen.
5. Die Verwaltungsgerichte haben schon im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Sofortvollzug eines Demonstrationsverbotes in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung führt.
Bedeutung:
Der Brokdorf-Beschluss gilt als die Leitentscheidung zur Versammlungsfreiheit. Deren Bedeutung im demokratischen Rechtsstaat wird vom BVerfG besonders hervorgehoben. Die Anmeldepflicht nach dem VersG entfällt nach dem BVerfG bei Spontandemonstrationen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist im Versammlungsrecht besonders streng zu beachten.

22.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-22 12:37:092009-04-22 12:37:09Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Brokdorf-Beschluss (BVerfGE 69, 315)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Mephisto (BVerfGE 30, 173)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Sie gewährt zugleich ein individuelles Freiheitsrecht.
2. Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft nicht nur die künstlerische Betätigung, sondern auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks.
3. Auf das Recht der Kunstfreiheit kann sich auch ein Buchverleger berufen.
4. Für die Kunstfreiheit gelten weder die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG noch die des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG.
5. Ein Konflikt zwischen der Kunstfreiheitsgarantie und dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich ist nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung zu lösen; hierbei ist insbesondere die in GG Art. 1 Abs. 1 garantierte Würde des Menschen zu beachten.

Bedeutung:
Dieses Urteil ist zum einen für die Kunstfreiheit (Art. 5 III GG) bedeutend: Sie wird (weit) definiert (freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden). Das BVerfG zieht neben dem Künstler selbst auch andere Personen aus dem „Wirkbereich“ in den Schutzbereich mit ein (Verleger etc.).
Ferner enthält das Urteil Ausführungen zu einem postmortalen Persönlichkeitsschutz durch das GG: Dieser wird nach dem BVerfG in Fortführung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Art. 1 I GG gewährleistet (nicht iVm Art. 2 I GG wie beim APR!), denn die Menschenwürde gebietet ein Mindestmaß an Respekt und Ehrenschutz einer Persönlichkeit auch über den Tod hinaus. Mit dem Laufe der Zeit schwächt sich dieser Schutzanspruch nach dem Tode jedoch ab.

22.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-22 12:28:272009-04-22 12:28:27Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Mephisto (BVerfGE 30, 173)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Lüth (BVerfGE 7, 198)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.
2. Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Er ergreift vor allem Bestimmungen zwingenden Charakters und ist für den Richter besonders realisierbar durch die Generalklauseln.
3. Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen (§ 90 BVerfGG), wenn er die Einwirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht verkennt. Das Bundesverfassungsgericht prüft zivilgerichtliche Urteile nur auf solche Verletzungen von Grundrechten, nicht allgemein auf Rechtsfehler.
4. Auch zivilrechtliche Vorschriften können „allgemeine Gesetze“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sein und so das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung beschränken.
5. Die „allgemeinen Gesetze“ müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden.
6. Das Grundrecht des Art.5 GG schützt nicht nur das Äußern einer Meinung als solches, sondern auch das geistige Wirken durch die Meinungsäußerung.
7. Eine Meinungsäußerung, die eine Aufforderung zum Boykott enthält, verstößt nicht notwendig gegen die guten Sitten im Sinne des § 826 BGB; sie kann bei Abwägung aller Umstände des Falles durch die Freiheit der Meinungsäußerung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Bedeutung:
In dem Lüth-Urteil entschied das BVerfG, inwieweit die Grundrechte auch im Privatrecht zu berücksichtigen sind. Es folgte dabei den Ansätzen in der Literatur, die eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte favorisierte. Die Grundrechte seien Ausdruck einer objektiven Wertentscheidung (zumindest in ihrem jeweiligen Kern), welche auch im Privatrecht zu beachten sei. So kommt den Grundrechten insbesondere bei den Generalklauseln des Zivilrechts (§§ 138, 157, 242, 823 I, 826, 1004 BGB etc.) eine Bedeutung bei der Auslegung des Zivilrechts zu („Ausstrahlungswirkung“). Eine unmittelbare Drittwirkung lehnte das BVerfG hingegen ab. Das Lüth-Urteil ist wohl eines der wichtigsten Urteile der gesamten deutschen Nachkriegsgeschichte.
Im Fall rief der Hamburger Innensenator Lüth zum Boykott des Films „Unsterbliche Geliebte“ von Veit Harlan auf, da dieser in der Nazizeit den antisemitischen Film „Jud Süß“ gedreht hatte. Daraufhin wurde Lüth erfolgreich von der Produktionsfirma des Films auf Unterlassung verklagt (gestützt auf § 826 BGB). Gegen dieses Urteil richtete sich die Verfassungsbeschwerde von Lüth, der sich in seiner Meinungsfreiheit verletzt sah. Das BVerfG gab ihm Recht.

22.04.2009/2 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-22 11:18:162009-04-22 11:18:16Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Lüth (BVerfGE 7, 198)
Dr. Stephan Pötters

Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Elfes (BVerfGE 6, 32)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Schon gelesen?

Leitsätze:
1. Art. 11 GG betrifft nicht die Ausreisefreiheit.
2. Die Ausreisefreiheit ist als Ausfluß der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG innerhalb der Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet.
3. Verfassungsmäßige Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG ist die verfassungsmäßige Rechtsordnung, d.h. die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind.
4. Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, eine seine Handlungsfreiheit beschränkende Rechtsnorm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung.
Bedeutung:
Zunächst entschied das BVerfG im Hinblick auf Art. 11 GG, dass vom Schutzbereich des Rechts auf Freizügigkeit die Ausreise aus der BRD – anders als die Einreise – nicht erfasst ist. Berühmt wurde das Elfes-Urteil vor allem deshalb, weil das BVerfG hier zum ersten mal klar Stellung zum Schutzbereich des Art. 2 I GG bezog: Nach dem BVerfG und der mittlerweile auch hL gewährt Art. 2 I GG auch die allgemeine Handlungsfreiheit. Der Schutzbereich ist damit denkbar weit, sodass Art. 2 I GG im Bereich der Freiheitsrechte die Funktion eines Auffanggrundrechts zukommt. Nach der Gegenauffassung ist Art. 2 I GG enger auszulegen und gewährleistet nur den Schutz eines Persönlichkeitskerns (sog. Persönlichkeitskerntheorie). Entsprechend der weiten Auslegung des Schutzbereichs, definiert das BVerfG auch die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung weit („Gesamtheit der Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind“). Damit sind die beiden anderen Schranken der Schrankentrias (Sittengesetz und Rechte anderer) nahezu bedeutungslos bzw. gehen im Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung regelmäßig auf.

22.04.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-04-22 11:07:232009-04-22 11:07:23Die wichtigsten Leitentscheidungen des BVerfG – Elfes (BVerfGE 6, 32)

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