Anmerkung zu BAG, Urt. vom 27.1.2011 – 2 AZR 825/09, NJW 2011, 2231
Schon mehrfach haben wie über Entscheidungen berichtet, die sich mit der Verdachtskündigung im Arbeitsrecht beschäftigen (s. zum Emmely-Fall hier und hier; zum Maultaschen-Fall hier; zum Frikadellen-Fall hier). Heute freuen wir uns, einen Gastbeitrag von Lioba Sternberg zu diesem Thema veröffentlichen zu können, der sich mit einem weiteren examensrelevanten Fall hierzu auseinandersetzt.
Problemaufriss
Als „Verdachtskündigung“ bezeichnet man eine außerordentliche Kündigung gem. § 626 BGB, bei der der Arbeitgeber die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mit einer nachgewiesenen Verfehlung des Arbeitnehmers, sondern mit dem bloßen Verdacht eines (nicht erwiesenen) strafbaren bzw. vertragswidrigen Verhaltens begründet (st. Rspr., vgl. nur BAG NZA 1995, 269, 270). An eine Verdachtskündigung sind strenge Anforderungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung zu stellen, um zu verhindern, dass unschuldige Mitarbeiter betroffen werden. Sie kann nur ausgesprochen werden, „wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, wenn die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören und wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat“ (BAG NZA 1995, 269, 271). Ein (nicht mehr ganz) neues Urteil des BAG aus dem Januar dieses Jahres bietet Gelegenheit, um noch einmal im Detail die Voraussetzungen einer außerordentlichen (Verdachts-)Kündigung gem. § 626 BGB zu wiederholen. Anders als bei den letzten bekannten Entscheidungen (Stichwort „Emmely“ oder „Maultaschen“) war hier nicht in erster Linie das Vorliegen eines wichtigen Grundes (§ 626 I) problematisch, sondern das Gericht musste sich mit der Frage befassen, wann die Frist des § 626 II BGB zu laufen beginnt. Das BAG hat klar gestellt, dass es nicht einen objektiv genau bestimmbaren Zeitpunkt gibt, in dem die Frist des § 626 II für eine Verdachtskündigung anläuft, vielmehr kann es im Laufe des Aufklärungszeitraums mehrere Zeitpunkte geben, „in denen der Verdacht dringend genug ist, um eine Verdachtskündigung darauf zu stützen“.
Sachverhalt
„Die Parteien streiten über eine fristlose Verdachtskündigung. Der im Jahr 1961 geborene Kl. war bei der beklagten Stadt seit dem 1. 9. 1989 als Orchestermusiker (2. Hornist) gegen ein Bruttomonatsgehalt von zuletzt 4580,79 Euro beschäftigt. Nach den anzuwendenden Bestimmungen des Tarifvertrags für Musiker in Kulturorchestern (TVK) sind Arbeitnehmer, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und mehr als 15 Jahre beschäftigt sind, ordentlich nicht mehr kündbar. Ihren Eigenbetrieb der städtischen Bühnen leitete die Bekl. mit Wirkung zum 1. 9. 2004 auf die S-GmbH über. Der Kl. widersprach einem Übergang seines Arbeitsverhältnisses. In der Folge wies die Bekl. den Kl. – ebenso wie die übrigen Mitarbeiter, die einer Überleitung widersprochen hatten – auf Grund eines mit der S-GmbH geschlossenen Personalgestellungsvertrags dieser zur Dienstausübung zu. […] Der Kl. war mit einem Kollegen aus dem Orchester befreundet. Dieser hat zwei Töchter, geboren 1990 und 1994. Der Kl. berührte das ältere der Mädchen – damals fünf- bis sechsjährig – bei Besuchen im Haus des Freundes in den Jahren 1995 und 1996 unsittlich, das jüngere – damals acht bis neun Jahre alt – mehrmals bei Besuchen bei der inzwischen allein lebenden Mutter in den Jahren 2002 und 2003. Am 22. 9. 2004 erstattete die Mutter Anzeige. Gegen den Kl. wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren unter anderem wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern eingeleitet. Gegenstand des Verfahrens war auch der Vorwurf, der Kl. habe im Jahr 1994 ein weiteres, damals elf Jahre altes Mädchen sexuell missbraucht. Am 20. 10. 2004 wurde die Bekl. durch den Vater der Mädchen über die gegen den Kl. erhobenen Vorwürfe informiert. In einem Gespräch der Bekl. mit den übrigen Hornbläsern am 22. 11. 2004 offenbarte einer der Musiker, dass sich der Kl. auch seinem Sohn unsittlich genähert habe und ein strafrechtliches Verfahren gegen Zahlung eines Bußgelds eingestellt worden sei. Er und andere Mitglieder der Stimmgruppe der Hornisten erklärten, mit dem Kl. nicht mehr zusammenarbeiten zu können. Am 13. 12. 2004 hörte die Bekl. den Kl. zu den Vorwürfen an. Dieser bestritt deren Berechtigung. Mit Schreiben vom 23. 12. 2004 sprach die Bekl. eine auf den Verdacht der Tatbegehungen gestützte fristlose Kündigung aus. Der dagegen erhobenen Klage gab das LAG Hessen mit Urteil vom 9. 10. 2006 mit der Begründung – rechtskräftig – statt, dass die Bekl. die Frist des § 626 II BGB versäumt habe. Nachdem die Bekl. im Verlauf der mündlichen Verhandlung vor dem LAG am 9. 10. 2006 erfahren hatte, dass gegen den Kl. Anklage erhoben worden war, bemühte sie sich vergeblich um Akteneinsicht. In einem Telefonat mit dem zuständigen Richter am 30. 11. 2006 erfuhr sie, dass die Anklageerhebung auf dem ihr bekannten Inhalt der Ermittlungsakte beruhe. Mit Schreiben vom 4. 12. 2006 lud sie den Kl. erneut zu einem Anhörungsgespräch am 11. 12. 2006. Der Kl. teilte ihr am 8. 12. 2006 mit, dass er nicht erscheinen werde. […]Die Bekl.[sprach] am 21. 12. 2006 erneut eine außerordentliche, fristlose Verdachtskündigung aus. Dagegen erhob der Kl. rechtzeitig die vorliegende Klage.
Hier hat der Arbeitgeber also zwei Mal eine außerordentliche Kündigung gem. § 626 BGB wegen des Verdachts derselben Tat (nämlich dem sexuellen Missbrauch an Kindern eines Kollegen) ausgesprochen. Fraglich ist, ob ein solches Vorgehen zulässig ist. Problematisch erscheint dabei insbesondere die Einhaltung der Frist des § 626 II BGB.
Die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung gem. § 626 BGB wird wie folgt geprüft:
1. Zunächst bedarf es einer wirksame Kündigungserklärung (§§ 133, 157) in Schriftform (§623).
2. Sodann ist zu prüfen, ob die zweiwöchige Frist zur Erklärung der Kündigung gem. § 626 II eingehalten wurde. Es handelt sich hierbei nicht um eine Kündigungsfrist wie bei § 622, sondern um eine materielle Präklusionsfrist. Sie beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte positive Kenntnis von den maßgeblichen Tatsachen (sowohl für als auch gegen die Kündigung sprechende Umstände) erlangt. Die Ausschlussfrist läuft nicht an, solange der Kündigungsberechtigte ernsthaft die Aufklärung des Sachverhalts betreibt, d.h. Ermittlungen anstellt und insbesondere den Kündigungsgegner anhört. Der Fristbeginn verzögert sich aber nur solange, wie die Aufklärung mit gebotener Eile unternommen wird. Bei der Anhörung des Kündigungsgegners wird von einer Regelfrist von einer Woche ausgegangen.
3. Schließlich muss ein wichtiger Grund für die Kündigung gem. § 626 I gegeben sein. Das Vorliegen des wichtigen Grundes wird in zwei Schritten geprüft: Zunächst ist zu fragen, ob der maßgebende Sachverhalt bzw. das dem Arbeitnehmer vorgeworfene Verhalten “an sich”, also generell dazu geeignet ist, einen wichtigen Grund darzustellen. Danach ist eine umfassende Interessenabwägung im Einzelfall vorzunehmen, wobei Kriterien wie die Schwere der Pflichtverletzung, der Verschuldensgrad, die Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers, sein Alter und seine Stellung im Unternehmen zu berücksichtigen sind. Bei der Interessenabwägung ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die außerordentliche Kündigung darf nur ultima ratio sein, d. h. es dürfen keine milderen Mittel als zumutbare Handlungsalternative zur Verfügung stehen.
4. Schließlich darf die Kündigung nicht wegen fehlender Betriebsratsanhörung gem. § 102 I 3 BetrVG unwirksam sein.
Zum Fall:
Eine wirksame Kündigungserklärung in Schriftform wurde am 21.6.2006 ausgesprochen. Es müsste aber auch die zweiwöchige Frist des § 626 II BGB gewahrt worden sein. Problematisch war hier, dass die Frist für eine Verdachtskündigung bereits einmal zu laufen begonnen hatte, nämlich nachdem der Arbeitgeber von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens erfahren hatte und die Kollegen im Orchester erklärt hatten, dass eine weitere Zusammenarbeit mit dem Betroffenen nicht möglich sei (22.11.2004, Anhörung des Betroffenen zu spät).
Das BAG stellt in dieser Entscheidung aber fest, dass „der Arbeitgeber nicht nur zwei Möglichkeiten [hat], dem sich mit der Zeit entwickelnden Zuwachs an Erkenntnissen durch eine außerordentliche Kündigung zu begegnen. Es gibt nicht lediglich zwei objektiv genau bestimmbare Zeitpunkte, zu denen die Frist des § 626 II BGB zu laufen begönne: einen Zeitpunkt für den Ausspruch einer Verdachts-, einen weiteren für den Ausspruch einer Tatkündigung. Im Laufe des Aufklärungszeitraums kann es vielmehr mehrere Zeitpunkte geben, in denen der Verdacht „dringend“ genug ist, um eine Verdachtskündigung darauf zu stützen.“
„Die Frist des §626 II BGB beginnt[…]erneut zu laufen, wenn der Arbeitgeber eine neue, den Verdacht der Tatbegehung verstärkende Tatsache zum Anlass für eine Kündigung nimmt. Eine den Verdacht verstärkende Tatsache kann die Anklageerhebung im Strafverfahren darstellen, selbst wenn sie nicht auf neuen Erkenntnissen beruht“.
Bei der zweiten Kündigung bezog sich der Verdacht zwar auf dieselbe Tat. Der zur Kündigung führende Sachverhalt war aber ein anderer. Anknüpfungspunkt für die erneute außerordentliche Kündigung war die Anklageerhebung. Bei der Anklageerhebung handelt es sich um eine den Verdacht verstärkende Tatsache, auch wenn sie nicht auf neuen Erkenntnissen beruht, denn während zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nur ein Anfangsverdacht erforderlich ist, bedarf es zur Anklageerhebung eines hinreichenden Tatverdachts. Nimmt eine öffentliche, unbeteiligte Stelle mit weitreichenderen Ermittlungsmöglichkeiten als sie dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen, einen hinreichenden Tatverdacht an, ist dies geeignet, den Verdacht des Arbeitgebers zu verstärken. Auf diese erweiterte Tatsachengrundlage kann der Arbeitgeber eine weitere Verdachtskündigung stützen, für die erneut eine Frist zu laufen beginnt. Das Recht eine weitere Verdachtskündigung auszusprechen wird also nicht durch eine erste verwirkt.
Der genaue Zeitpunkt i.S.d. § 626 II 2, in dem die Frist zu laufen begann, war hier der 8.12.2006. Erst zu diesem Zeitpunkt hatte der Arbeitgeber „vollständige“ positive Kenntnis von den maßgeblichen Tatsachen. Er durfte zunächst den Kündigungsgegner anhören, ohne dass die Frist anlief. Dabei ging er mit ausreichender Eile vor. Zwar wurde die in der Regel veranschlagte Wochenfrist überschritten, jedoch sah das Gericht besondere Ausnahmeumstände als gegeben an. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass der Betroffene nicht mehr im Betrieb beschäftigt sei und daher Interesse an einer Ankündigungszeit gehabt habe. Außerdem habe die weitere Anhörung aufgrund der bereits zuvor ausgesprochenen Verdachtskündigung nicht unmittelbar auf der Hand gelegen.
Auch einen wichtigen Grund gem. § 626 I bejahte das Gericht. Generell sieht es den Verdacht des sexuellen Missbrauchs an Kindern eines Kollegen als geeignet an, einen wichtigen Grund für eine Kündigung darzustellen. Ein ausreichender Bezug zum Arbeitsverhältnis bestand nach Auffassung des Gerichts darin, dass es sich um Kinder von Mitarbeitern handelte und darin, dass sich Kollegen weigerten mit dem Betroffenen weiter zusammenzuarbeiten. Das betriebliche Miteinander war daher erheblich gestört. Auch unter Abwägung der Interessen des Einzelfalls war es dem Arbeitgeber daher nicht zumutbar, den Arbeitnehmer unter Inkaufnahme einer fortbestehenden Störung des Betriebsfriedens weiterzubeschäftigen.
Praktische Relevanz der Entscheidung:
Die Entscheidung stellt für Arbeitgeber in sofern eine Erleichterung dar, als sie bei Bestehen eines Tatverdachts nun bedenkenlos „früh“ kündigen können, weil sie das Recht zum Ausspruch einer weiterenVerdachtskündigung damit nicht verwirken. Jedes Mal, wenn neue Erkenntnisse ans Licht treten, kann die Kündigung erneut ausgesprochen werden und die Frist beginnt von Neuem.
Zum Schluss: Weitere Rspr. zur Verdachtskündigung
Zum Schluss noch einmal der Hinweis auf die bisherige Rspr. zur Verdachtskündigung, die sich überwiegend mit der Interessenabwägung im Rahmen des § 626 I auseinandersetzt. Es zeichnet sich eine Änderung der Rechtsprechung bei Bagatellstraftaten ab. Die Interessenabwägung geht nun häufiger zugunsten des Arbeitnehmers aus.
Vgl. dazu nur den Artikel „Emmely greift um sich – Änderung der Rechtsprechungspraxis zur außerordentlichen Kündigung?“
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