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Dr. Sebastian Rombey

Diebstahl bei Durchsuchung: Polizist klaut Billigfeuerzeug – und wird dabei gefilmt

Arbeitsrecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Referendariat, Schon gelesen?, Startseite, StPO, Strafrecht, Strafrecht BT, Zivilrecht

Ein Fall wie gemacht für eine mündliche Prüfung: Ein zum Tatzeitpunkt 24-Jähriger Polizeianwärter steckt im Rahmen einer polizeilichen Durchsuchung ein Billigfeuerzeug ein – und wird dabei von einer installierten Videokamera gefilmt. Er ließ sich (erfolglos) dahingehend ein, dass er das Einwegfeuerzeug an sich genommen habe, um es sicherzustellen, da er es als gefährlich eingestuft habe. Vor dem Verlassen des durchsuchten Gebäudes habe er es aber zurückgelassen. Gefunden wurde es freilich nicht. Außerdem zeigt eine Auswertung der Videoaufnahmen, dass bei der Durchsuchung eine recht ausgelassene Stimmung herrschte, auf eine Gefahrsituation deutet wenig hin. Besonders pikant: Im Sommer des vergangenen Jahres wurden die Videoaufnahmen bei Facebook geleakt. Nun wurde der Polizeianwärter aufgrund der getroffenen Feststellungen vom AG Recklinghausen wegen Diebstahls mit Waffen zu 90 Tagessätzen zu je 80 € verurteilt. Zusätzlich droht ihm die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis. Die Berufung hat sein Verteidiger bereits angekündigt.

Der skurrile Fall gibt eine Bandbreite möglicher Prüfungsthemen her, die kurz angedeutet werden sollen (unterstellt, der Sachverhalt hat sich wie in der Presse geschildert ereignet): die Wegnahme kleiner Gegenstände in fremder Gewahrsamssphäre und die Beobachtung dabei; der Diebstahl mit Waffen bei Berufswaffenträgern und die Frage nach einer teleologischen Reduktion; das bloße „Beisichführen“ einer Waffe ohne Verwendung derselben als Qualifikation nach § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) Var. 1 StGB; die Frage, ob anlasslose Videoaufnahmen überhaupt in einem Strafprozess verwertet werden dürfen; die Betrachtung der Frage, ob der junge Polizeianwärter durch das Zurücklassen des Feuerzeugs zurückgetreten ist; die Einordnung als minderschwerer Fall; nicht zuletzt die Frage, warum das Gericht eine Geldstrafe von 90 Tagessätze verhängen konnte, wenn doch § 244 Abs. 3 StGB einen Strafrahmen von 3 Monaten bis 5 Jahren Freiheitsstrafe vorsieht – und was die Schwelle von 90 Tagessätzen überhaupt bedeutet. Überdies drängt sich ein vergleichender Pendelblick auf den arbeits- bzw. dienstrechtlichen Einschlag des Falles förmlich auf: Darf aufgrund einer solchen Straftat tatsächlich eine Entlassung erfolgen? Im Einzelnen:

Aus strafrechtlicher Sicht hat der Polizeianwärter eine fremde bewegliche Sache (das Einwegfeuerzeug) weggenommen, indem er es in seine Hosentasche gesteckt hat. Auch wenn der bisherige Gewahrsamsinhaber nicht vor Ort war, hatte er nach der Verkehrsauffassung jedenfalls von natürlichem Gewahrsamswillen getragenen „gelockerten“ Gewahrsam, und auch die Gegenauffassung würde ihm den Gewahrsam in seiner eigenen Wohnung sozial-normativ zuordnen. Die Neubegründung des gebrochenen, da gegen oder jedenfalls ohne den Willen des bisherigen Gewahrsamsinhabers aufgehobenen Gewahrsams kann trotz Beobachtung durch eine Videokamera („Diebstahl ist kein heimliches Delikt“) in einer fremden Gewahrsamssphäre durch Einstecken des Billigfeuerzeugs in die eigene Tasche erfolgen, weil hierbei eine Gewahrsamsenklave gebildet wird, die es dem bisherigen Gewahrsamsinhaber unmöglich macht, auf sozial-adäquate Weise den Gewahrsam zurückzuerlangen.

Aber ist dem jungen Polizeianwärter all dies auch nachweisbar? Das erstmalige Einstecken des Feuerzeugs bestreitet er nicht, es geht daher vornehmlich um die subjektive Tatbestandsseite, die neben dem Vorsatz nach § 15 StGB als Delikt mit überschießender Innentendenz eine rechtswidrige Zueignungsabsicht, also insbesondere den dauerhaften Enteignungsvorsatz bei jedenfalls vorübergehender Aneignungsabsicht fordert („se ut dominum gerere“). Er bestreitet dies und führt zu seiner Verteidigung vielmehr aus, er habe das Feuerzeug nicht für sich behalten, sondern vielmehr sicherstellen wollen. § 43 Nr. 1 PolG NRW drängt sich insoweit als Ermächtigungsgrundlage präventiven Polizeihandelns auf. Die Norm erlaubt eine Sicherstellung indes nur, um eine gegenwärtige Gefahr abzuwehren. Das Gericht wertete die Einlassung indes als bloße Schutzbehauptung. Denn die Videoaufnahmen zeigen den Feststellungen zufolge einen gut gelaunten Polizeianwärter in eher lockerer Stimmung; eine gegenwärtige Gefahr ist nicht ersichtlich.

Aber sind diese Videoaufnahmen überhaupt in einem Strafverfahren verwertbar? Mangels Beweiserhebungsverbots kommt allein ein selbständiges Beweisverwertungsverbot aus einem Verstoß gegen die Grundrechte in Betracht. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht bzw. das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Polizeianwärters aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG könnte insoweit verletzt sein. Es bedarf einer Abwägung, in die die Ziele des Strafprozesses einzubeziehen sind, eine Rechtsfrieden stiftende, die materiellen Wahrheit ans Tageslicht fördernde Entscheidung herbeizuführen, ohne hierbei rechtsstaatswidrige Wahrheitsfindung um jeden Preis zu betreiben, also unter Wahrung der Rechte des Beschuldigten. Dieser Zielkonflikt tritt bei Videoaufnahmen besonders deutlich zu Tage. Bei privaten Videoaufnahmen geht die Abwägung aber meist zugunsten des Verwenders der Videotechnik, der damit sein Eigentum schützen will, bzw. der Strafverfolgungsinteressen aus (näher Meyer-Goßner/Schmidt/Köhler, StPO, 65. Aufl. 2022, § 100h Rn. 1b) – zumal die Strafverfolgungsbehörden im vorliegenden Fall nichts von dem Einsatz der Videokamera wussten und sie damit denklogisch auch nicht dulden konnten, was für eine Zurechnung notwendig wäre.

Dies gibt Gelegenheit, auf die BGH-Entscheidung zum Einsatz von Dash-Cams im Straßenverkehr hinzuweisen (Urt. v. 15.05.2018 – VI ZR 233/17): Auch in diesem Fall verwenden Private (Pkw- oder Lkw-Fahrer) eine Videokamera und filmen damit den Verkehr. Diese anlasslosen Aufnahmen verstoßen zwar gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen der DS-GVO und führen zu einem Beweiserhebungsverbot, ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot folgt hieraus jedoch im Regelfall nicht. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Die Gefilmten begeben sich freiwillig in den öffentlichen Straßenverkehr und setzen sich damit einer Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer aus; zudem besteht in Unfallsituationen regelmäßig eine erhebliche Beweisnot; weiterhin zielt das Datenschutzrecht ausweislich Art. 1 DS-GVO nicht auf Beweisverwertungsverbote und – ganz zentral – ein systematischer Vergleich mit § 142 StGB zeigt, dass der Gesetzgeber den Beweisinteressen des Unfallgeschädigten ein besonderes Gewicht beimisst und Unfallbeteiligte im Rahmen ihrer aktiven Vorstellungs- und passiven Feststellungsduldungspflicht ohnehin ihre Personalien offenbaren müssen (siehe meine Besprechung zu dieser höchst relevanten Entscheidung hier).

Eine Besonderheit ergibt sich jedoch im vorliegenden Fall des Polizeianwärters daraus, dass die Aufnahmen von einer Wildkamera stammen. An den grundsätzlichen Wertungen dürfte sich hierdurch indes nichts ändern, auch wenn die Interessenlage des Videotechnikverwenders im Ausgangspunkt eine andere sein dürfte, wenngleich auch Wildkameras häufig zur Überwachung von Objekten eingesetzt werden, schlicht weil sie keine Stromquelle benötigen.

Doch ist der Polizeianwärter möglicherweise gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 StGB vom Versuch zurückgetreten? Wohl kaum. Zu der Einlassung, er habe das Feuerzeug bei Verlassen des durchsuchten Gebäudes zurückgelassen, würde man als Verteidiger nicht unbedingt raten, sondern eher zum Schweigen: Denn zum einen wird bei dem Diebstahl kleinerer Gegenstände bereits mit dem Einstecken eine Gewahrsamsenklave begründet (s.o.), weshalb der Diebstahl in diesem Stadium bereits vollendet ist und ein Rücktritt ausscheidet. Zum anderen kann eine Rückgabe des Diebesguts an das Opfer zwar grundsätzlich bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten nach § 46 Abs. 2 StGB Berücksichtigung finden. Das gilt aber nur, wenn – anders als hier – das Diebesgut auch tatsächlich an das Opfer zurückgelangt. Vorliegend war das Einwegfeuerzeug indes nicht auffindbar. Dass offenbar nicht zur geständigen und reuigen Einlassung geraten wurde, die sonst immer bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten besonders positiv gewertet wird, dürfte indes daran liegen, dass § 244 StGB selbst in Abs. 3 eine starre Mindeststrafe statuiert, die das Gericht auch bei Vorliegen der genannten Strafmilderungsgründe nicht unterschreiten könnte – und weil offenbar Hoffnung bestand, doch noch den Freispruch zu erreichen.

Ist das Grunddelikt verwirklicht, drängt sich der Qualifikationstatbestand des § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) Var. 1 StGB auf. Der Diebstahl mit Waffen fordert seinem Wortlaut nach lediglich das Beisichführen einer Waffe. Voraussetzung hierfür ist allein, dass der Täter die Waffe beim Diebstahl zu irgendeinem Zeitpunkt in Griffweite hat und sich ihr jederzeit ohne nennenswerten Aufwand bedienen kann (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 244 Rn. 27). In der Literatur wird daher zuweilen eine restriktive Auslegung des Tatbestands oder gar ein zusätzliches subjektives Element gefordert – beides hat sich in der Rechtsprechung aber mit Blick auf den eindeutigen Wortlaut der Norm, die Möglichkeit, einen minderschweren Fall anzunehmen, sowie den mittlerweile aktualisierten Willen des Gesetzgebers ohne Änderung des Wortlauts bei der Neufassung der Norm im Jahr 2011 durch das 44. StrÄndG bislang nicht durchgesetzt.

Gleiches gilt für die ebenfalls im Schrifttum teilweise vorgeschlagene teleologische Reduktion des § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) Var. 1 StGB für Berufswaffenträger. Eine solche Privilegierung, der der Gedanke zugrunde liegt, dass Berufswaffenträger weniger gefährlich seien als andere Täter, die bei einem Diebstahl eine Waffe bei sich führen, wird jedoch zu Recht abgelehnt. Zwar tragen Berufswaffenträger wie Polizisten ihre Dienstwaffe in Erfüllung dienstrechtlicher Pflichten, auch sind sie im Umgang damit besonders geschult; dies ändert aber nichts an der abstrakt höheren Gefährlichkeit eines unter Mitführung einer Waffe begangenen Diebstahls, da es auch hier stets zu unerwarteten Zwischenfällen während des Diebstahls kommen kann (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 244 Rn. 12 mwN). Man kann das Argument der Literatur sogar noch anders wenden: Gerade Berufswaffenträger wie Polizisten könnten aufgrund drohender beruflicher Nachteile zu einem Einsatz der Waffe verleitet werden, wenn der Diebstahl entdeckt wird (Rengier, Strafrecht BT I, 24. Aufl. 2022, § 4 Rn. 57).

Gleichwohl besteht – wie angedeutet – die Möglichkeit, einen minderschweren Fall anzunehmen, § 244 Abs. 3 StGB. Ein minderschwerer Fall liegt nach der Rechtsprechung immer dann vor, wenn das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung des Regelstrafrahmens unangemessen bzw. die Anwendung des milderen Strafrahmens geboten erscheint. Insoweit bedarf es einer Gesamtbetrachtung, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (BGH, Urt. v. 22.01.2015 – 3 StR 412/14; Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 46 Rn. 85). So lag es hier: Das Einstecken eines Billigfeuerzeugs als bloßer Cent-Artikel dürfte von den allermeisten Fällen des Diebstahls mit Waffen vom Unrechtsgehalt her deutlich nach unten abweichen. Weitere Umstände (etwa zur Täterpersönlichkeit) sind nicht öffentlich bekannt, werden aber wohl in dieselbe Richtung gewiesen haben.

Colorandi causa sei noch auf die ausgeurteilte Strafe hingewiesen: Die Umschaltnorm des § 47 StGB enthält in Abs. 1 die Wertung, dass von der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen von unter 6 Monaten abzusehen ist, wenn und soweit eine kurze Freiheitsstrafe nicht ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände – insbesondere aus spezialpräventiven Gründen – unerlässlich ist (s. auch Nr. 138 Abs. 4 RiStBV). Vor allem bei Wiederholungstätern mit hoher Rückfallgeschwindigkeit oder Bewährungsversagen greift man in der Praxis hierauf zurück. Anderenfalls wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Abs. 2 S. 1 ermöglicht es, in Fällen wie dem vorliegenden, in denen das Gesetz keine Geldstrafe vorsieht, dennoch eine solche auszusprechen, wobei nach Abs. 2 S. 2 ein Monat Freiheitsstrafe 30 Tagessätzen entspricht – was die hier ausgeurteilte Geldstrafe von 90 Tagessätzen erklärt, sieht doch § 244 Abs. 3 StGB eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten vor.

Warum ist diese Schwelle von 90 Tagessätzen in der Praxis von besonderer Relevanz? Nach § 32 Abs. 2 Nr. 5 lit. a) BZRG kann man sich als „nicht vorbestraft“ bezeichnen, solange man nicht zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen verurteilt wird und das Bundeszentralregister nach § 30 Abs. 1 S. 1 BZRG bislang keine Eintragung aufweist. Ein wichtiger Anreiz, um etwa gegen einen Strafbefehl oberhalb dieser Schwelle Einspruch einzulegen oder aber eine Revision hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs zu führen. Gerade für manche Berufsgruppen ist dies besonders wichtig, oder aber für Vorstellungsgespräche, in denen – soweit kein „Recht zur Lüge“ besteht – Bewerber Auskunft über berufsbezogene Straftaten geben müssen, die für den konkret zu besetzenden Arbeitsplatz von zentraler Bedeutung sind (dazu Richardi/Thüsing, BetrVG, 17. Aufl. 2022, § 94 Rn. 25 f.). Nichts anderes gilt für Polizeianwärter: Gerade hier sind Vorstrafen besonders kritisch, weshalb die Geldstrafe von 90 Tagessätzen – so bitter sie auch sein mag – noch recht glimpflich ist.

Aus arbeitsrechtlicher Perspektive erinnert der Sachverhalt an den Fall „Emmely“: Eine Kassiererin löste zwei Pfandbons eines Kunden im Wert von 1,30 € selbst ein. Die daraufhin ausgesprochene außerordentliche (fristlose) Beendigungskündigung des Arbeitgebers sorgte bundesweit für Aufsehen. Vor den Arbeitsgerichten hielt sie indes nicht: Zwar könne eine Straftat im Arbeitsverhältnis eine Beendigungskündigung durchaus auf erster Stufe des § 626 Abs. 1 BGB „an sich“ rechtfertigen, im Rahmen der Interessenabwägung auf zweiter Stufe sei aber bei einem über Jahrzehnte anstandslos bestehenden Beschäftigungsverhältnis eine sofortige Kündigung unverhältnismäßig, so das BAG (Urt. v. 10.06.2010 – 2 AZR 541/09). Maßstab sei – wie stets – die Frage, ob eine Vertrauensstörung eingetreten sei, die so erheblich ist, dass es dem Arbeitgeber nicht mehr zumutbar ist, den Ablaufs der ordentlichen Kündigungsfrist abzuwarten.

Ob der hiesige Fall des Polizeianwärters gleich zu behandeln ist, darf mit guten Gründen bezweifelt werden: Rein arbeitsrechtlich liegt zwar auf erster Stufe ebenfalls eine leichtere Straftat vor, und auch geht es letztlich um eine Sache im Wert von wenigen Cent, doch auf zweiter Stufe fällt ins Gewicht, dass es angesichts des Diebstahls mit Waffen nicht mehr um eine reine Bagatellstraftat geht, es sich zudem um einen Berufswaffenträger handelt, der Recht und Ordnung in besonderem Maße verpflichtet ist und diese Werte auch beruflich repräsentiert respektive durchsetzt und die Straftat überdies von einem Polizeianwärter begangen wurde, dessen Dienstverhältnis noch nicht allzu lange besteht. Ein Unterschied liegt allein darin, dass anders als im Fall „Emmely“ die Straftat nicht unmittelbar gegen den Arbeitgeber gerichtet ist.

Diese Überlegungen müssen im hiesigen Fall aber nicht vertieft werden. Denn statusrechtlich ist ein Polizeianwärter regelmäßig nach § 4 Abs. 4 BeamtStG bzw. § 9 LBG NRW iVm LVOPol NRW Beamter auf Widerruf. Als solcher genießt er – anders als ein Beamter auf Lebenszeit – dienstrechtlich nicht den gleichen Schutz. Nach § 23 Abs. 4 BeamtStG (früher § 35 LBG NRW a.F.; auf Bundesebene § 37 BBG)  kann ein Beamter auf Widerruf „jederzeit“ entlassen werden, selbst die Beendigung der Vorbereitungszeit muss bei einem hier vorliegenden Dienstvergehen nicht abgewartet werden. Hierfür bedarf es allein eines willkürfreien sachlichen Grundes. Das OVG Münster sieht insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerwG die Einschätzung als entscheidend an, „inwieweit der Beamte der von ihm zu fordernden Loyalität, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Dienstauffassung gerecht werden wird. Dies erfordert eine wertende Würdigung aller Aspekte des Verhaltens des Beamten, die einen Rückschluss auf die für die charakterliche Eignung relevanten persönlichen Merkmale zulassen. Die Einschätzung der charakterlichen Eignung ist dem Dienstherrn vorbehalten.“ (OVG Münster, Beschl. v. 19.10.2020 – 6 B 1062/20; s. ferner BVerwG, Beschl. v. 20.07.2016 – 2 B 17.16)

Diese Voraussetzungen dürften hier erfüllt sein. Ein Diebstahl im Dienst lässt durchaus auf die charakterliche Eignung schließen, auch wenn sich die Tat auf ein Einwegfeuerzeug bezieht. Zwar kann sich der Polizeianwärter weiterhin als „nicht vorbestraft“ bezeichnen. Da die Straftat aber im Dienst begangen worden ist, kann der Dienstherr das Verhalten in seine Entscheidung mit einbeziehen, ohne dass insoweit ein Verwertungsverbot (etwa aus § 51 BZRG) bestünde, weshalb es auf die Ausnahmevorschrift des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG gar nicht mehr ankommt. Ob der Dienstherr im vorliegenden Fall von dieser Möglichkeit Gebrauch machen oder eher noch ein Auge zudrücken sollte, ist freilich eine davon zu trennende Frage. Auch unter Beachtung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) ergeben sich aufgrund der besonderen Anforderungen an Polizisten im Hinblick auf Recht und Ordnung, deren Wahrung im Dienst zu deren Kernpflichten gehört, durchaus Spielräume, die für eine Entlassung ins Feld geführt werden können.

Einmal mehr gilt: Straftaten im Dienst sind immer besonders riskant – selbst, wenn es sich um vermeintliche Bagatelldelikte handelt, und erst Recht, wenn der Täter Berufswaffenträger ist und sogar bei der Polizei als Anwärter arbeitet.

31.05.2022/0 Kommentare/von Dr. Sebastian Rombey
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Sebastian Rombey https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Sebastian Rombey2022-05-31 09:55:002022-08-03 08:33:09Diebstahl bei Durchsuchung: Polizist klaut Billigfeuerzeug – und wird dabei gefilmt
Gastautor

Einführungsbeitrag zum neuen Polizeigesetz in Brandenburg

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Daniel Dräger veröffentlichen zu können. Der Autor studiert an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und ist in Berlin in einer großen Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft tätig.
 

Terrorismusbekämpfung zwischen Pritzwalk und der Niederlausitz:

Ein Einführungsbeitrag zum neuen Polizeigesetz in Brandenburg

 

I. Hintergrund

Knapp zweieinhalb Jahre nach dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt vom 19. Dezember 2016 durch Anis Amri zieht Brandenburg als weiteres Bundesland[1] nach im Reigen um die größte Verschärfung der Polizeigesetze der letzten Jahrzehnte. Die teils noch nicht mal abgeschlossenen Anschlagsuntersuchungen durch Kontrollgremien[2], Sonderermittler[3]und Untersuchungsausschüsse[4] in NRW, Berlin sowie auf Bundesebene hatten ergeben, dass Lücken in der Sicherheitsarchitektur den Anschlag erst ermöglichten. Die Politik fand recht schnell die ultimative Lösung der Probleme: neue und tiefer eingreifende Befugnisse für Polizei und Nachrichtendienste. Den ersten Schritt machte – auch noch unter den zusätzlichen Eindrücken der Anschläge in Würzburg[5] und Ansbach[6]– Bayern 2017 mit einer Reform seines PAG, dessen Medienecho[7] weit über die Grenzen des Freistaats hinaus vernehmbar war.
Mit Gesetz vom 01.04.2019 (GVBI. I 2019, Nr. 3 S. 1) reformiert nun auch Brandenburg sein Polizeigesetz[8], um der laut Gesetzentwurf „angespannten Terror- und Gefährdungslage“[9] zu begegnen. Es ist gegenüber seinen süddeutschen Pendants in einigen Teilen abgemildert, erweitert aber die Befugnisse der Polizei- und Ordnungsbehörden gegenüber Bürgern trotzdem deutlich spürbar. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet dabei die wichtigsten, examensrelevanten Änderungen.
 
II. Was ist neu? Das Wichtigste in Kürze zuerst

  • neuer Abschnitt 1a (§§ 28a – 28e[10]) zur Abwehr von Gefahren des Terrorismus,
    Vorverlagerung von

    • Befragungsrecht & Auskunftspflicht
    • Identitätsfeststellung & erkennungsdienstlichen Maßnahmen
    • Ingewahrsamnahme bis zu 4 Wochen
    • erstmals überhaupt: die Aufenthaltsvorgabe
  • Ausweitung der Schleierfahndung
  • Meldeauflagen als Standardmaßnahme
  • Einsatz von Bodycams
  • neue formelle Rechtmäßigkeit für Observationen
  • Erweiterung der Öffentlichkeitsfahndung
  • erstmals Einsatz von Sprengmitteln

 
III. Was hat es nicht ins Gesetz geschafft?

  • kein Staatstrojaner/Online-Durchsuchungen, aber auf Bundesebene (§ 49 BKAG)
  • keine elektronische Fußfessel

 
IV. Die Reform im Detail
1. Abwehr der Gefahren des Terrorismus, §§ 28a ff.
Kernstück der Gesetzesreform sind die Ausweitung und Vorverlagerung der polizeirechtlichen Eingriffsbefugnis im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung. Der neue Abschnitt 1a (§§ 28a bis 28e) setzt niedrigschwellige, speziellere und damit vorgehende Eingriffsbefugnisse zu den Standardmaßnahmen der § 11 ff.
 
a) Geltungsbereich, § 28a Abs. 1
In § 28a Abs. 1 wird zunächst ein eigener Geltungsbereich für die nachfolgenden Befugnisse festgelegt. Darin wird die klassische Abwehr von (konkreten) Gefahren des Terrorismus und die Verhütung von Straftaten genannt. Zentraler Bezugspunkt ist dabei § 129a StGB der in seinen Abs. 1 und Abs. 2 StGB jenen Katalog terroristischer Straftaten ausrollt, auf den § 28a Abs.1 verweist; v.a. §§ 211 f. StGB, §§ 239a f. StGB oder §§ 306 ff. StGB. Die Taten müssen zudem dazu bestimmt sein, (Nr. 1) die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern oder (Nr. 2) eine Behörde/eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder (Nr. 3) die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates, Landes oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen. Zusätzlich muss die Art der Begehung oder die Tatauswirkungen ein Staat, Land oder eine internationale Organisation erheblich schädigen können. Erstaunlich ist hierbei, dass der brandenburgische Gesetzgeber für die Regelung des Anwendungsbereichs dynamisch auf eine Norm des StGB und damit des Bundesgesetzgebers verweist. Letzterer hätte es folglich in der Hand durch Gesetzänderung damit auch gleichzeitig das Landesrecht zu ändern, was im Lichte von föderal-abgegrenzter Gesetzgebungszuständigkeit, Gewaltenteilung, Wesentlichkeitsgrundsatz und Parlamentsvorbehalt kritisch zu sehen ist.[11]
 
b) Ausweitung der Eingriffsbefugnisse der §§ 11 ff., § 28b
In § 28b finden die Standardmaßnahmen der §§ 11 ff. eine Vorverlagerung bzw. Ausweitung. Die Rechtsvoraussetzungen der ersten drei Maßnahmenbündel sind gestuft. Absatz 3 Satz 2 setzt dann einheitlich die Voraussetzungen aller nachfolgenden Datenerhebungsmaßnahmen.
 

 
c) Aufenthaltsvorgabe und Kontaktverbot, § 28c
Die Aufenthaltsvorgabe enthält sowohl Maßnahmen des (allbekannten) Aufenthaltsverbots als auch des Aufenthaltsgebots, eine in Land wie Bund völlig neue Polizeimaßnahme. Zur Gefahrenabwehr oder Verhütung von § 28a-Straftaten kann einer Person untersagt werden, sich (ohne polizeiliche Erlaubnis) aus einem bestimmten Bereich (z.B. Wohn- oder Aufenthaltsort) zu entfernen. Voraussetzung hierfür ist, dass die Person prognostisch in Zukunft eine § 28a-Straftat begehen wird. Die Prognose wird bejaht, wenn (a) bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen oder (b) das individuelle Verhalten der verdächtigen Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass die Person in Zukunft auf eine konkretisierte Art eine § 28a-Straftat begehen wird. Die nicht unerhebliche Eingriffsintensität des Aufenthaltsgebots wird teilweise[12]als unverhältnismäßig betrachtet.
Unter den gleichen Voraussetzungen kann die Polizei auch einer Person den Kontakt mit bestimmten Personen(-gruppe) untersagen (Kontaktverbot). Die Maßnahme steht unter Richtervorbehalt (Abs. 3) und ist auf den erforderlichen Umfang beschränkt (Abs. 4); max. 3 Monate möglich (+ Verlängerung). Zur besonderen Verschärfung trägt auch bei, dass die Zuwiderhandlung einer Anordnung des § 28c nach § 28e mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe pönalisiert wird.
 
d) Ingewahrsamnahme, § 28d
Wenn es unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung/Fortsetzung einer § 28a-Straftat zu verhindern, kann die Polizei eine Person in Gewahrsam (vgl. § 17) nehmen. Eine Zuwiderhandlung gegen die Aufenthaltsvorgabe oder das Kontaktverbot, durch die der Anordnungszweck gefährdet wird, kann hierfür bereits ausreichen.
 
2. Ausweitung der Schleierfahndung, § 12 Abs. 1 Nr. 6
Bisher galt, dass die Schleierfahndung nur in dem 30 km tiefen Korridor diesseits der deutsch-polnischen Bundesgrenze möglich war. Die Reform erweitert jetzt die Einsatzgebiete der Schleierfahndung um sämtliche Bundes- und Europastraßen sowie öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs (womit erstaunlicherweise laut Gesetzentwurf[13] Park-/Rastplätze und Autohöfe gemeint sind). Diese erhebliche Ausweitung einer Befugnis, die sich ausdrücklich des Wortlauts der vorbeugenden Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität zum Zweck gesetzt hat, wurde unter anderem mit der zunehmenden Mobilität der Bevölkerung begründet. Dabei ist die zeitliche und örtliche Ausweitung europa- wie verfassungsrechtlich kritisch zu sehen. Dies schon deshalb, weil sie anlass- und verdachtslos auch Nichtstörer betrifft.
 
3. Meldeauflagen, § 15a
Bisher wurden Meldeauflagen, vor allem bei bekannten Hooligans mit Wiederholungsgefahr, stets auf die Generalklausel des § 10 Abs. 1 gestützt, was zumindest in Teilen der Literatur[14] durchaus kritisch gesehen wurde. Insofern ist die Einführung als Standardmaßnahmein das BbgPolG zunächst unkritisch zu sehen. Bedenklich ist jedoch die Absenkung der Voraussetzungsschwelle. Nunmehr ist die Meldeauflage nach Abs. 1 bereits zur Verhütung von Straftaten (ohne Anfangsverdacht oder Gefahr) zulässig. Kritisch zu sehen ist auch die zeitliche Grenze von einem Monat (sowie Verlängerung um je einen Monat, Abs. 2 S. 1 und 2).
 
4. Sicherstellung, § 25 Abs. 2
Die Pfändung von Forderungen und sonstigen Vermögensrechtenkann nun unter den Voraussetzungen des Abs. 1 (der dem § 25 a.F. entspricht),zur Sicherstellung angeordnet werden. Damit soll Buchgeld genauso sichergestellt werden können, wie Bargeld. Voraussetzung ist also z.B. die Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr im Moment der Sicherstellung und für jeden nachfolgenden Moment der Sicherstellung (vgl. § 28 Abs. 1 S. 1). Die gegenwärtige Gefahr liegt nach h.L. und laut Gesetzentwurf[15] vor, wenn ein zu erwartender Schadenseintritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in allernächster Zeit bejaht werden kann. Ob die Sicherstellung von Buchgeld wirklich ein geeignetesMittel ist, darf hinterfragt werden.
 
5. Einschränkung der Datenerhebung, § 29 Abs. 6
In § 29 Abs. 6 S. 1 wird die Erhebung von personenbezogener Daten für den Kernbereich privater Lebensgestaltung beschränkt. Damit wird die BVerfG-Rechtsprechung in Gesetzesform gegossen. Ausnahmen gelten für Betriebs- und Geschäftsräume sowie für Äußerungen und Handlungen mit unmittelbarem Bezug zu einer dringenden Gefahr.
 
6. Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen usw., § 31 Abs. 2
Neben der rein redaktionellen Änderung des S. 1 wurden die Speicherfristen in S. 3 deutlich ausgeweitet. Das bei der Beobachtung und Aufzeichnung öffentlicher Straßen und Plätze gespeicherte Material muss in Zukunft statt nach 48 Stunden erst nach zwei Wochen gelöscht werden. Die längere Datenspeicherung soll laut Gesetzesentwurf der Verfolgungsvorsorge dienen, was einige Stimmen[16] als repressiv-polizeiliche Maßnahme eher der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuordnen würden.
 
7. Erweiterte Datenerhebung durch Bodycams, § 31a
Schon bisher galt, dass die Polizei (zum Zwecke der Eigensicherung) bei Personen- oder Fahrzeugkontrollen Bild- und Tonaufnahmen und –aufzeichnungen (u.U. auch personenbezogene Daten von Dritten) durch den Einsatz technischer Mittel in Polizeifahrzeugen herstellen konnte. Nach dem neu gefassten Abs. 2 können nun auch Bild-/Ton- aufnahmen/-aufzeichnungen durch den Einsatz körpernah getragener technischer Mittel (Bodycams) herstellen. Voraussetzung ist, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dies zum Schutz von Polizeivollzugsbeamten/-innen oder Dritten gegen eine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit erforderlich ist. Eingeschränkt wird die Bodycam-Befugnis für befriedetes Besitztum das nicht Wohnzwecken dient, wie Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräumen. Hier sind Aufnahmen nur zulässig, wenn die Gefahr dringend ist. Gänzlich unzulässig sind Aufnahmen (1) in Wohn- und Nebenräumen sowie (2) in Bereichen zur Ausübung der Tätigkeit von Berufsgeheimnisträgern i.S.d. §§ 53, 53a StPO.
Die Maßnahme selbst stellt einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht dar und wird vor allem wegen des anlasslosen pre-recording (ein, sich nach je 60 Sekunden stetig automatisch überschreibender Bereitschaftsbetrieb im Zwischenspeicher) in Abs. 2 S. 4 bis 7 skeptisch gesehen. Kritisiert wird die Neuerung auch mangels vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Wirksamkeit der Bodycams (Geeignetheit).[17] Die Löschungsfrist wurden zudem von einem Tag auf zwei Wochen merklich erweitert (Abs. 1 S. 4).
 
8. Verlängerte kurzfristige Observation & Verfahren bei längerfristiger Observation, § 32
Bisher galt für die voraussetzungsärmere kurzfristige Observation(§ 32 Abs. 4 S. 1) eine Höchstdauer von durchgehend 24 Stunden oder 2 (Kalender-)Tagen. Die Zeitgrenzen wurden erhöht auf 48 Stunden bzw. 3 Tage. In diesem Punkt wird das Brandenburger Polizeigesetz zum ersten Mal schärfer als sein süddeutschen Gegenstücke. Darüber hinaus wurde der längerfristigen Observation (§ 32 Abs. 1 S. 1) ein Richtervorbehalt eingefügt (bei Gefahr im Verzug durch den/die Behördenleiter/-in mit unverzüglicher richterlicher Bestätigung).
 
9. Formelle Rechtmäßigkeit bei der Datenerhebung nach §§ 33, 34 und 35
Relativ identisch werden die Verfahrensvorschriften des § 33 Abs. 2 (verdecktes Abhören, Fotografieren auf Filmen) des § 34 Abs. 2 (Einsatz von V-Leuten) sowie des § 35 Abs. 5 (Einsatz verdeckter Ermittler) neu geregelt. Alle drei Maßnahmen (der § 33-Einsatz nur, wenn durchgehend über 48h/3d) werden unter Richtervorbehalt gestellt bzw. dürfen nur noch bei Gefahr im Verzug durch den Behördenleiter (mit unverzüglich nachzuholender richterlichen Bestätigung) angeordnet werden.
 
10. Erweiterung der Öffentlichkeitsfahndung, § 44 Abs. 2
Personenbezogene Daten und Abbildungen einer Person können zur Ermittlung der Identität, des Aufenthaltsorts oder zur Warnung öffentlich bekannt gegeben werden. Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person muss dafür dringend sein und die Maßnahme unerlässlich (§ 44 Abs. 2 Nr. 1). Alternativ ist die Öffentlichkeitsfahndung zur Straftatverhütung möglich, wenn es sich um eine erhebliche Straftat (i.S.d. § 10 Abs. 3 S. 1) handelt und die Verhütung auf keine andere Weise möglich ist (§ 44 Abs. 2 Nr. 2). 
 
11. Weitere Änderungen in Kürze

  • die Grundrechtseinschränkungen in § 8 werden in Nr. 3 um die Versammlungsfreiheit ergänzt
  • die Definition der erheblichen Straftaten (jetzt nach § 100a Abs. 2 StPO) und der besonders schweren Straftaten (jetzt nach § 100c Abs. 2 StPO) des § 10 Abs. 3 S. 1 und 2 wird geringfügig verändert
  • das Verfahren zur Befragung nach § 11 Abs. 3 S. 3 wurde geringfügig geändert: Die Anordnung erfolgt nun durch den/die Behördenleiter/-in bzw. Vertretung
  • die formelle Rechtmäßigkeit wurde geringfügig geändert: für die Wohnungsüberwachung in § 33a Abs. 4 S. 7 und für die Überwachung der Telekommunikation in § 33b Abs. 5 S. 7
  • Dokumentationspflicht bei der automatischen Kfz-Kennzeichenfahndung, § 36a Abs. 1 S. 2, veränderte Berichtspflicht nach Abs. 3
  • erstmals ist der Einsatz von Explosivmitteln nach § 69 gegen Personen als unmittelbarer Zwang zur Terrorabwehr möglich, wenn die Angreifer Schuss- bzw. Kriegswaffen i.S.d. § 1 Abs. 1 KrWaffKontrG gebrauchen, andere Mittel erfolglos sind und die Gefährdung Unbeteiligter ausgeschlossen werden kann.

 
Weitere Links zum Nachlesen und Nachhören

  • https://polizeigesetz.brandenburg.de/polg/de/was-hat-sich-geaendert%3f/
  • https://www.deutschlandfunk.de/neue-polizeigesetze-in-den-bundeslaendern-mehr-befugnisse.724.de.html?dram:article_id=444777
  • https://www.landtag.brandenburg.de/media_fast/5701/Stellungnahme%20Prof.%20Arzt%20Polizeigesetz%20%28003%29.pdf
  • https://www.amnesty.de/informieren/positionspapiere/deutschland-stellungnahme-zur-einfuehrung-einer-bodycam-durch-einen#_ftn6
    (zum Polizeigesetz in Sachsen)

[1]BY, B-W, HE, R-P, S-A und NRW haben bereits reformiert; in S wird es zum 1.1.2020, in NDS am 1.6.2019 in Kraft treten; in B, S-H und M-V diskutieren zurzeit; HH und SL planen noch; in BR wurde ein Gesetzentwurf abgelehnt; nur TH will nichts verändern.
[2]http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/125/1812585.pdf
[3]https://www.berlin.de/sen/inneres/presse/weitere-informationen/abschlussbericht-bruno-jost.pdf
[4]https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/30-000-Menschen-protestieren-gegen-das-Polizeiaufgabengesetz-id51076681.html; https://www.nopagby.de/
[5]https://www.zeit.de/2016/31/anschlag-in-wuerzburg-islamischer-staat
[6]https://www.spiegel.de/panorama/bayern-explosion-in-ansbacher-innenstadt-ein-toter-a-1104496.html
[7]Kommentatoren sprechen sogar vom schärfsten Polizeigesetz seit 1945 (https://www.handelsblatt.com/meinung/kolumnen/expertenrat/nocun/expertenrat-katharina-nocun-bayern-koennte-das-schaerfste-polizeigesetz-seit-1945-bekommen/21254002.html).
[8]https://www.landesrecht.brandenburg.de/dislservice/public/gvbldetail.jsp?id=8071; https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2019/03/polizeigesetz-brandenburg-landtag-abstimmung-linke-spd-schroeter.html
[9]Bbg-Drucks. 6/9821, Gesetzesentwurf d. LandesReg., S. 1
[10]Alle nachfolgenden §§ ohne Gesetzesangabe sind solche des BbgPolG.
[11]Weitere Kritikpunkte: Arzt in seiner Stellungnahme zur Reform des BbgPolG vom 7.1.2019, S. 24 ff.
[12]Klageschrift von Prof. Dr. Dr. Ino Augsberg an BayVerfGH zum BayPAG vom 26.03.2018, S. 59 ff.
[13]Bbg-Drucks. 6/9821, S. 7
[14]z.B. Behnsen, NordÖR 2013, 1/2 ff.; Trute, Verwaltung 2013, 537/545 ff.
[15]Bbg-Drucks. 6/9821, S. 11
[16]Arzt a.a.O., S. 13 f.
[17]Dazu auch Amnesty International zum Sächs. PolG unter B. II.: https://www.amnesty.de/informieren/positionspapiere/deutschland-stellungnahme-zur-einfuehrung-einer-bodycam-durch-einen#_ftn6
 
 

29.05.2019/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2019-05-29 09:35:272019-05-29 09:35:27Einführungsbeitrag zum neuen Polizeigesetz in Brandenburg
Gastautor

Jur:next Urteil: „Sicher ist sicher – wieder ein Abschleppfall!“

Examensvorbereitung, Lerntipps, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsprechung, Verwaltungsrecht

In Kooperation mit juraexamen.info stellt jur:next (Dein Partner für juristischen Einzelunterricht, Nachhilfe & Coaching; www.jurnext.de) jeweils ein Urteil des Monats aus den drei Rechtsgebieten vor. Diskutiere im Kommentarfeld direkt mit anderen die Entscheidung.

Einführung in die Thematik

Probleme um das „Abschleppen“ finden sich nicht nur im Öffentlichen, sondern auch im Zivilrecht. Im Zivilrecht drehen sich die Fälle um das Auffinden der richtigen Anspruchsgrundlagen (der BGH wählt § 823 II iVm § 868 BGB) und die einzelnen Schadensposten (was bekommt der Kläger ersetzt?). Auch im Öffentlichen Recht gehören die Fälle längst zum Standardrepertoire eines angehenden Juristen. Entscheidend für eine gute Klausur ist der richtige Einstieg in den Fall. In welcher Station steckt das Verfahren? Danach geht es in das Landesrecht, dort insbesondere in die Vorschriften zur Vollstreckung. Die Entscheidung des Gerichts greift das Abschleppen aus einer anderen Richtung auf. Hier wurde zum Schutz des Eigentums abgeschleppt.

Entscheidung des Gerichts

Was war passiert, im Fall des SächsOVG (NJW 2016, 181 f.)?
Die Polizeidirektion hatte den PKW des Klägers von einem Abschleppunternehmen zum Zwecke der Eigentumssicherung abschleppen lassen, da auf der hinteren rechten Seite des Fahrzeugs das Fenster nicht verschlossen war. Zuvor hatten die Polizeibeamten erfolglos versucht, die Telefonnummer des Klägers zu ermitteln, um ihn zu benachrichtigen. Das Verwaltungsgericht hat die gegen den Kostenbescheid gerichtete Klage abgewiesen. Ebenso das OVG.
Im Grunde geht das Gericht davon aus, dass es sich um eine Sicherstellung handelt:

„Rechtsgrundlage für eine Sicherstellung nach dem Polizeigesetz ist § 26 Abs. 1 SächsPolG. Danach kann die Polizei eine Sache sicherstellen, wenn dies erforderlich ist, um den Eigentümer oder den rechtmäßigen Inhaber der tatsächlichen Gewalt vor Verlust oder Beschädigung der Sache zu schützen. Entstehen der Polizei durch die Sicherstellung, Verwahrung oder Notveräußerung Kosten, so ist der Eigentümer oder der rechtmäßige Inhaber der tatsächlichen Gewalt nach § 29 Abs. 1 Satz 3 SächsPolG zum Ersatz verpflichtet.“

Soweit handelt es sich um keine neue Erkenntnis. Geübte Bearbeiter von „Abschleppkonstellationen“ erkennen schnell, dass es sich um einen Fall der Sicherstellung handelt. Dann wird unter die entsprechende Landesnorm subsumiert. Interessant sind aber die Parallelen, welche das Gericht zur Geschäftsführung ohne Auftrag zieht:

„Bei der Sicherstellung zum Schutz des Eigentums wird die Polizei für den Eigentümer oder den rechtmäßigen Inhaber der tatsächlichen Gewalt tätig. Ihrem Wesen nach ist sie vergleichbar mit der Geschäftsführung ohne Auftrag i. S. v. § 677 ff. BGB. Die Sicherstellung zur Eigentumssicherung ist folglich zulässig, wenn sie dem objektivierten mutmaßlichen Willen des Berechtigten entspricht. Ob sie vom Betroffenen tatsächlich gebilligt wird, ist hingegen unerheblich. Ob diese Voraussetzungen für eine Sicherstellung vorliegen, ist eine Frage des konkreten Einzelfalls.“

Die Rechtsprechung behandelt die abschleppenden Staatsdiener großzügig:

„Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die Sicherstellung im Eigentümerinteresse schon dann erforderlich, wenn der Polizei andere Maßnahmen, die den Zweck der Sicherstellung ebenso erreichen würden, nicht ohne weiteres möglich sind. Demzufolge ist die Polizei regelmäßig nicht verpflichtet, zunächst den Halter oder für die Beseitigung des Fahrzeugs sonst Verantwortlichen zu ermitteln. Solche Ermittlungen führen meist zu nicht absehbaren zeitlichen Verzögerungen, die mit dem Interesse an einer effektiven Gefahrenabwehr durch die Polizei und zudem nur begrenzt zur Verfügung stehenden Polizeikräften nicht vereinbar sind.“

Doch liegt eine solche Gefahr bei einem nicht abgeschlossenen Fenster tatsächlich vor? Stellt Euch die Frage mal selbst: Ihr vergesst das Fenster Eures Autos zu schließen. Die Polizei kommt und lässt abschleppen. Im Anschluss erhaltet ihr einen Leistungsbescheid in Höhe von 200 Euro. Was meint Ihr? Ist das gerecht?
Das Gericht rekurriert auf die Umstände des Einzelfalls:

„Ob die im Interesse des Eigentümers vorgenommene Sicherungsmaßnahme verhältnismäßig ist, hängt davon ab, wie hoch im Einzelfall die Wahrscheinlichkeit eines Diebstahls des Fahrzeugs, eines Diebstahls von Gegenständen aus dem Fahrzeug oder einer Beschädigung des Fahrzeugs ist, wenn die Sicherstellung unterbleibt. Hierbei handelt es sich um eine Prognoseentscheidung. Sie ist auf der Grundlage der der Polizei zum Zeitpunkt ihres Handelns zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten zu beurteilen, wobei unter anderem die voraussichtliche Dauer der die Möglichkeit eines Schadenseintritts erhöhenden Umstände, der Abstellort sowie der Wert eines Fahrzeuges zu berücksichtigen sind.“

Dazu fehlten hier die Angaben im Sachverhalt. Unter dem Strich zeigt sich aber auch hier eine Tendenz pro staatliche Fürsorge.
 
Auswirkungen auf das Examen
In einer Examensklausur wird gerne abgeschleppt. Die Verzahnungen zwischen Polizei- und Ordnungsrecht sowie Verwaltungsvollstreckungsrecht schaffen ansehnlichen Prüfungsstoff. Weil das allgemein bekannt ist, braucht jemand, der weiter hinaus will, Spezialkenntnisse. Diese werden durch das Studium der Rechtsprechung vermittelt. Die Entscheidung des OVGs fordert zweierlei: Aufzeigen des Spielraums für den Abschlepper samt Schlüsselwörter (Parallele GoA etc.) sowie eine saubere Subsumtion!
 
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28.06.2016/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2016-06-28 11:00:432016-06-28 11:00:43Jur:next Urteil: „Sicher ist sicher – wieder ein Abschleppfall!“
Dr. Maximilian Schmidt

Mündliche Prüfung im Öffentlichen Recht – Wieder mal abgeschleppt

Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Es geht weiter in unserer Serie der simulierten mündlichen Prüfungen. Heute: wieder mal abgeschleppt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
willkommen zur Prüfung im Öffentlichen Recht. Folgender Fall hat sich kürzlich in Neustadt an der Weinstraße ereignet, ich zitiere aus der Pressemitteilung des VG Neustadt:

Der Kläger stellte sein Fahrzeug am Mittwoch, den 27. Februar 2013, um 7.00 Uhr auf dem Pfalzplatz in Haßloch ab. Er wollte sich mit Freunden treffen, um gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt war das Parken auf dem Pfalzplatz erlaubt. Mehrere Schilder an den umliegenden Straßen und im Zufahrtsbereich des Pfalzplatzes wiesen hin auf „Pfalzplatz unbegrenzt P“. Auf dem Pfalzplatz selbst stehen keine Parkschilder. Ebenfalls am Mittwoch, den 27. Februar 2013, zu einer späteren Zeit, stellte die Beklagte an der Schillerstraße, der einzigen Zufahrt zum Pfalzplatz, folgende Verkehrsschilder auf: Verkehrszeichen 283 (absolutes Halteverbot) und 250 (Verbotder Einfahrt) sowie Zusatzzeichen „Sonntag, 03.03.2013 ab 7.00 Uhr“. Grundlage für die Aufstellung der Verkehrsschilder war die verkehrspolizeiliche Anordnung der Beklagten vom 7. Februar 2013 zum Sommertagsumzug, der am 3.März 2013 stattfinden sollte. Nach der Anordnung sollte die gesamte Beschilderung bis spätestens am Donnerstag, den 28. Februar 2013, aufgestellt werden. Eventuelle gegensätzliche Schilder sollten bis spätestens sonntags, 11.00 Uhr, abgehängt bzw. abgeklebt werden. Am Sonntag um 10.00Uhr wurden auch die Schilder„Pfalzplatz unbegrenzt P“ nach Angaben der Beklagten gemäß der Anordnung mit Müllsäcken abgedeckt. Am Sonntag, den 3. März 2013, um 12.15 Uhr wurde das Auto des Klägers abgeschleppt. Der Kläger konnte nicht informiert werden, da seine Nummer nicht im Telefonbuch eingetragen war.

Mit Schreiben vom 7.März 2013 hörte die Beklagte den Kläger zu dem Vorgang an. Mit Bescheid vom 3. April 2013 zog die Beklagte den Kläger zu den Kosten für die Abschleppmaßnahme in Höhe von insgesamt 207,00 € heran. Die Kosten setzten sich zusammen aus 178,50 € Entgelt für das Abschleppunternehmen, 25,00 € Verwaltungsgebühren und eine Zustellungsgebühr von 3,50 €. Dagegen legte der Kläger am 23. April 2013 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 4. April 2014, dem Kläger zugegangen am 10. April 2014, wies der Kreisrechtsausschuss der Kreisverwaltung Bad Dürkheim den Widerspruch des Klägers zurück.

Der Kläger richtet sich nun an das VG Neustadt.  Ein relativer langer Sachverhalt, falls Sie Nachfragen hinsichtlich des Sachverhaltes haben, melden Sie sich bitte. Wir prüfen selbstverständlich nach nordrhein-westfälischem Recht. Zunächst: Welche Klageart kommt in Betracht?
In Betracht kommt eine Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Fall 1 VwGO. Diese hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.
Ja, wir möchten uns auf die Begründetheitsprüfung konzentrieren. Frau A, beginnen Sie doch bitte!
Die Anfechtungsklage des K ist nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO begründet, soweit der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Zunächst ist also die Rechtmäßigkeit des ergangenen Verwaltungsaktes, also des Kostenbescheides, zu prüfen. Ermächtigungsgrundlage hierfür ist §§ 55, 57 Abs. 1 Nr. 1, 59, 77 Abs. 1 VwVG NRW i.V.m. § 20 Abs. 2 Nr. 7 VO VwVG.
Schön, Sie sind nun unmittelbar auf die Ersatzvornahme nach §§ 55, 57 Abs. 1 Nr. 1 VwVG NRW gesprungen. Was könnte „das Abschleppen“ noch sein?
Das Abschleppen eines PKW kann grundsätzlich sowohl als Ersatvornahme als auch als Sicherstellung eingeordnet werden. Sinnvoll erscheint eine Abgrenzung nach der Zweckrichtung der handelnden Behörde. Dabei liegt eine Sicherstellung vor, wenn eine Gefahr für das Fahrzeug vorlag, eine Ersatzvornahme, wenn von dem Fahrzeug eine Gefahr ausging. Demnach ist hier die Ersatzvornahme einschlägig, da die Behörde nicht zum Schutz des Fahrzeuges, sondern zur Beseitigung der von ihm ausgehenden Gefahr handelte.
Kommen wir zu formellen Rechtmäßigkeit, Herr B.
Eine nach § 28 VwVfG erforderliche Anhörung hat stattgefunden, diese war insbesondere nicht nach § 28 Nr. 5 VwVfG  hinsichtlich des Kostenbescheides entbehrlich. Zugleich hat die nach § 77 VwVG NRW zuständige Behörde gehandel, wonach Kostengläubiger der Rechtsträger ist, dessen Behörde die Amtshandlung vornimmt.
Frau A, versuchen Sie sich doch bitte an der materiellen Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides.
Der Kostenbescheid ist rechtmäßig, wenn eine Amtshandlung nach diesem Gesetz vorliegt, vgl. § 77 VwVG NRW. Daher muss nun inzident die Rechtmäßigkeit der Ersatzvornahme geprüft werden, da nur dann eine „Amtshandlung nach diesem Gesetz“ gegeben ist. Die richtige Ermächtigungsgrundlage hängt davon ab, ob die Behörde das gestreckte Verfahren oder den Sofortvollzug verwendet hat, § 55 VwVG NRW. Hier besteht die Besonderheit, dass es einen Grund-VA in Form der Verkehrsschilder (Halteverbot) gibt, die Behörde diesen aber ohne die Voraussetzungen des Sofortvollzugs vollstreckt. Dies nennt man abgekürztes Verfahren, dessen Rechtmäßigkeit sich aus einem „argumentum a maiore ad minus“ ergibt: Wenn schon alle Voraussetzungen des gestreckten Verfahrens im Sofortvollzug außer Acht gelassen werden können, muss erst-recht das Auslassen einzelner Verfahrensabschnitte zulässig sein. Daher ist das sog. abgekürzte Verfahren rechtmäßig.
Sehr schön. Bevor wir fortfahren, erlauben Sie mir eine kurze Zwischenfrage: Welche weiteren Argumentationsmuster kennen Sie?
Besonders wichtig ist sicherlich das argumentum e contraria, also der Umkehrschluss. Beliebt ist zudem das argumentum ad absurdum sowie das argumentum ad horribilis. Vergleichbar dem schon angesprochenen argumentum a maiore ad minus ist das argumentum a fortiori. Ungeeignet und zu vermeiden ist hingegen ein argumentum ad personam – außer es gehen einem tatsächlich einmal die Argumente aus…
In Ordnung. Herr B, prüfen Sie doch bitte das von der Kollegin beschriebene abgekürzte Verfahren durch.
Zunächst sind die Voraussetzungen des gestreckten Verfahrens nach § 55 Abs. 1 VwVG NRW zu prüfen. Das Verkehrsschild ist eine HDU-Verfügung, so dass nun die Rechtmäßigkeit des Grund-VAs, also des Verkehrsschildes zu prüfen ist. Dies folgt aus der Tatsache, dass wir mangels Androhung und Festsetzung nun den Sofortvollzug eines tatsächlich ergangenen Grund-VAs prüfen. Aus der Formulierung „im Rahmen ihrer Befugnisse“ folgt also zwingend eine Rechtmäßigkeitsprüfung.
Ist die HDU-Verfügung denn überhaupt wirksam geworden, was § 55 VwVG NRW ja voraussetzt?
Die Voraussetzungen zur Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes sindin § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG geregelt. Hierfür ist die Bekanntgabe erforderlich. Eine ältere Ansicht geht davon aus, dass der Verkehrsteilnehmer das Verkehrsschild wahrnehmen muss, also letztlich (erst) eine Einzelbekanntgabe die Wirksamkeit auslöst. Die Gegenaufassung nimmt hingegen an, dass ein Verkehrsschild durch öffentliche Bekanntgabe wirksam ((§41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG i.V.m.) §§ 39 Abs. 1, 45 Abs. 4 StVO) wird.  Auf die tatsächliche Kenntnisnahme durch den einzelnen Verkehrsteilnehmer kommt es dann nicht mehr. Aus Gründen der Rechtsklarheit und der Vermeidung des Auseinanderfallens von Regelungen im Straßenverkehr ist von der Möglichkeit der öffentlichen Bekanntgabe auszugehen. Zudem könnten sonst Verkehrsschilder jederzeit angegriffen werden, man denke nur an den Kieler, der mit dem Auto nach Passau fährt. Im vorliegenden Fall wurde daher das Verkehrsschild mit Aufstellung bekanntgegeben und wirksam.
Wunderbar.Wie ordnen Sie demnach das Verkehrsschild dogmatisch ein?
Es handelt sich um eine Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 VwVfG.
Ist das Verkehrsschild als Allgemeinverfügung denn auch sofort vollziehbar?
Ja, nach § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO analog. Es ist der Anordnung durch einen Polizisten gleichzusetzen, die Möglichkeit der sofortigen Vollziehung kann nicht davon abhängen, ob die Regelung durch bspw. Handzeichen eines Polizisten oder durch ein Schild verkörpert wird.
Korrekt. Wir springen in der Prüfung etwas weiter und fragen uns, ob die Ersatzvornahme im abkürzten Verfahren wirklich notwendig war. Was meinen Sie, Frau A?
An dieser Stelle ist eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an Beseitigung der Gefahr einerseits und den Interessen des Betroffenen andererseits. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Parkplatz als „Dauerparkplatz“ ausgeschildert war und der Kläger seinen PKW gerade deswegen dort abstellte. Man könnte also an eine Art „Vertrauensschutz“ denken. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass im Straßenverkehr nicht davon ausgegangen werden kann, dass Verkehrsschilder „ewig“ unverändert bleiben. Daher müsste der Parkende innerhalb einer bestimmten zeitlichen Frist, bspw. alle sieben Tage, kontrollieren, ob er noch rechtmäßig dort parkte.  Doch in Ausnahmefällen kann auch ein sofortiges Abschleppen zulässig sein, es kommt auf den Einzelfall an. Hier versuchte die Behörde sogar den Kläger zu erreichen. Zudem behinderte das Fahrzeug die Durchführung des Sommerfestes, so dass ein besonderes öffentliches Interesse an der Abschleppmaßnahme vorlag.
Also war das Abschleppen demnach wohl verhältnismäßig. Was bedeutet das für unseren Kläger?
Zunächst nur, dass das Abschleppen selbst rechtmäßig war. Somit liegt eine „Amtshandlung nach diesem Gesetz“ nach § 77 VwVG NRW vor. Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung, so dass grundsätzlich mit Rechtmäßigkeit des Verwaltungszwanges auch eine Kostenpflicht des Betroffenen entsteht. Dies ergibt sich aus der Formulierung „werden erhoben“. Allerdings ist in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass eine Ausnahme vom Grundsatz der gebundenen Entscheidung aus rechtsstaatlichen Gründen zu machen ist, wenn es sich um eine offensichtlich unverhältnismäßige Maßnahme handelte. In diesen Fällen kann ausnahmsweise eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden.
Sehr schön. Zu welchem Ergebnis kommen Sie hier, Herr B?
Unverhältnismäßigkeit kann nur in absoluten Ausnahmefällen angenommen werden, bspw. wenn eine Behörde zwar rechtmäßig vollstreckt, aber die Änderung der Rechtslage nicht rechtzeitig angekündigt hatte. Im vorliegenden Fall liegt genau hier das Problem. Sinnvoll erscheint es davon auszugehen, dass der Parkende alle vier Tage kontrollieren muss, ob er noch rechtmäßig parkt. Insoweit hat die Behörde ihrer „Ankündigungsfrist“ Genüge getan. Der Kostenbescheid ist nicht unverhältnismäßig.
Ein vertretbares Ergebnis, genauso entschied das VG Neustadt a.d. Weinstraße (5 K 444/14.NW, Urteil hier abrufbar). Vielen Dank!

10.02.2015/3 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
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