Mit Urteil vom 17.4.2018 – VI ZR 237/17 hat der Bundesgerichtshof zu einem besonders examensrelevanten Problembereich des Deliktsrechts judiziert. Konkret behandelt die Entscheidung Fragen des Zurechnungszusammenhangs im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB. Der zu besprechende Fall lässt sich problemlos in Zivilrechtsklausuren einbauen und erfordert erweiterte Kenntnisse im Bereich der deliktsrechtlichen Haftung. Vor dem Hintergrund der erhöhten Prüfungsrelevanz ist ein Blick in das Urteil des Sechsten Senats dringend geboten:
I. Der Sachverhalt (gekürzt)
Den Ausgangspunkt für die vom BGH zu entscheidende Rechtsstreitigkeit bildete ein Amoklauf des Schülers S vom 18.2.2010 in einer Berufsschule in der Stadt L. Der an einer Persönlichkeitsstörung leidende S begab sich an diesem Tag während der Unterrichtszeit in die Räumlichkeiten des Schulgeländes, bewaffnet mit einer geladenen Schreckschusspistole und einem Messer. Ebenso führte S bengalische Feuerkörper mit sich. Dabei war es seine Absicht, seinen ehemaligen Lehrer B sowie den Schulleiter C zu töten. Ebenso will S durch Nutzung der Feuerwerkskörper einen Feueralarm auslösen, um in der Folge weitere Schüler und Lehrkräfte verletzen bzw. töten zu können. Als S zur Tat schreitet und das Schulgebäude betritt, trifft er auf Lehrer B, den er durch fünf Messerstiche tötet. Im Anschluss hieran löst S den Feueralarm aus und bedroht bzw. verletzt weitere Personen.
Nachdem die Polizei von dem Vorfall verständigt wird, begibt sich ein Einsatzkommando kurze Zeit später zur Schule. Neben drei weiteren Polizeikräften betritt auch der Polizeibeamte K das Gebäude der Bildungseinrichtung. Die Beamten suchen die Räumlichkeiten nach S durch und stellen ihn sodann auch. Unter Vorhalt ihrer Dienstwaffen fordern die Polizisten den S zur Aufgabe auf. Nachdem S seine Schreckschusspistole und eine Umhängetasche zu Boden wirft, wird er von den Beamten festgenommen.
Aufgrund der Ereignisse erleidet der Polizeibeamte K eine Anpassungsstörung als Reaktion auf eine schwere seelische Belastung. Hieraus resultieren eine medizinische Behandlungsbedürftigkeit sowie eine vorübergehende Dienstunfähigkeit von drei Wochen. K verlangt von S mit Blick auf seine psychische Anpassungsstörung Schadensersatz aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung. Zu Recht?
II. Maßgebliche Frage: Schadenszurechnung bei spezifischem Berufsrisiko
Bei der Prüfung des Anspruchs nach § 823 Abs. 1 BGB muss ein besonders Augenmerk auf den Umstand, dass K die psychischen Beeinträchtigungen in Ausübung seiner beruflichen Pflichten erlitten hat, gelegt werden. Grundsätzlich muss im Deliktsrecht zwischen der haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Kausalität unterschieden werden. Ersteres bezieht sich auf die Kausalität zwischen Handlung und Rechtsgutsverletzung, während haftungsausfüllende Kausalität diejenige zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden meint. Die haftungsausfüllende Kausalität ist in drei Schritten zu prüfen: Der Schaden muss äquivalent i.S. der conditio-sine-qua-non Formel sein (1). Auch muss er adäquat kausal sein – der Schädiger soll nicht für sämtliche, besonders nicht für völlig atypische, unwahrscheinliche und außerhalb der Lebenserfahrung liegende Schäden einstehen müssen (2). Zuletzt muss der Schaden auch objektiv zurechenbar sein (3). Die objektive Zurechenbarkeit hat eine wertende Prüfung des Schutzzwecks der Norm zum Gegenstand. ACHTUNG: Der BGH verwendet auch im Deliktsrecht nicht den Begriff der objektiven Zurechenbarkeit, vielmehr implementiert das Gericht Fragen nach dem Schutzzweck der Norm bereits in die Prüfung der adäquaten Kausalität. Beides dürfte in der Klausur gut vertretbar sein.
Ungeachtet der gutachterlichen Verortung muss sich dann die Frage gestellt werden, ob eine Zurechnung unterbleiben muss, weil sich ein Risiko realisiert hat, welches dem Geschädigten zuzuordnen ist. Dies ist insbesondere dann anerkannt, wenn sich in der Schädigung das allgemeine Lebensrisiko des Anspruchsstellers realisiert hat. Für Amtsträger wie etwa Polizeibeamte lässt sich deshalb in Erwägung ziehen, dass der Schaden nicht objektiv zurechenbar bzw. adäquat kausal war, da sich in der psychischen Gesundheitsverletzung das berufsspezifische Risiko, derartige Schäden bei Einsätzen zu erleiden, verwirklicht hat.
III. Instanzgerichtliche Rechtsprechung und Literatur zu berufsspezifischem Risiko psychischer Gesundheitsverletzungen
Die Instanzgerichte beurteilten die Frage der Zurechnung psychischer Gesundheitsverletzungen bei Polizeibeamten bislang unterschiedlich. Das OLG Koblenz etwa nimmt an, dass der Zurechnung keine Realisierung berufsspezifischer Risiken entgegenstehe. Psychische Verletzungen seien körperlich-physischen Schäden gleichzustellen – letztere seien auch nicht einer Zurechnungsunterbrechung ausgesetzt. Etwas anderes sei allenfalls bei völlig atypischen Folgen denkbar, wozu psychische Gesundheitsbeeinträchtigungen jedoch nicht gehörten (OLG Koblenz Urteil v. 8.3.2010 – 1 U 1137/06). Anders entschied allerdings das OLG Celle, dem zufolge Bundesgrenzschutzbeamte für psychische Erkrankungen, die im Zusammenhang mit einer Kollision von Zügen entstanden waren, keinen deliktsrechtlichen Haftungsanspruch gegen den Verursacher haben (OLG Celle Urteil v. 28.4.2005 – 9 U 242/04). Den Zurechnungszusammenhang verneinte auch das LG Duisberg für den Fall, dass Feuerwehrmänner im Rahmen eines Einsatzes bei einer Massenveranstaltung psychische Schädigungen erleiden. Hier sei die der Schutzzweck der in Frage stehenden Norm nicht darauf gerichtet, derartige Verletzungen, die im Rahmen eines Einsatzes entstehen, auszugleichen (LG Duisburg Urteil v. 28.9.2015 – 8 O 361/14). Auch im Schrifttum finden sich Stimmen, denen zufolge psychische Erkrankungen, die Polizei- und Rettungskräfte im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeiten bei Einsätzen erleiden, der Risikosphäre des Amtsträgers zuzurechnen seien (insbesondere Stöhr, NZV 2009, 161 (164); Luckey, VersR 2011, 940 (941)).
IV. Lösung des BGH
Der BGH bejahte im Ergebnis den Zurechnungszusammenhang und gestand dem K einen Schadensersatzanspruch gegen S aus § 823 Abs. 1 BGB zu. Mit Blick auf die Rechtsgutsverletzung stellt das Gericht zunächst fest, dass die psychische Gesundheitsbeeinträchtigung des K eine Gesundheitsverletzung i.S.d. Norm darstellt, wobei keine erhöhen Anforderungen – wie etwa bei Schockschäden infolge des Todes oder schwerer Verletzung Dritter – an die Verletzung zu stellen sind. Maßgeblich sei nach Auffassung des Senats, dass die Gesundheitsverletzung des K nicht mittelbar durch die Verletzung von Dritten eingetreten sei, sondern vielmehr selbst und unmittelbar auf den Amoklauf des S zurückzuführen sei.
Für diese Gesundheitsverletzung bzw. den Schaden sei das Verhalten des K auch äquivalent und adäquat kausal gewesen. Der Zurechnungszusammenhang bedürfe in Fällen psychischer Gesundheitsverletzungen einer gesonderten Überprüfung (so bereits BGH Urteil v. 20.5.2014 – VI ZR 381/13). Zu beantworten ist dabei, ob die in Frage stehende Rechtsgutsverletzung nach „Art und Entstehungsweise“ dem Schutzzweck der Norm zugeordnet werden kann. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn sich in der Verletzung bzw. dem Schaden eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko, also der Risikosphäre des Geschädigten zuzurechnen ist. Schaut man auf die bisherige Judikatur des BGH, mag man zunächst an Konstellationen psychischer Gesundheitsverletzung im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen denken. Die Tendenz des BGH ging bislang dahin, nicht am Unfall beteiligten Passanten o.ä. eine etwaige Schädigung dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuweisen (vgl. BGH Urteil v. 22.5.2007 – VI ZR 17/06), wohingegen bei unmittelbar am Verkehrsunfall Beteiligten psychische Gesundheitsverletzungen dem Schädiger zuzurechnen sind. Grund: Hier wird dem Geschädigten die Rolle des unmittelbar Unfallbeteiligten aufgezwungen (so bereits BGH Urteil v. 12.11.1985 – VI ZR 103/84). Wie das berufsspezifische Risiko von Polizeibeamten, psychische Gesundheitsverletzungen zu erleiden, deliktsrechtlich zu werten ist, war bislang noch nicht Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung. Der Sechste Senat findet zu dem Schluss, dass jedenfalls bei vorsätzlichen schweren Gewaltverbrechen wie einem Amoklauf bei wertender Betrachtung kein Anlass besteht, psychische Schäden von Polizeibeamten von der Zurechnung auszunehmen:
„Jedenfalls bei vorsätzlichen schweren Gewaltverbrechen wie dem streitgegenständlichen Amoklauf, mit denen typischerweise Angst und Schrecken verbreitet werden sollen und verbreitet werden, besteht im Rahmen der gebotenen wertenden Betrachtung kein Grund, die psychischen Auswirkungen des Geschehens auf einen daran unmittelbar beteiligten Polizeibeamten von der Zurechnung an den Schädiger auszunehmen. Zwar gehört es zur Ausbildung und zum Beruf eines Polizeibeamten, sich auf derartige Belastungssituationen vorzubereiten, mit ihnen umzugehen, sie zu bewältigen und zu verarbeiten. Das Risiko, dass er aus einer solchen Belastungssituation eine psychische Gesundheitsverletzung davonträgt, ist aber jedenfalls bei Straftaten der vorliegenden Art nicht allein seiner Sphäre zuzurechnen. Das Verhalten eines Amokläufers wie hier des Beklagten zeichnet sich durch ein hohes Maß an Aggressivität gegenüber nicht nur der körperlichen, sondern auch der seelischen Unversehrtheit der Betroffenen aus. Ihm das Haftungsrisiko für die psychischen Auswirkungen seines Tuns insoweit abzunehmen, als davon Polizeibeamte betroffen sind, lässt sich bei wertender Betrachtung nicht rechtfertigen.“
Der BGH stellt in seiner Entscheidung ausdrücklich fest, dass die in diesem Fall gefundene Wertung nicht auf sämtliche Konstellationen psychischer Gesundheitsverletzungen von Polizeibeamten, Rettungskräften o.ä. übertragen werden kann. Dafür sind bereits die Einsätze, in denen das berufsspezifische Risiko des Geschädigten relevant werden kann, zu vielseitig. Für schwere vorsätzliche Straftaten wird man allerdings davon ausgehen können, dass eine Zurechnung der Verletzung bzw. des Schadens zum Straftäter angenommen werden kann.
V. Resümee
Für eine deliktsrechtliche Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB bedarf es nicht nur einer äquivalent kausalen, sondern auch adäquat kausalen bzw. objektiv zurechenbaren Rechtsgutsverletzung und Schädigung. Welche Reichweite der Schutzzweck der Norm hat, bedarf dabei zwangsläufig einer wertenden Betrachtung. Geht es um die Zurechnung von Verletzungen bzw. Schäden, die Berufsträger in Ausübung ihrer Pflichten erleiden, muss nach einer Realisierung des berufsspezifischen Risikos gefragt werden. Für schwere und vorsätzliche Straftaten dürfte mit der vorliegenden Entscheidung klar sein, dass psychische Gesundheitsverletzung auch bei Polizeikräften dem Straftäter zuzurechnen sind. Insgesamt handelt es sich um eine Entscheidung, die unmittelbaren Anlass für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der deliktsrechtlichen Zurechnungsdogmatik bietet.
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