Heute hat das BVerfG in der Sache „Honeywell“ über das Mangold-Urteil des EuGH entschieden (v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06). Der erwartete „Machtkampf“ (spiegel.de vom 26.8.2010) zwischen BVerfG und EuGH ist ausgeblieben. Damit wird ein weiterer wichtiger Eckpunkt in der Positionsbestimmung zwischen BVerfG und EuGH um die Hoheit über die europäische Integration gesetzt.
I. Was war das Besondere an Mangold?
In der Rs. Mangold (EuGH v. 22. 11. 2005, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 = NZA 2005, 1345) entschied der EuGH, dass das europäische Diskriminierungsrecht einer nationalen Regelung nach der der Abschluss befristeter Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern, die das 52. Lebensjahr vollendet haben, uneingeschränkt zulässig ist, sofern nicht zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang besteht, entgegensteht.
Eine solche Regelung sah § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG a.F. vor. Dass diese durch die Entscheidung des EuGH für mit Europarecht nicht vereinbar erklärt wurde, war vorher erwartet worden. In der ausgesprochenen Rechtsfolge allerdings wich das Urteil – für viele zunächst überraschend – von der Erwartung der Beobachter ab: In der Literatur hielt man die Europarechtswidrigkeit des § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG zunächst für folgenlos. Der Verstoß gegen die europäische Diskriminierungsrichtline 2000/78/EG war eben nur ein Richtlinienverstoß. Da Richtlinen nicht unmittelbar im nationalen Recht anwendbar sind, bleiben gegen die verstoßende nationale Normen nach ganz h.M. anwendbar.
Der EuGH dagegen erklärte § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG für unanwendbar. War dies die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien? Nein, war es nicht: Der EuGH stütze den Anwendungsvorrang des Europarechts nicht auf das (sekundäre) Richtlinienrecht, sondern auf Primärrecht. Das Europrecht enthalte einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der Diskriminierungen (auch) wegen des Alters verbiete, vergleichbar dem deutschen Art. 3 Abs. 1 GG. Wegen des Verstoßes gegen dieses (primärrechtlichen) „Gemeinschaftsgrundrechts“ sei § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG unanwendbar. Dieser „Art. 3 Abs. 1 GG“ des Gemeinschaftsrechts hatte der EuGH entsprechend seinem Auftrag, Gemeinschaftsgrundrechte zu entwicklen, aus der Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten, der damaligen EuGRC und aus der EGMR entwickelt. Inzwischen ist das Diskriminierungsverbot gem. Art. 21 Abs. 1 EuGRC i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV ohnehin geltendes Rechts.
Interessant ist jedoch auch, wie der EuGH durch die Anwendung dieses primärrechtlichen Grundsatz zur Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 S. 4 TzBFG alte Fassung kam. Man kann nämlich europäische Primärrechte nicht beliebig gegen nationales Recht in Stellung bringen:
Dieses primärrechtliche Diskriminierungsverbot gilt nämlich nur im Anwendungsbereich des Europarechts, nicht aber im gesamten nationalen Recht. Unionsrecht und nationales Recht verhalten sich wie zwei Kreise, die sich in einem Teilbereich überschneiden, im Übrigen aber nebeneinander liegen. Der Anwendungsbereich des Europarechts ist jedoch weit: Erfasst ist selbstverständlich das primäre und sekundäre Europarecht selbst sowie die Handlungen der europäischen Organe. Ferner fallen auch bestimmte nationale Regelungen in den Anwendungsbereich des Europarechts, nämlich solche, die der Durchführung des Europarechts dienen, vgl. jetzt Art. 51 Abs. 1 EuGRC. Insofern sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden. Zunächst ist der Vollzug von Europarecht durch die Mitgliedsstaaten einschließlich der Umsetzung von europäischen Richtlinien vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst. Die Argumentationslinie dieser mit der Wachauf-Entscheidung begründeten Rechtsprechung ist, dass dort der Mitgliedsstaat sozusagen als Stellvertreter für die Europäische Union handelt („agency-Situation“), er ist verlängerter Arm des europäischen Gesetzgebers und als solcher eben auch an die europäischen Grundrechte gebunden. Durch die Verlagerung von Vollzug oder Rechtssetzung auf die Ebene der Mitgliedsstaaten soll der Schutz durch die europäischen Grundrechte nicht verkürzt werden.
In der ERT-Entscheidung wurden ferner nationale Normen, die Grundfreiheiten beeinträchtigten, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts einbezogen (vgl. insgesamt ausführlich Pötters/Traut ZESAR 2010, 265, 267f.).
Vorliegend lag in dem § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG zwar ein Verstoß gegen die Diskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG. Da deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war und es sich nicht um einen „vorgreifenden“ Umsetzungsakt dieser Richtlinie handelt, konnte sie den Anwendungsbereich im Rahmen der „agency“ Konstellation noch nicht eröffnen. Jedoch lag § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG nach Ansicht des EuGH im Anwendungsbereich einer anderern Richtlinien, nämlich der „Teilzeit- und Befristungsrichtlinie“ 1999/70/EG. Auf Grund dieser fiel die Norm in den Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit war auch das primärrechtliche Diskriminierungsverbot anwendbar. Dass der EuGH die Befristungs-Richtlinie 1999/70/EG verwandte, um den Anwendungsbereich des Europarechts zu begründen, war überraschend, aber richtig: Selbstverständlich entbindet die Umsetzung einer Richtlinie nicht davon, bestimmte Grundrechte einzuhalten, auch wenn diese in einer völlig anderen Richtlinie konkretisiert werden. Es käme ja auch niemand auf die Idee zu behaupten, dass man als nationaler Gesetzgeber bei der Schaffung von Arbeitsrecht nicht an
die Rundfunkfreiheit gebunden wäre, sondern nur an „thematisch passende“ Grundrechte (auch dazu Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, 271f.)
II. Warum ist das problematisch?
In der Literatur stieß das Urteil auf große Kritik. Die wichtigsten Kritikpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen (Rn. 71):
- Die Schaffung eines primärrechtlichen Diskriminierungsverbotes im Hinblick auf das Merkmal des Alters sei von vornherein nicht von den Verträgen gedeckt.
- Es sei unzulässig, die über die Teilzeit und Befristungsrichtlinie den Anwendungsbereich des primärrechtlichen Gleichbehandlungsgebotes auf § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG a.F. zu erstrecken.
- Dadurch, dass eine Richtlinie ohne Umsetzungsakt zur unmittelbaren Anwendbarkeit der primärrechtlichen Unionsgrundrechte führe, werde die Wertung des Art. 288 Abs. 3 AEUV (ex-Art. 249 Abs. 3 EGV) umgangen.
Besonders laut und prominent war die Kritik von Gerken / Rieble / Roth / Stein / Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt. 2009. Für sie wurde durch die genannten Verstöße gegen die europäischen Verträge Mangold zum ausbrechenden Rechtsakt, der – im Lissabon Urteil des BVerfG (v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2/08 u.a., BVerfGE 123, 267) noch einmal bestätigt – vor dem BVerfG im Wege der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann (zumindest, wenn man selbst von den Auswirkungen des Urteils unmittelbar betroffen ist.)
III. BVerfG: Mangold kein ausbrechender Rechtsakt
Der Kritik hat das BVerfG jedoch eine Absage erteilt. Das BVerfG hat in dem Mangold Urteil keinen ausbrechenden Rechtsakt gesehen.
1. Prüfungsmaßstab
In der Entscheidung hat es zunächst den anzuwendenen Prüfungsmaßstab konkretisiert:
Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen, ist mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren, die Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV).
Es ist Aufgabe des EuGH, das Unionsrecht verbindlich auszulegen. Da dies in den Verträgen und damit auch im deutschen Zustimmungsgesetz vorgesehen ist, muss diese Entscheidung auch das BVerfG beachten. Diese Aufgabenzuweisung, gibt dem EuGH einen Spielraum, die richtige Auslegung des Europrechts festzulegen. Ein ausbrechender Rechtsakt liegt demnach nicht schon dann vor, wenn der EuGH aus mehreren Auslegungsmöglichkeiten „die falsche“ aussucht, sondern erst, wenn er sich nicht mehr im Rahmen seines Auslegungsauftrage hält. Das wird man erst annehmen können, wenn das Ergebnis unvertretbar ist (s. dazu Pötters/Traut, ZESAR 2010, 267ff.).
„Das bedeutet für die vorliegend in Rede stehende Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen[…].“ (Rn. 60)
„Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind (vgl. BVerfGE 123, 267 <353, 400>). Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist (vgl. zur Formulierung „hinreichend qualifiziert“ als Tatbestandsmerkmal im unionsrechtlichen Haftungsrecht etwa EuGH, Urteil vom 10. Juli 2003, Rs. C-472/00 P, Fresh Marine, Slg. 2003, S. I-7541 Rn. 26 f.). Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt […]“ (Rn. 61)
Das BVerfG kann also nur schwerwiegende Verstöße überprüfen. Rechtsfortbildung ist zulässig:
„Der Auftrag, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV), beschränkt den Gerichtshof nicht darauf, über die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu wachen. Dem Gerichtshof ist auch die Rechtsfortbildung im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung nicht verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Befugnis stets ausdrücklich anerkannt[…].“ (Rn. 62)
Zusammenfassend stellt das BVerfG fest:
„Soll das supranationale Integrationsprinzip nicht Schaden nehmen, muss die Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zurückhaltend ausgeübt werden. Da es in jedem Fall einer Ultra-vires-Rüge auch über eine Rechtsauffassung des Gerichtshofs zu befinden hat, sind Aufgabe und Stellung der unabhängigen überstaatlichen Rechtsprechung zu wahren. Dies bedeutet zum einen, dass die unionseigenen Methoden der Rechtsfindung, an die sich der Gerichtshof gebunden sieht und die der „Eigenart“ der Verträge und den ihnen eigenen Zielen Rechnung tragen (vgl. EuGH, Gutachten 1/91, EWR-Abkommen, Slg. 1991, S. I-6079 Rn. 51), zu respektieren sind. Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz. Daher ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen. Hinzunehmen sind auch Interpretationen der vertraglichen Grundlagen, die sich ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge auf Einzelfälle beschränken und belastende Wirkungen auf Grundrechte entweder nicht entstehen lassen oder einem innerstaatlichen Ausgleich solcher Belastungen nicht entgegenstehen.“ (Rn. 66)
Insgesamt muss die Ultra-vires-Kontrolle also „europarechtsfreundlich“ ausgeübt werden (bereits Rn. 58).
Zu prüfen ist nach dem BVerfG folgendes:
Ein ausbrechender Rechtsakt ist anzunehmen wenn:
- Offensichtlich kompetzenwidriges Handeln der Union (Es ist sinnvoll, hier direkt die offensichtliche Kompetenzwirdigkeit zu prüfen, weil alles andere Angesichts der Auslegungshoheit des EuGH wohl nicht kompetenzwidrig wäre. Die Feinjustierung ist eben dem EuGH überlassen.)
- Ausreichende Schwere (Der angegriffene Akt muss im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fallen)
2. Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts durch TzBfG Richtlinie
Dass Richtlinien den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit auch die Anwendbarkeit der allgemeinen Rechsgrundsätze begründen können, ist europarechtlich anerkannt. Auch im konkreten Fall war zulässig, die Norm, die erst nach der eigentlich Umsetzung der Richtlinie geschaffen wurde, in den Anwendungsbereich einzubeziehen – und hier erfolgt wieder der Verweis auf die Systematik des Europarechts und seiner Entwicklung durch den EuGH („Binnenlogik“):
„“Entscheidende Erwägung, die aus der Binnenlogik des Unionsrechts heraus nicht vollständig zurückgewiesen werden kann, ist jedoch die sachliche Reichweite der Richtlinie 1999/70/EG, insbesondere deren Verschlechterungsverbot (§ 8 Abs. 3 der Richtlinie 1999/70/EG). Sie ist das maßgebende Argument, nicht die jeweilige Zielsetzung des nationalen Gesetzgebers.“ (Rn. 74)
3. Schaffung eine Verbots der Altersdiskriminierung
Auch die Schaffung eines Verbotes der Altersdiskriminierung stellt nach Ansicht des BVerfG keinen ausbrechenden Rechtsakt dar. Es verweist darauf, dass die Mitgliedsstaaten entsprechender sekundärrechtlicher Rechtsetzung bereits zugestimmt hatten. Damit liegt kein schwerere Beeinträchtigung mitgliedsstaatlicher Kompetenzen mehr vor, da sie der Union in diesem Bereich ohnehin Kompetenzen verschafft haben:
„Hier liegt der Fall jedoch anders, weil die an der auf Art. 13 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 19 Abs. 1 AEUV) gestützten Rechtsetzung beteiligten Organe unter Einschluss des Rates und des deutschen Vertreters im Rat – und nicht Richter im Zuge der Rechtsfortbildung – den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für arbeitsvertragsrechtliche Rechtsbeziehungen verbindlich gemacht und damit auch den Raum für gerichtliche Rechtsinterpretation eröffnet haben[…]“. (Rn. 79)
Für die Zukunft ist die Frage ohnhin geklärt – das Verbot ist nun in Art. 21 Abs. 1 EuGRC normiert.
4. Vorwirkung von Richtlinien
Als fragwürdig wurde schließlich betrachtet, dass der EuGH über das primärrechtliche Diskriminierungsverbot bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Diskriminierungsrichtlinie eine praktische „Bindung“ an die Richtlinie bewirkt hat. Von manchen wurde argumentiert, dies verstoße gegen den Grundsatz, dass Richtlinien kein unmittelbare Wirkung zukomme und verkürze außerdem den Umsetzungsspielraum der Mitgliedsstaaten unzulässig (vgl. Rn. 75f). Auch diese Bedenken teilt das BVerfG nicht. Insbesondere stützt es sich auch hier auf die lange entwickelte Rechtsprechung des EuGH:
„Mit der in der Mangold-Entscheidung angenommenen Vorwirkung von Richtlinien schafft der Gerichtshof eine weitere Fallgruppe für die sogenannte „negative“ Wirkung von Richtlinien. Diese dient wie die Rechtsprechung zur „negativen“ Wirkung von Richtlinien insgesamt lediglich der Effektuierung bestehender Rechtspflichten der Mitgliedstaaten, schafft aber keine neuen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzenden Pflichten der Mitgliedstaaten.“ (Rn. 77)
Auch hierin ist dem BVerfG zuzustimmen. Von einer generellen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien kann keine Rede sein. Es handelt sich um den singulären Fall, dass die Richtinie ein Gebot des Primärrechts konkretisiert. Dies ist allgemein nicht der Fall. Auch die Argumentation mit der Umsetzungsfrist kann nicht überzeugen. Wie das BVerfG richtig dargelegt hat, wird nur die Freiheit der Mitgliedsstaaten, gegen bestehendes Recht zu verstoßen, eingeschränkt. Das kann nicht schutzwürdig sein (s. schon Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, 272f.)
5. Sonstiges
Auch die Verneinung von Vertrauensschutz ist nicht verfassungswidrig:
„Die Beschwerdeführerin ist auch nicht dadurch in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, dass das angegriffene Urteil keinen Vertrauensschutz gewährt hat.“ (Rn. 80).
Ferner bestand für das BAG kein Anlass, in diesem Punkt eine Vorlageentscheidung des EuGH nach Art. 267 AEU einzuholen:
„Das Bundesarbeitsgericht hätte insbesondere nicht wegen Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vorabentscheidung herbeiführen müssen. Unter der Annahme, dass der Gerichtshof die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG in der Mangold-Entscheidung mit der gebotenen Eindeutigkeit festgestellt habe und die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung von Entscheidungswirkungen nicht erfüllt seien, sah das Bundesarbeitsgericht sich nicht als verpflichtet an, dem Gerichtshof durch eine Vorlage die Gelegenheit zur nachträglichen Gewährung von Vertrauensschutz zu eröffnen. Dies stellt ein vertretbares Ergebnis dar. Die Gegenauffassung der Beschwerdeführerin, dass der Gerichtshof die Frage des rückwirkenden Vertrauensschutzes in der Rechtssache Mangold offen gelassen habe und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Begrenzung von Entscheidungswirkungen sich nicht auf die vorliegende Fallgestaltung beziehe, ist der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht eindeutig vorzuziehen. Das Bundesarbeitsgericht durfte vielmehr davon ausgehen, dass § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nach der Mangold-Entscheidung unangewendet bleiben musste.“
IV. Einordnung
„Knallen jetzt in Luxemburg die Sektkorken?“ (Müller, „Karlsruhe hält sich zurück“, FAZ v. 27.8.2010, S. 2) In der Presse wird das Urteil kritisch aufgenommen; der Eindruck herrscht vor, nach dem „Aufplustern“ des Lissabon Urteils folgte jetzt ein kleinlautes Tönchen (Müller, „Kleinlaut“, FAZ v. 27.8.2010, S 1), für manche ist das Urteil sogar der Abschied vom Lissabon Urteil (Stein, zitiert bei Müller, „Karlsruhe hält sich zurück“, FAZ v. 27.8.2010, S. 2).
Diese Wertung ist nach Ansicht des Verfassers unzutreffend und die hier getroffene Entscheidung zwingend. Das „Auslegungsmonopol“ ist in den Verträgen angelegt und deshalb vom BVerfG zu beachten, da es über die Verträge auch Teil des deutschen Zustimmungsgesetzes ist (s. Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, 269f.) Von einem „Einknicken“ durch die Reduzierung des Prüfungsmaßstabes kann also keine Rede sein. Dieser folgt aus rein nationalem Recht, nämlich den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen.
Auch inhaltlich ist die Kritik am Mangold-Urteil nach hiesiger Ansicht überzogen: Bei genauerer Analyse der europäischen Rechtsprechung war das Mangold-Urteil konsequent und in Rechtsprechungslinien seit den 90er Jahren angelegt (vgl. Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, insb. 270ff). Deshalb stellt es eine zumindest gut vertretbareAuslegung des Europarechts dar und schon deshalb keinen ausbrechenden Rechtsakt.
Wer bereits die bisherigen richterrechtlichen Entwicklungen, mit denen der EuGH Stück für Stück den Anwendungsbereich des Europarechts ausgedehnt und die Sanktionsmechanismen verschärft hat, kritisiert, dem ist entgegenzuhalten, dass diese Entwicklungen zumindest stillschweigend mit den jeweiligen Zustimmungsgesetzen gebilligt wurden. Sonst könnte man beispielsweise auch heute noch die unmittelbare Wirkung von Grundfreiheiten angesichts des seit 1957 nahezu unveränderten Wortlauts der Verträge, der eigentlich nur die Mitgliedsstaaten adressiert, anzweifeln. Auch ungeschriebene Grundsätze wie etwa der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch (Rs. Francovich) oder die Grundrechte des Unionsrechts wurden ohne eindeutige Anhaltspunkte im Wortlaut der Verträge Teil des acquis communautaire, ohne dass dieser Entwicklung durch die Mitgliedsstaaten Einhalt geboten worden wäre. Die Mitgliedstaaten hätten bei jeder Vertragsänderung die Möglichkeit gehabt, dieser progressiven Rechtsprechung einen Riegel vorzuschieben (vgl. Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, 271).