Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sofiane Benamor, LL.B. veröffentlichen zu können. Der Autor wird demnächst im Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern tätig sein und beginnt ab kommendem Wintersemester ein Studium der Rechtswissenschaften an der Fernuniversität Hagen.
Die Störer- bzw. Verantwortlichkeitskategorien gehören zu den zentralen Begriffen des Polizei- und Ordnungsrechtes. Sie behandeln die Personen, gegen die sich die Ordnungs- und Polizeibehörden zur Gefahrenabwehr wenden können (vgl. §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 PolG NRW, §§ 13 f. ASOG Bln, explizit § 68 Abs. 1 SOG M-V). Die Verantwortlichkeit als normative Voraussetzung der Inanspruchnahme ist wesentliches Element rechtsstaatlichen Polizei- und Ordnungsrechtes. Es stellt sicher, dass nur derjenige, dem eine Gefahr zuzurechnen ist, auch in Anspruch genommen wird. Zwar ist das Gefahrenabwehrrecht typisches Landesrecht, sodass sich bundeslandspezifische Unterschiede ergeben können, wesentliche gesetzgeberische Entscheidungen sind jedoch weitestgehend bundeseinheitlich. Im Wesentlichen finden sich zwei bzw. drei Kategorien in den Polizeigesetzen:
I. Verhaltens- bzw. Handlungsstörer
II. Zustandsstörer
III. Nichtstörer
Diese sollen folgend skizziert und ihre wesentlichen Merkmale und praxis- bzw. fallrelevanten Gesichtspunkte dargestellt werden. Abschließend soll unter IV. ein kurzer Abriss der Problematik um die Auswahl bei Störermehrheit gegeben werden.
I. Verhaltens- bzw. Handlungsstörer
Bei dieser Störerkategorie ist, wie der Name bereits sagt, das Verhalten der Person maßgeblich. Dieses Verhalten kann zum einen im positiven, eigenen Tun liegen, also der aktiven Verursachung einer Gefahrenlage (z. B. dem Erzeugen nächtlichen Lärms durch Brüllen). Die Verhaltensverantwortlichkeit besteht verschuldensunabhängig, kann also einerseits Einsichtsunfähige und Betrunkene (z. B. den Betrunkenen, der nachts durch sein Liegen auf der Straße den Verkehr gefährdet) andererseits aber auch Kinder treffen. Bei Kindern und Jugendlichen unter 14 (§ 17 Abs. 2 BPolG; § 4 Abs. 2 PolG NRW; § 68 Abs. 2 SOG M-V; § 13 Abs. 2 ASOG Bln) bzw. unter 16 Jahren (§ 6 Abs. 2 PolG BW) besteht daneben auch eine Zusatzverantwortlichkeit für den bzw. die Aufsichtspflichtigen. Eine solche kann auch für den Betreuer einer behinderten Person oder für den Geschäftsherrn eines Verrichtungsgehilfen bestehen (§ 69 Abs. 3 SOG M-V, § 6 Abs. 3 HSOG, § 17 Abs. 3 BPolG). Dieser Zusatzverantwortliche tritt neben den Hauptverantwortlichen, sodass beide je nach Zweckmäßigkeit in Anspruch genommen werden können.
Die Verhaltensverantwortlichkeit kann auch aus einem Unterlassen resultieren (OVG Münster, DVBl. 1979, 735; Kingreen/Poscher, POR, § 9 Rn.6). Voraussetzung hierfür sind gesetzlich normierte Handlungspflichten aus dem öffentlichen Recht (z. B. Pflicht der Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken; Straßenreinigungspflicht aus Landesrecht; vgl. auch § 10 KrWG, § 26 WHG), bzw. Pflichten aus öffentlich-rechtlichem Vertrag, Verwaltungsakt oder auch Garantenstellung. Ob zivilrechtliche Handlungspflichten ausreichen, ist umstritten und jedenfalls hinsichtlich der Pflicht zur Haltung einer Sache im ordnungsgemäßen Zustand eher abzulehnen, da ansonsten die normative Distinktion zwischen Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit unterlaufen würde (Thiel, POR, Rn. 228). Daran ändert auch die verfassungsrechtliche Sozialbindung des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2 GG nichts.
Regelmäßige Probleme bereiten Fälle, in denen der Gefahrzusammenhang bzw. die Gefahrverursachung des (vermeintlich) Verhaltensverantwortlichen nicht zweifellos feststeht. Zur Abgrenzung verwendet die h. M. die sog. Theorie der unmittelbaren Verursachung (Selmer, JuS 1992, 97 <98>). Danach ist das Verhalten maßgeblich, welches nach den Umständen des Einzelfalles die Gefahrengrenze überschreitet. Abzustellen ist mithin auf das letzte Glied der Kausalkette, mittelbare Verursacher scheiden damit aus. Die Gefahrenschwelle überschreitet eine Handlung, wenn sie nicht mehr denjenigen Anforderungen entspricht, die von der Rechtsordnung im Interesse eines störungsfreien Gemeinschaftslebens verlangt werden (OVG Münster, NVwZ 1985, 355 <356>). Es erfolgt also keine objektive naturwissenschaftliche, sondern eine normativ wertende Gesamtbetrachtung.
Als Korrektiv dieser Theorie wurde die Figur des Zweckveranlassers entwickelt. Hierunter ist die Person zu verstehen, welche „zwar die Gefahrengrenze überschreitet, aber nicht die zeitlich letzte Handlung vor dem Schadenseintritt vornimmt“ (Gusy, POR, Rn. 336). Er veranlasst eine Situation, in welcher durch das Verhalten anderer eine Gefahr entwickelt wird, er „fordert“ den unmittelbaren Störer „heraus“ (Schmidt, POR, Rn. 776). Die enge sachliche Nähe von Veranlassung und dem die Gefahr herbeiführenden Verhalten soll hier die Verantwortlichkeit begründen. Historisch entwickelt wurde die Figur im Schaufensterpuppenfall des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes (PrOVGE 40, 216 <217>). Der Eigentümer eines Ladens stellte diverse bewegliche Puppen in sein Schaufenster. Diese lockten viele schaulustige Passanten an, die dann Ansammlungen bildeten und mithin den Verkehr behinderten. Andere Fälle sind etwa die Vermietung von Wohnungen in Sperrbezirken gem. Art. 297 EGStGB an Prostituierte (VGH Kassel, NVwZ 1992, 1111), die Anmeldung einer potenziell unfriedlichen Demonstration (OVG Weimar, NVwZ-RR 1997, 287) oder die Einladung zu einer Facebook-Party (Klas/Bauer, K&R 2011, 533).
An dieser Rechtsfigur gibt es zahlreiche Kritik (vgl. exemplarisch Erbel, JuS 1985, 257), deren Bearbeitung jedoch den Rahmen dieses Beitrages erheblich übersteigen würde.
II. Zustandsstörer bzw. -verantwortlichkeit
Die Zustandsverantwortlichkeit als Ausfluss der Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG stellt im Gegensatz dazu auf die tatsächliche Sachherrschaft oder Eigentum an einer Sache, die wiederum Gefahren verursacht, ab (§ 18 BPolG; § 70 SOG M-V; § 7 PolG BW; § 5 PolG NRW; § 14 ASOG Bln). Es kommt hier also nicht darauf an, ob der Eigentümer oder Inhaber der tatsächlichen Gewalt etwas für den Gefahrenzustand der betreffenden Sache kann oder diesen (schuldhaft oder unschuldhaft) verursacht hat, sondern nur auf die objektiven Gefahren, die von der Sache ausgehen. Klassische Anwendungsfälle für die Zustandsverantwortlichkeit sind der Baum auf einem Privatgrundstück, der auf die Straße (und damit auf Passanten) zu fallen droht oder der um sich beißende Hund.
Die Eigentümereigenschaft ist akzessorisch zu den Wertungen des bürgerlichen Rechts (Götz, POR, § 9 Rn. 55). Eigentümer ist somit, wer nach den Vorschriften des BGB Eigentum an einer Sache hat. Bei gemeinschaftlichem Miteigentum ist jeder Eigentümer eigenständig verantwortlich. Die Verantwortlichkeit des Eigentümers entfällt allerdings, wenn der Inhaber der tatsächlichen Welt diese ohne den Willen des Eigentümers oder des Nutzungsberechtigten ausübt (§ 18 Abs. 2 S. 2 BPolG, § 5 Abs. 2 S. 2 PolG NRW, § 14 Abs. 2 S. 2 ASOG Bln, § 7 Abs. 2 S. 2 HSOG). Dies kann durch typische Fallkonstellationen wie Diebstahl und Unterschlagung, aber auch durch hoheitliche Beschlagnahme (z. B. Pfändung) geschehen.
Nicht beendet wird die Zustandsverantwortlichkeit des Eigentümers jedoch durch Dereliktion gem. §§ 928, 959 BGB. Hier regeln die Polizeigesetze explizit, dass diese auch nach der Dereliktion weiterhin besteht (vgl. § 18 Abs. 3 PolG BW; 5 Abs. 3 PolG NRW; § 14 Abs. 4 ASOG Bln; § 6 Abs. 3 BremPolG; § 70 Abs. 3 SOG M-V). Der Derelinquierende soll sich seiner Verantwortung nicht einfach durch Eigentumsaufgabe entziehen können.
Die andere Form der Zustandsverantwortlichkeit ist die des Inhabers der tatsächlichen Gewalt, also der tatsächlichen Sachherrschaft. Die tatsächliche Gewalt bzw. Sachherrschaft ist ein polizeirechtseigener Begriff, der zwar ähnlich, aber nicht völlig deckungsgleich mit dem zivilrechtlichen Besitzbegriff ist (Götz, § 9 Rn. 51), da er keinen Besitzbegründungswillen erfordert und nach der Verkehrsauffassung zu bestimmen ist. Er wird jedoch in aller Regel zum selben Ergebnis führen. Beispiele für diese Kategorie sind Mieter, Pächter und Verwahrer, aber auch Insolvenz- und Konkursverwalter.
III. Inanspruchnahme des Nichtstörers
Unter gewissen, sehr engen Voraussetzungen können auch Personen, die weder Verhaltens- noch Zustandsstörer bzw. Verantwortliche sind, in Anspruch genommen werden (§ 71 SOG M-V; § 20 BPolG, § 6 PolG NRW; § 9 PolG BW; § 16 ASOG Bln; § 7 BremPolG). Man spricht in diesem Zusammenhang vom polizeilichen Notstand. (Pieroth/Schlink/Kniesel, § 9 Rn. 74). Erforderlich ist hier eine Gefahr, die gegenwärtig und zumeist auch erheblich sein muss. Weiterhin ist die Inanspruchnahme des nichtverantwortlichen Dritten subsidiär zu anderen Möglichkeiten der Gefahrenabwehr. Das bedeutet sowohl, dass die Gefahr weder durch Inanspruchnahme des Verhaltens- noch Zustandsstörer, noch durch die Behörde selbst gebannt werden kann. Die Inanspruchnahme des Nichtverantwortlichen ist insoweit „doppelt subsidiär“ (Gusy, Rn. 384). Bei der Wahl und Ausprägung der Maßnahme muss die Behörde zudem darauf achten, dass diese sich auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt und so wenig invasiv wie möglich ist. Außerdem steht dem Nichtstörer ein öffentlich-rechtlicher Ausgleichsanspruch zu (§ 59 Abs. 1 Nr. 1 ASOG Bln; § 56 Abs. 1 Satz 1 BremPolG; § 72 Abs. 1 SOG M-V; § 67 PolG NRW; § 55 Abs. 1 PolG BW).
Klassische Beispiele für diese Konstellation sind die sog. Obdachlosenfälle, in denen die Ordnungsbehörde eingreift, um drohende Obdachlosigkeit zu verhindern oder bestehende Obdachlosigkeit (auch nur temporär) zu beenden (vgl. OVG Berlin, NVwZ 1991, 692; VGH München, BayVBl. 1991, 114). Hier wird der Eigentümer der bereits bewohnten oder einer unbewohnten Wohnung als Nichtstörer in Anspruch genommen, da eine Inanspruchnahme des tatsächlichen Störers – hier des Obdachlosen – nicht erfolgsversprechend ist. Da allerdings auch hier die Nachrangigkeit der Inanspruchnahme des Nichtstörers gilt, muss sich die Ordnungsbehörde zunächst bemühen, andere Unterkünfte für den (potenziell) Obdachlosen zu finden (Schmidt, Rn. 837).
Weiterhin in der Praxis bedeutsam sind Fälle auf dem Gebiet des Versammlungsrechtes, in denen die Teilnehmer einer Demonstration zwar friedlich agieren, eine Gefahr jedoch von der Gegendemonstration zu erwarten ist. Hier ist das Verhältnis der potenziellen Maßnahmen zueinander jedoch komplexer, da die Notstandsverantwortung z. B. durch Auflagen oder ggf. auch ein Totalverbot der gefährlichen Demonstration (vgl. § 15 Abs. 1 VersG) teilweise vermieden werden kann (BVerfG, NVwZ 2000, 1406). Hier ist auch zu prüfen, ob der Demonstrationsanmelder nicht bereits als Zweckveranlasser in Anspruch genommen werden kann.
IV. Polizei- und ordnungsbehördliche Störerauswahl
In vielen Fällen wird es nicht nur einen, sondern mehrere Verantwortliche geben, die zur Abwehr der Gefahr in Anspruch genommen werden können. Gerade die aufgezeigten Zusatzverantwortlichkeiten bei der Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit oder die sog. Doppelstörer, die sowohl verhaltens- als auch zustandsverantwortlich sind, geben den zuständigen Behörden zur Gefahrenabwehr die Möglichkeit der individuellen Auswahl. Diese Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (vgl. § 12 ASOG Bln, § 14 SOG M-V, § 3 PolG NRW; § 3 PolG BW; § 4 Abs. 1 BremPolG; § 16 BPolG). Sie hat dabei Entschließungs- und Auswahlermessen. Bei „besonders hoher Intensität der Störung oder Gefährdung“ (BVerwGE 11, 95 <97>) oder „besonders schweren Gefahrenfällen“
(BVerwG, DÖV 1969, 465) kann dieser Ermessensspielraum eingeschränkt sein. Zentrales und entscheidendes Kriterium bei der Störerauswahl ist der gefahrenabwehrrechtliche Grundsatz der Effektivität der Gefahrenabwehr, dass sich die Behörde also an denjenigen wendet, der die Gefahr am schnellsten und effektivsten beseitigen kann (Schmidt, Rn. 816). So ist im Verhältnis Mieter (als Inhaber der tatsächlichen Gewalt) und Eigentümer der Mieter als Anwesender, sofort Handlungsfähiger eher in der Lage, einen losen Ziegelstein vom Dach des Hauses zu entfernen als der entfernt wohnende Eigentümer. Andersherum wird sich die Behörde an den Eigentümer wenden, wenn es um bestimmte Handlungen geht, die dem Mieter aus mietvertraglichen bzw. eigentumsrechtlichen Gründen verboten sind, er dazu also rechtlich nicht in der Lage ist. In der Literatur finden sich darüber hinaus vermehrt Faustformeln für die Inanspruchnahme, etwa „Verhaltensverantwortlicher/Handlungsstörer vor Zustandsstörer“ oder „Doppelstörer vor einfachem Störer“ (Thiel, Rn. 305). Die Tauglichkeit solcher Faustformeln ist umstritten (Vgl. Schoch, JURA 2012, 685 <688>). Es wird hier zu raten sein, eine wertende Gesamtbetrachtung der jeweiligen Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen.
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