BGH: „Hexenjagd. Mein Schuldienst in Berlin“ als Persönlichkeitsrechtsverletzung einer Schülerin
Der BGH hat mit Urteil v. 15.9.2015 – VI ZR 175/14 einen Fall entschieden, der wie gemalt sowohl für eine schriftliche Examensklausur als auch für eine mündliche Prüfung ist. Auch aufgrund seiner Aktualität und öffentlichen Diskussion (s. nur FAZ) sollte dieser Fall jedem Examenskandidaten ein Begriff sein. Inhaltlich geht es im Wesentlichen um die Frage, ob Ursula Sarrazin, die Frau des streitbaren Bestsellerautors („Deutschland schafft sich ab“) und früheren Berliner Senators Thilo Sarrazin, in ihrem Buch „Hexenjagd“ die Persönlichkeitsrechte eines Mädchens verletzt hat, indem sie es mit vollem Namen nannte und einen Konflikt aus den Jahren 2007/08 mit ihrer Mutter um das Überspringen der zweiten Grundschulklasse schilderte.
I. Sachverhalt
Frau Sarrazin veröffentlichte im Jahr 2012 ein Jahr nach ihrem Ausscheiden aus dem Schuldienst das Buch „Hexenjagd. Mein Schuldienst in Berlin“, in welchem sie ihren Schulalltag als Lehrerin schildert. Unter anderem berichtet sie namentlich von einer Schülerin, die die zweite Klasse überspringen sollte. Diese sieht sich im Buch als – so der klägerseitige Wortlaut – „Möchtegernüberspringerin“ und „Pseudo-Hochbegabte“ dargestellt, der es sowohl an sozialer als auch fachlicher Kompetenz fehlt. („Sie schrieb noch sehr langsam und ungelenk. Beim Lesen hatte sie Mühe, den Sinn zu erfassen, weinte schnell, wenn etwas nicht gleich gelang, wie einen Würfel zu falten und zu kleben.“). Da es zu Streit und einer Beschwerde der Mutter gegen die Versagung des Überspringens gab, kam es im Jahr 2008 zu einer ausführlichen Presseberichterstattung, in welcher sich auch die Mutter über den Sachverhalt äußerte.
Die Klägerin machte nun geltend, dass die identifizierende Darstellung ihrer Person als unreife „Pseudo-Hochbegabte“, der es an der erforderlichen Intelligenz und Sozialkompetenz fehle, sie in ihrer Intimsphäre verletze. Die Gegenseite führt hingegen an, dass es an einer Rechtsverletzung der Klägerin fehle, da der im Buch dargestellte Sachverhalt bereits Gegenstand umfassender Presseberichte gewesen sei.
II. Lösung des BGH
Der BGH gewährt der Klägerin einen Unterlassungsanspruch nach § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog i. V. m. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, was insbesondere auch die weitere Verbreitung des Druckwerks umfasst. Zunächst stellt der BGH fest, dass die ausführliche Beschreibung des versagten Überspringens sowie deren Gründe im Buch dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unterfallen. Betroffen sei darüber hinaus das Recht der minderjährigen Klägerin auf ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ungestörte kindgemäße Entwicklung (vgl. BGH v. 5.11.2013 – VI ZR 304/12, BGHZ 198, 346 Rn. 17):
Kinder bedürfen eines besonderen Schutzes, weil sie sich erst zu eigenverantwortlichen Personen entwickeln müssen. Ihre Persönlichkeitsentfaltung kann dadurch, dass persönliche Angelegenheiten zum Gegenstand öffentlicher Erörterung gemacht werden, wesentlich empfindlicher gestört werden als die von Erwachsenen (vgl. Senatsurteile vom 5. November 2013 – VI ZR 304/12, BGHZ 198, 346, Rn. 17; vom 29. April 2014 – VI ZR 137/13, AfP 2014, 325 Rn. 9; BVerfGE 101, 361, 385; 119, 1, 24; 120, 180, 199). Das Recht jedes Kindes auf ungehinderte Entwicklung zur Persönlichkeit – auf „Person werden“ – umfasst dabei sowohl die Privatsphäre als auch die kindgemäße Entwicklung und Entfaltung in der Öffentlichkeit (vgl. BVerfG, NJW 2000, 2191, 2192). Der konkrete Umfang des Rechts des Kindes auf ungestörte kindliche Entwicklung ist vom Schutzzweck her unter Berücksichtigung der Entwicklungsphasen des Kindes zu bestimmen (BVerfG, AfP 2003, 537).
Im Folgenden prüft der BGH die Rechtswidrigkeit dieses Eingriffs. Zunächst stellt er fest, dass es sich um ein Rahmenrecht handelt, das umfassend mit den gegenläufigen Interessen abgewogen werden muss.
Zunächst könnte insoweit die Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG einschlägig sein. Dies lehnt der BGH jedoch ab, da es sich um eine Tatsachendarstellung handele:
Schildert der Autor eines Werks tatsächliche Begebenheiten und/oder existierende Personen, kommt es darauf an, ob er diese Wirklichkeit künstlerisch gestaltet bzw. eine neue ästhetische Wirklichkeit schafft. Letzteres liegt nahe, wenn der Autor tatsächliche und fiktive Schilderungen vermengt und keinen Faktizitätsanspruch erhebt. Erschöpft sich der Text dagegen in einer reportagehaften Schilderung eines realen Geschehens und besitzt er keine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene, so fällt er nicht in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG (vgl. Senatsurteil vom 10. Juni 2008 – VI ZR 252/07, AfP 2008, 385 Rn. 8 – Esra; BVerfGE 119, 1, 20 f., 28 f., 31, 33 – Esra; BVerfG AfP 2008, 155 Rn. 4). […] Es handelt es um einen reinen Tatsachenbericht, mit dem die Autorin keine gegenüber der realen Wirklichkeit verselbständigte ästhetische Wirklichkeit geschaffen oder angestrebt hat. Die Autorin erhebt vielmehr ausdrücklich einen Faktizitätsanspruch.
Daher kommt als gegenläufiges Grundrecht allein die Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 F. 1 GG in Betracht. Insoweit ist eine Abwägung anhand der bekannten Kritieren vorzunehmen, also insbesondere Schwere und Auswirkungen des Eingriffs auf der einen Seite, Ausweichmöglichkeiten auf der anderen Seite. Im Ergebnis kommt der BGH zur Rechtswidrigkeit der namentlichen Nennung aus folgenden Gründen:
- schwerwiegende Beeinträchtigung in einer besonders wichtigen und schutzwürdigen Lebensphase (Kindheit und Pubertät)
- Herabsetzende Wortwahl mit „Möchtegerne-Überspringerin“ und „Pseudo-Hochbegabte“
- Hierdurch Gefahr von aktuellen Hänseleien der inzwischen 12-Jährigen Schülerin (Hinweis: Der Feststellung konkreter Beeinträchtigungen bedarf es nicht)
- Verschwiegenheitspflicht der Lehrerin
- Möglichkeit der Anonymisierung
Zusätzlich entfalle eine bewirkte Persönlichkeitsrechtsverletzung nicht durch die Preisgabe nicht in die Öffentlichkeit gehörender Lebenssachverhalte durch den Verletzten oder seine Erziehungsberechtigten nach der Verletzung.
Als Rechtsfolge nimmt der BGH die Unterlassung der Verbreitung des Buchs an. Zudem stellt er fest, dass eine absolute Anonymsierung notwendig ist, so dass keine Identifizierung mehr möglich ist. Hierzu nenügt nicht nur die Anonymisierung des Namens, sondern auch der weiteren Umstände. Daher genügt Kind von Frau XY etc. nicht, da hierdurch wiederum eine mittelbare Identifizierung möglich ist. Dies nimmt der BGH auch für den Namen der Schule, Angabe der Klasse und der Jahreszahl an.
III. Zusätzliches Wissen für mündliche Prüfung
Dass es hier um das Verhältnis von Persönlichkeitsrechten der Betroffenen sowie der Reichweite der Kunst- bzw. Meinungsfreiheit geht, liegt auf der Hand. Insoweit sollten weitere Entscheidungen nicht nur dem Namen nach bekannt sein. Hingewiesen sei allein auf die Entscheidungen des BVerfG in den Rs. Lüth und Mephisto sowie des BGH in den Rs. Herrenreiter und Caroline von Monaco (S. auch zu Bildnissen des Kaiser Franz Beckenbauer hier m.w. Fällen)
IV. Thesenartige Zusammenfassung der für das Examen wesentlichen Aussagen des BGH
- Fallgruppe ungestörte kindgemäße Entwicklung sollte bekannt sein
- Kunstfreiheit umfasst keine Tatsachenäußerung, so dass reine Tatsachenberichte mit Faktizitätsanspruch nicht erfasst sind
- Bei Abwägung des Persönlichkeitsrechts mit der Meinungsfreiheit sind bei Kindern besonders strenge Maßstäbe anzulehnen
- Eine Anonymisierung und Verunmöglichung der Identifizierung ist notwendig
- Die Äußerung des Betroffenen oder seiner Vertreter ändert nichts an der Persönlichkeitsverletzung
Super Beitrag. Danke!
Wieso ist denn die Meinungsfreiheit schutzbereichlich überhaupt eröffnet, wenn das Gericht davon ausgeht, dass eine reine Tatsachenbehauptung vorliegt, die nicht wahr ist. Vom Schutzbereich sind doch nur Werturteile und wahre Tatsachenbehauptungen umfasst?