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Schlagwortarchiv für: Schuldprinzip

Dr. Lena Bleckmann

BVerfG zur Versammlungsfreiheit: Strafrechtliche Verurteilung eines nur „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungsgemäß

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verfassungsrecht, Versammlungsrecht

In einem nun veröffentlichten Nichtannahmebeschluss vom 9.7.2019 (Az. 1 BvR 1257/19) hatte das Bundesverfassungsgericht sich mit der Frage zu befassen, ob eine strafrechtliche Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG (Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung) gegen die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers sowie gegen das strafrechtliche Analogieverbot und das Schuldprinzip verstößt.
Sowohl in Klausuren im Grundstudium als auch im Examen ist die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG ein sehr beliebtes Prüfungsthema. Zusätzlich wandte sich der Beschwerdeführer vorliegend gegen ein Urteil, sodass eine Urteilsverfassungsbeschwerde zu prüfen ist, deren Prüfung vielen Studierenden Probleme bereitet. Die Entscheidung gibt Anlass, die Wesenszüge beider Themengebiete zu wiederholen. 
I. Sachverhalt (verkürzt und abgewandelt)
Der Beschwerdeführer A organisierte im Februar 2017 eine Demonstrationsveranstaltung auf einer Autobahnbrücke, an der neben ihm vier weitere Personen teilnahmen. Die Veranstaltung erfolgte als Ausdruck einer „Anti-Atom-Bewegung“. Zwei Teilnehmer seilten sich von der Brücke ab und spannten ein beschriftetes Banner zwischen sich auf. Die gesamte Veranstaltung wurde vom Beschwerdeführer durch Anweisungen koordiniert und auch beendet. Eine Anmeldung nach § 14 VersG erfolgte nicht. Die Teilnehmer waren mit dem Auto angereist und hatten Banner und Schilder vorbereitet. Zuvor hatten sie auch die Presse über die Veranstaltung informiert. A wurde vom Amtsgericht als faktischer Leiter der Versammlung wegen Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung nach § 26 Abs. 2 VersG verurteilt. Hierdurch fühlt er sich in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
II. Lösung
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A durch die gerichtliche Entscheidung in spezifisch verfassungsrechtlicher Weise in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. (Hier sollte der Bearbeiter kurz ausführen, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist und Verletzungen des einfachen Rechts somit außer Betracht bleiben).
1. In Betracht kommt eine Verletzung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
(Anm: Das BVerfG prüfte in seinem Beschluss zunächst die Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG sowie des Gebots „Keine Strafe ohne Schuld“ aus Art. 2 Abs. 1 GG. Um jedoch den Aufbau der Urteilsverfassungsbeschwerde besser darstellen zu können, erfolgt hier zunächst die Prüfung der Versammlungsfreiheit, deren Aufbau Studenten geläufiger sein dürfte).  
a. In den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fällt die Zusammenkunft mehrerer Personen (nach hM mindestens zwei) zu einem gemeinsamen Zweck, wobei die Anforderungen an den Zweck umstritten sind (siehe dazu hier unseren Beitrag zu Art. 8 GG). Die Teilhabe an der Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten, wie vorliegend die Demonstration gegen den Einsatz atomarer Energie, genügt den Anforderungen jedenfalls. Die Versammlung muss friedlich und ohne Waffen verlaufen, was hier der Fall ist. Die Veranstaltung auf der Brücke fällt somit unter Art. 8 Abs. 1 GG. Es handelt sich um ein Deutschengrundrecht, von der deutschen Staatsangehörigkeit des A gem. Art. 116 Abs. 1 GG ist auszugehen.
b. Indem das Gericht strafrechtliche Sanktionen an die Ausübung der nach Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Tätigkeit anknüpft, hat es auch in den Schutzbereich eingegriffen.
c. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
Für Versammlungen unter freiem Himmel (d.h. solche, die nicht durch eine seitliche Abgrenzung vor unkontrolliertem Zugang von jedermann geschützt sind) sieht Art. 8 Abs. 2 GG einen einfachen Gesetzesvorbehalt vor. Die Versammlung auf der Brücke war jedermann zugänglich und fand so unter freiem Himmel statt. In diesem Fall ist Art. 8 Abs. 1 GG durch oder auf Grund eines Gesetzes beschränkbar.
(Anm: An dieser Stelle folgt die Prüfung der „Schranken-Schranken“, deren Aufbau vielen Bearbeitern bei der Urteilsverfassungsbeschwerde Schwierigkeiten bereitet. Wichtig ist es zunächst zu prüfen, ob die Norm, aufgrund derer die Einschränkung vorgenommen wird, unabhängig von den Umständen des Falles den Anforderungen des GG standhält. Erst danach folgt die Prüfung des Einzelakts, d.h. hier des Urteils. Wo der Schwerpunkt liegt, richtet sich nach den Umständen des Falles. Der Schwerpunkt bei dieser Falllösung liegt eher auf der Ebene des Einzelaktes, nicht bei der Normprüfung.)
Die Verurteilung erfolgt auf Grundlage des § 26 Abs. 2 VersG i.V.m. § 14 VersG. An deren Wirksamkeit können insoweit Zweifel angestellt werden, als dass Art. 8 Abs. 1 GG das Recht verbürgt, sich ohne Anmeldung zu versammeln. Hier sollte der Bearbeiter ausführen, dass die Anmeldepflicht aus § 14 VersG den legitimen Zweck verfolgt, die Sicherheit der Versammlungsteilnehmer zu garantieren und die Belastung Dritter etwa durch Verkehrsregelungen zu mindern. Sie kann im Einzelfall (etwa bei Eil- oder Spontanversammlungen) verfassungskonform ausgelegt werden. Nach Ansicht des BVerfG ist § 14 VersG ebenso verfassungsgemäß wie § 26 VersG. Insbesondere ist die Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG auf den Veranstalter und den Leiter der nicht angemeldeten Versammlung beschränkt, die bloße Teilnahme ist nicht mit Strafe bedroht.
(Anm: Im Rahmen einer Urteilsbeschwerde kann es erforderlich sein, auf der Normebene bereits die Vereinbarkeit mit anderen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten zu prüfen, da es um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes insgesamt geht. Im vorliegenden Fall betreffen die Fragen der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG und dem Schuldprinzip allerdings die Auslegung im Einzelfall, nicht die Norm selbst, sodass die Prüfung getrennt erfolgt.)
Das Urteil des Amtsgerichts (Einzelaktsprüfung!) müsste im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG verfassungskonform sein.
Ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 GG könnte vorliegen, wenn im Fall keine Anmeldepflicht bestand, weil es sich um eine Spontanversammlung handelte. Für solche Versammlungen, die ungeplant und ohne Veranstalter stattfinden, ist in verfassungskonformer Auslegung eine Ausnahme von der Anmeldepflicht zu machen. Indes war die Versammlung auf der Brücke angesichts der vorangegangenen Planung (Anreise, Organisation von Kletterausrüstung, Information der Presse) ersichtlich nicht spontan, sodass die Ausnahme nicht greift.
Art. 8 Abs. 1 GG könnte verletzt sein, weil § 26 Abs. 2 VersG eine Strafbarkeit nur des „Leiters“ der Versammlung vorsieht. Hierbei könnte es sich ausschließlich um den in der Anmeldung gem. § 14 Abs. 2 VersG bezeichneten Leiter handeln. Die vorliegende Versammlung war nicht angemeldet, sodass A auch nicht der angegebene Leiter sein konnte.
Nach Auffassung der Rechtsprechung soll Leiter jedoch der sein, „der persönlich bei der Veranstaltung anwesend sei, die Ordnung der Versammlung handhabe und den äußeren Gang der Veranstaltung bestimme, insbesondere die Versammlung eröffne, unterbreche und schließe“ (vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1978, 118).
Das BVerfG führt aus:

„Im Gegenteil legt es der Wortlaut des § 26 Nr. 2 VersammlG nahe, als Leiter im Sinne der Bestimmung auch denjenigen anzusehen, der die Rolle des Versammlungsleiters tatsächlich ausfüllt. Denn die Norm begründet ausdrücklich eine Strafbarkeit nicht nur des Veranstalters, sondern auch des Leiters von Versammlungen oder Aufzügen, die ohne die erforderliche Anmeldung durchgeführt werden.“

„Denn eine solche Auslegung ist geeignet, einer Umgehung des Erfordernisses einer Anmeldung unter Benennung eines Versammlungsleiters entgegenzuwirken, die ansonsten nur gegenüber dem Veranstalter – der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht ohne weiteres festgestellt werden kann – sanktioniert werden könnte. Sie verwirklicht somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken (…).“

A kontrollierte die Versammlung durch seine Anweisungen und beendete sie auch. Er nahm die Position eines faktischen Leiters ein. Eine Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nachdem nur der strafrechtlich sanktioniert werden könnte, der in einer Anmeldung nach § 14 Abs. 2 VersG als Leiter angegeben wurde, ließe die Norm faktisch ins Leere laufen, da es bei einer unangemeldeten Versammlung nie einen Leiter geben könnte. Mithin ist die Auslegung des Gerichts, nach der auch der faktische Leiter von § 26 Abs. 2 VersG erfasst ist, mit Art. 8 Abs. 1 GG vereinbar, insbesondere verhältnismäßig.
(Anm: Die Verhältnismäßigkeit ist vom Bearbeiter selbstverständlich im bekannten Schema Legitimer Zweck – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit zu prüfen).
A ist durch das Urteil nicht in seiner Versammlungsfreiheit verletzt.
2. Die Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nach der auch der faktische Leiter erfasst sein soll, könnte gegen das strafrechtliche Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.

BVerfG: „Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein striktes Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie.“

Nach Ansicht des BVerfG schließe der Begriff es zwar aus, die bloße Teilnahme zu bestrafen, der Begriff des Leiters unterliege aber einem Auslegungsspielraum (siehe dazu bereits die Argumentation oben). Aus § 14 Abs. 2 VersG könne nicht entnommen werden, dass nur der in der Anmeldung genannte Leiter von der Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG erfasst sein soll, da vorgenannte Norm nur die Anforderungen einer ordnungsgemäßen Anmeldung regle. Die Wortlautgrenze ist nicht überschritten, das Analogieverbot ist nicht verletzt.
3. Die Auslegung könnte gegen das Schuldprinzip verstoßen, weil dem faktischen Leiter die unterbliebene Anmeldung (die dem Veranstalter, nicht dem Leiter obliegt) nicht zur Last gelegt werden kann. Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ ist als Verfassungsprinzip anerkannt. Er besagt, dass Handeln nur bestraft werden kann, wenn es vorwerfbar ist. Der Grundsatz hat keinen Niederschlag im Wortlaut des Grundgesetzes gefunden, wird vom BVerfG aber aus einem Zusammenspiel von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet (siehe Adam/Schmidt/Schumacher, NStZ 2017, 7 ff.; BVerfG, NvwZ 2003, 1504 m.w.N.). Indes sanktioniert § 26 Abs. 2 VersG nicht die unterbliebene Anmeldung, sondern die Durchführung der nicht angemeldeten Versammlung. Wer in leitender Funktion tätig wird, führt aber die Versammlung gleichwohl durch. Dazu das BVerfG:

„Insoweit steht es jedoch jedem Teilnehmer einer Versammlung frei, an dieser nicht in leitender Funktion mitzuwirken und sie so nicht selbst durchzuführen. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip ist insoweit nicht ersichtlich.“

A ist nicht in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
 
III. Ausblick
Fragen zum Versammlungsrecht sind häufiger Prüfungsgegenstand öffentlich-rechtlicher Klausuren. Sie können in Gestalt einer Grundrechtsklausur oder verbunden mit Fragen des Polizeirechts auftauchen. Die Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde anhand einer Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG dürfte eher ungewöhnlich sein, bietet sich aber gerade deswegen besonders für zukünftige Klausuren an. Es gilt, sich nicht von der unbekannten Norm verunsichern zu lassen, und anhand der bekannten Schemata eine vertretbare Lösung zu erarbeiten. Insbesondere bei der verschachtelten Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde sollte dabei darauf geachtet werden, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und des Urteils getrennt zu prüfen.

28.08.2019/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2019-08-28 08:45:212019-08-28 08:45:21BVerfG zur Versammlungsfreiheit: Strafrechtliche Verurteilung eines nur „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungsgemäß
Lukas Knappe

BVerfG: Identitätskontrolle im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde

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Der Grundrechtsschutz durch das BVerfG kann sich im Einzelfall auch auf unionsrechtlich determinierte Hoheitsakte erstrecken, wenn dies zur Wahrung der durch Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Verfassungsidentität unabdingbar geboten ist. Dies hat das BVerfG mit Beschluss vom 15.12.2015 (2 BvR 2735/14) im Hinblick auf das im Menschenwürdekern grundgesetzlich verankerte Schuldprinzip entschieden. Der hier vorgestellte Beschluss ist von besonderer Brisanz, da das BVerfG die Vereinbarkeit eines unionsrechtlich determinierten Hoheitsaktes mit deutschen Grundrechten überprüft und sich dabei aktiv auf das Recht zur Identitätskontrolle beruft. Es stellen sich somit nicht nur interessante grundrechtliche Fragestellungen, sondern vor allem Rechtsfragen des Mehrebenensystems. Im Kern geht es um das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht, die Prüfungskompetenz des BVerfG sowie dessen Verhältnis zu den europäischen Gerichten.

A. Sachverhalt
Gegenstand des Beschlusses ist die Verfassungsbeschwerde eines Staatsangehörigen der Vereinigten Staaten von Amerika, der sich gegen die vom Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte Auslieferung nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls richtet. Der Beschwerdeführer war im Jahr 1992 von einem italienischen Gericht in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Im Jahre 2014 wurde er auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland festgenommen. Im Auslieferungsverfahren machte er jedoch geltend, dass er in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden sei. Darüber hinaus trug er vor, dass er in dem nach italienischem Recht eröffneten Berufungsverfahren keine erneute Beweisaufnahme erwirken könne, da dieses Verfahren lediglich eine eingeschränkte richterliche Prüfungskompetenz vorsehe. Darin sei insbesondere eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör zu sehen.

B. Entscheidung des BVerfG

1. Prüfungskompetenz des BVerfG
Zunächst stellt sich die Frage, ob das BVerfG überhaupt dazu berechtigt ist, die Grundrechtskonformität des Akts der deutschen öffentlichen Gewalt zu überprüfen, da der Hoheitsakt auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls erfolgte und somit unionsrechtlich determiniert war.

a) Grundsatz: Anwendungsvorrang des Unionsrecht
Grundsätzlich sind Hoheitsakte der EU sowie durch das Unionsrecht determinierte Akte der deutschen öffentlichen Gewalt aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht am Maßstab der deutschen Grundrechte zu prüfen.

Nach dem Grundsatz vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts setzt sich das Unionsrecht nämlich grundsätzlich uneingeschränkt gegenüber jedem nationalen Recht durch. Die Unionsrechtsordnung genießt somit im Grundsatz Vorrang gegenüber dem nationalen Recht. Innerstaatliche Organe haben daher gemeinhin die Pflicht, Unionsrecht ohne Rücksicht auf das innerstaatliche Recht anzuwenden und die nationale Rechtsordnung insoweit außer Acht zu lassen. Dieses Primat des Unionsrechts hat der EuGH grundlegend in seinem Urteil im Fall Costa/ENEL begründet und insbesondere aus der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung hergeleitet (Vgl. ausführlich zur Begründung durch den EuGH: Streinz, Europarecht, Rn. 214 ff.).

Das BVerfG begründet den Anwendungsvorrang aus dem Blickwinkel des nationalen Rechts in seiner bisherigen Rechtsprechung dagegen aus der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 I 2 GG. Daran anknüpfend betont es in dem hier vorgestellten Beschluss:

Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz … die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 129, 78 (100)) und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit (vgl. BVerfGE 126, 286 (301)). Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union vollziehen.

b) Schranken der Integrationsermächtigung
Im Zusammenhang mit der Begründung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts aus der Ermächtigung des Art. 23 I 2 GG bildet Art. 79 III GG jedoch eine absolute Verfassungsschranke für die grundgesetzliche Integrationsermächtigung. Die vom GG für integrationsfest erklärten Grundsätze der Verfassung bilden damit eine Grenze für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts:

Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge (vgl. BVerfGE 113, 273 (296); 123, 267 (348); 134, 366 (384)). Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte (vgl. BVerfGE 134, 366 (384)).

c) Identitätskontrolle durch das BVerfG
Die Überprüfung der Wahrung dieser wesentlichen Elemente deutscher Staatlichkeit erfolgt mittels der durch das BVerfG vorgenommenen „Identitätskontrolle“. Diese kann im Ergebnis dazu führen, dass im Fall einer Verletzung des Art. 79 III GG, das Unionsrecht in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Hinsichtlich der Identitätskontrolle besteht allerdings ein Monopol zugunsten des BVerfG: Die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität durch Unionsrecht darf ausschließlich durch das BVerfG getroffen werden. Dieses Verwerfungsmonopol wird insbesondere mit dem Schutz der Funktionsfähigkeit der Unionsrechtsordnung sowie den in Art. 100 Abs. 1 und 2 GG zugrundeliegenden Rechtsgedanken begründet.

Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt werden … . Diese Prüfung kann … im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt … . Dies wird auch durch die Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen … . Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) befasst werden… .

Nach Auffassung des BVerfG verstößt die Identitätskontrolle nicht gegen den in Art. 4 III EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, sondern ist vielmehr in Art. 4 II 1 EUV angelegt. Da die europäische Union als Staatenverbund seine Grundlage in völkerrechtlichen Verträgen souveräner Einzelstaaten habe, seien die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“ und daher dazu berechtigt, durch nationale Geltungsanordnungen darüber zu entscheiden, ob und inwieweit das Unionsrecht im jeweiligen Mitgliedstaat Geltung und Vorrang beanspruchen kann. Eine Gefährdung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts durch die Befugnis des BVerfG zu Identitätskontrolle könne sei nicht anzunehmen, da grundsätzlich Art. 6 EUV, die Charta der Grundrechte sowie die Rechtsprechung des EuGH in der Regel einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union gewährleisten würden und das BVerfG die ihm darüber hinausgehenden verbleibenden Kontrollbefugnisse hinaus zuzurückhaltend und europarechtsfreundlich ausübe.

2. Verletzung von Art. 23, 79 III, 1 I GG
Durch den Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ohne eine umfassende Ermittlung des Sachverhalts sowie die unzureichende Prüfung, ob bei einer Auslieferung die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindestgarantie zur Verwirklichung des materiellen Schulprinzips gewährleistet sind, ist nach Ansicht des BVerfG das in Art. 1 I GG verankerte Schuldprinzip verletzt. Im Folgenden sollen die Argumentationslinien des BVerfG grob nachgezeichnet werden:

a) Der in Art. 1 I GG verankerte Schuldgrundsatz und die damit verbundenen Mindestgarantien
Den das gesamte Strafrecht prägende Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (= Schuldgrundsatz) hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung zu einem grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzip erklärt und daraus zugleich wichtige Maßstäbe für die Bereiche des Strafrechts und des Strafens abgeleitet. Als verfassungsrechtliche Verankerung für den Schuldgrundsatz, zieht das BVerfG seither die Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 I GG) sowie das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) heran so dass dieser zur unverfügbaren Verfassungsidentität im Sinne des Art. 79 III zu zählen ist.

In seinem Beschluss aus dem Dezember 2015 stellt das BVerfG an zentraler Stelle fest, dass der Schuldgrundsatz Mindestgarantien für die Art und Weise der Feststellung der Schuld und somit den Strafprozess aufstelle: Der Verwirklichung des Schuldprinzips diene gerade das zentrale Ziel des Strafprozesses, die Ermittlung des wahren Sachverhalts. Da mit dem Strafausspruch des Strafverfahrens nicht nur ein belastender Rechtseingriff verbunden sei, sondern auch ein sozial-ethischer Vorwurf gemacht werde, der den in Art. 1 I GG verankerten grundlegenden menschlichen Wert- und Achtungsanspruch des Betroffenen berühre und eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten voraussetze, verlange das Schuldprinzip gerade eine Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit. Daraus folge zugleich, dass eine Strafe, die die Persönlichkeit des Täters nicht umfassend berücksichtige, keine der Würde des Angeklagten angemessene Strafe sein könne. Zur Sicherstellung einer angemessenen Strafe sei es vielmehr erforderlich, dass das Gericht in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände erhalte.

b) Pflicht zur Beachtung des Art. 1 I GG auch bei Auslieferungen
Diese durch das in Art. 1 I GG verankerte Schuldprinzip gewährleisteten Mindestgarantien sind nach ständiger Rechtsprechung auch bei der Entscheidung über die Auslieferung zur Vollstreckung von in Abwesenheit ergangener Urteile zu beachten. An diese Rechtsprechung anknüpfend erklärt das BVerfG daher eine Auslieferung für unzulässig, wenn der Betroffene weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Strafverfahrens unterrichtet worden ist noch die tatsächliche Möglichkeit hatte, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und effektiv zu verteidigen.

Die Träger deutscher Hoheitsgewalt trifft insoweit nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Gewährleistungsverantwortung. Diese verbietet es ihnen, sehenden Auges die Verletzung der Menschenwürde durch andere Staaten zuzulassen. Um es mit den Worten des BVerfG zu sagen: „Die deutsche Hoheitsgewalt darf nicht die Hand zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen“. Vor dem Hintergrund dieser Verantwortung seien die Gerichte zu einer Aufklärung und Prüfung verpflichtet. Dabei dürfe zwar anderen EU-Mitgliedstaaten aufgrund des Bekenntnisses der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu den in Art. 2 AEUV verankerten Grundwerten (Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören) sowie der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gewährleistungen der Charta der Grundrechte, grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegengebracht werden, dieses sei allerdings durch die Geltendmachung gegenteiliger tatsächlicher Anhaltspunkte auch erschütterbar.

c) Pflicht zur Prüfung trotz des Vorrangs des Unionsrechts
Im Hinblick auf diese Prüfungspflicht erweist sich jedoch als Problem, dass dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl nach Ansicht des BVerfG ein Anwendungsvorrang zukommt und die nationalen Justizbehörden die Vollstreckung nur in den im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fällen ablehnen dürfen.

Das europäische Recht sehe – so die Erwägung des BVerfG – gerade nicht vor, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls von der Bedingung abhängig gemacht werden könne, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden kann. Vielmehr sei im 10. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses bloß vorgesehen, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur dann ausgesetzt werden dürfe, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliege und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV festgestellt worden sei. Darüber hinaus betont das BVerfG, dass der EuGH in der Rechtssache Melloni zudem im Hinblick auf Art. 4a RbEuHb entschieden habe, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden dürfe, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden könne wenn der Betroffene einer der vier in dieser Bestimmung aufgeführten Fallgestaltungen unterfalle.

Vor dem Hintergrund der oben dargestellten verbindlichen grundgesetzlichen Vorgaben kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die deutschen Behörden und Gerichte aufgrund der Schranke der Art. 23 GG iVm. Art. 79 III GG trotz des Unionsrechts verpflichtet seien, sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitgliedstaat beachtet werden.

d) Möglichkeit der Auslegung des Unionsrechts unter Berücksichtigung der Maßgaben des Art. 1 I GG
In Anbetracht dieser Aussagen könnte man geneigt sein, dem BVerfG im vorliegenden Fall eine Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unter Rückgriff auf Art. 79 III iVm. Art. 1 I GG zu attestieren. Dem ist jedoch nicht so. Vielmehr kommt der Senat einschränkend zu seinen bisherigen Erwägungen zu dem Ergebnis, dass sowohl der Rahmenbeschluss als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationalen Rechtshilfe in Strafsachen eine Auslegung zulassen, die den von Art. 1 I GG geforderten Mindestgarantien Rechnung trage. Das BVerfG zündet somit, anders als bereits an anderen Stellen fälschlicherweise behauptet wurde, die „Identitätskontrollbombe“ gerade nicht (so aber: Maximilian Steinbeis, der sich mittlerweile jedoch selbst korrigiert hat), sondern drückt stattdessen sprichwörtlich gesehen in letzter Sekunde doch nicht auf den Auslöser. Der Pfad der Identitätskontrolle wird folglich lediglich eingeschlagen, aber nicht zu Ende beschritten:

Einer unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründeten Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zukommenden Anwendungsvorrangs bedarf es im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht, weil sowohl der Rahmenbeschluss selbst (a) als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (b) eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt.

Das BVerfG kommt vielmehr zu dem Ergebnis, dass die Pflicht, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, schon unionsrechtlich begrenzt sei:

  • Diesem sei nämlich nicht Folge zu leisten, wenn er den Anforderungen des Rahmenbeschlusses nicht genüge.  Der Rahmenbeschluss sehe in diesem Sinne in Art. 4a I 1 vor, dass die Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern könne, wenn nicht bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Das BVerfG geht davon aus, dass Art. 4a I 1 Buchstabe d (i) des Rahmenbeschlusses so zu verstehen ist, dass er ein Verfahren vorschreibt, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden „kann“. Nach Ansicht des BVerfG wird dem mit der Sache befassten Gericht durch das Wort „kann“ somit kein Ermessen eingeräumt. Vielmehr diene das Wort allein zurKennzeichnung der Befugnisse des Gerichts und müsse daher als „in der Lage ist“ zu interpretiert werde.
  • Als ein weiteres Indiz für die unionsrechtliche Einschränkbarkeit der Pflicht zur Befolgung des Europäischen Haftbefehls deutet das BVerfG die in Art. 1 III des Rahmenbeschlusses ausdrücklich normierte Pflicht, die Grundrechte sowie die in Art. 6 EUV niedergelegten allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten.
  • Auch die Ausstrahlungswirkung der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte sprechen nach Auffassung des BVerfG für die dargestellte Auslegung des Unionsrechts. Die in diesen  Grundrechtskatalogen verbürgten Gewährleistungen stünden im Hinblick auf Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsverurteilungen dem deutschen Grundgesetz nicht nach. Vielmehr würde das durch die EMRK und Grundrechte-Charta auch ein Recht auf ein faires Strafverfahren ebenfalls verlangen, dass das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten höre und prozessrechtlich in der Lage sei, die diesem zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen.

Die nationalen Justizbehörden sind nach Auffassung des BVerfG daher nicht nur im Hinblick auf die Vorgaben des Grundgesetzes, sondern schon unter dem Blickwinkel des Unionsrechts bei entsprechenden Anhaltspunkte dazu verpflichtet, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen. Vor diesem Hintergrund bleibe das Unionsrecht nicht hinter den Anforderungen des Art. 1 I GG zurück und es bestehe somit keine Notwendigkeit den Anwendungsvorrang zu begrenzen.

e) Verletzung der Vorgaben durch das OLG
Sodann setzt sich BVerfG mit der konkreten Entscheidung des OLG Düsseldorf auseinander. Dieses habe die Bedeutung und Tragweite des Art. 1 I GG dadurch verkannt, dass der Beschwerdeführer substantiiert dargelegt habe, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit einer erneuten Beweisaufnahme im Berufungsverfahren eröffne und das OLG diesem Vortrag nicht in ausreichendem Maße nachgegangen sei. Es habe sich stattdessen schon damit zufriedengegeben, dass eine erneute Beweisaufnahme in Italien „jedenfalls nicht ausgeschlossen sei“ und damit nicht sichergestellt, dass die durch Art. 1 I GG gewährleisteten Mindestrechte gewahrt sind. Da der Betroffene substantiiert und plausibel konkrete Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 I GG geschützten Mindeststandards vorgetragen habe, hätte das Gericht die Pflicht gehabt, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und Praxis im ersuchenden Staat vorzunehmen.

3. Verzicht auf Vorlage an den EuGH
Zuletzt thematisiert das BVerfG noch, ob gemäß Art. 267 AEUV eine Vorlage an den EuGH notwendig gewesen wäre. Für das BVerfG ist die Sache hier jedoch trotz der oben erwähnten Melloni-Entscheidung des EuGH eindeutig: Bei der Rechtslage handle es sich um eine „acte claire“, bei der die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offensichtlich sei, dass für vernünftige Zweifel keine Spielräume bleiben, so dass eine Vorlage nicht geboten sei.

Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt („acte clair“, vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 …) Das Unionsrecht gerät mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall nicht in Konflikt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, wie dargelegt, deutsche Gerichte und Behörden nicht, einen Europäischen Haftbefehl ohne Prüfung auf seine Vereinbarkeit mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen zu vollstrecken. Dass die Grenzen der Ermittlungspflicht, insbesondere mit Blick auf den Umfang der nach Unionsrecht zulässigen Ermittlungen und der hiermit verbundenen Verzögerungen beim Vollzug des Haftbefehls in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht geklärt sind, ändert daran nichts. Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall ist kein Anhaltspunkt erkennbar, dass Unionsrecht einer Pflicht des Oberlandesgerichts, die Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers eingehender zu prüfen, entgegenstand.

C. Schlussbetrachtung

Entgegen anders lautender erster Einschätzungen befindet sich das BVerfG nicht insoweit auf einem Konfrontationskurs, als dass es sich auf das Recht zur Identitätskontrolle beruft. Im Ergebnis nimmt das BVerfG in dem Beschluss gerade keine Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unter Rückgriff auf Art. 79 III iVm. Art. 1 I GG vor und ruft daher für den Europäischen Haftbefehl die nationalen Behörden auch nicht zum Europarechtsbruch auf. Solange das Unionsrecht nicht hinter dem Kernbestand der deutschen Verfassungsidentität zurückbleibt, ist auch sein Anwendungsvorrang nicht eingeschränkt.

Allerdings gelingt dies dem BVerfG hier nur, in dem es zu dem Ergebnis kommt, dass bereits das Unionsrecht eine Auslegung vorsehe und zulasse, die den Mindestanforderungen des Art. 1 I GG genüge.   Das BVerfG nimmt in dieser Hinsicht in bemerkenswerter Weise eine umfangreiche Auslegung des Unionsrechts vor. Zugleich verzichtet es aber im Sinne der „acte claire – Doktrin“ auf eine Vorlage an den EuGH. Dies wird jedoch in ersten Reaktionen angesichts der vom BVerfG zitierten Melloni-Entscheidung des EuGH kritisiert. Ob es einer Vorlage bedurft hätte ist zweifelhaft. Jedenfalls bleibt zu beachten, dass sich die Melloni-Entscheidung vor allem mit Art. 4a I lit. a und b des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auseinandersetzt, während es hier dagegen um Art. 4 a I lit. d geht. Da sich das BVerfG zudem intensiv mit dem durch die Grundrechte-Charta sowie der EMRK verbürgten europäischen Grundrechtsschutz auseinandersetzt und wohl von einem vergleichbaren Schutzstandard der durch die Menschenwürde verbürgten Mindestgarantien ausgeht, erscheint der Verzicht aus der Perspektive des BVerfG nachvollziehbar. Im Hinblick auf den argumentativen Aufwand den das BVerfG betreibt und sowie die Fragen, nach der Reichweite des europäischen Grundrechtsschutzes und dessen Weiterentwicklung, erscheint die Rechtslage allerdings vielleicht doch nicht ganz so klar.

Für Examenskandidaten eignet sich die Entscheidung vor allem zur Wiederholung des Verhältnisses von nationalem Recht und Unionsrecht sowie der Prüfungskompetenz des BVerfG. Darüber hinaus sollte auch der durch Art. 1 I GG gewährleistete Schuldgrundsatz und dessen Ausprägungen in Grundzügen bekannt sein.

10.02.2016/3 Kommentare/von Lukas Knappe
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Lukas Knappe https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Lukas Knappe2016-02-10 14:48:592016-02-10 14:48:59BVerfG: Identitätskontrolle im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde

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