BGH, Urteil v. 26.04.1960 – 5 StR 77/60 (= BGHSt 14, 193 f. = NJW 1960, 1261)
Ein vollendeter Mord oder Totschlag kann auch dann vorliegen, wenn der Täter das Opfer mit bedingtem Tötungsvorsatz angreift, später die vermeintliche Leiche beseitigt und erst dadurch den Tod verursacht, ohne dabei noch an diese Möglichkeit zu denken.
1. Der Sachverhalt
Die Angeklagte A hatte sich mit Frau B ein Wortgefecht geliefert. In der Folge begann sie die B zu würgen. Sodann stopfte sie der B mit bedingtem Tötungsvorsatz zwei Hände voll Sand in den Mund, um sie am Schreien zu hindern. Als Frau B schließlich regungslos dalag, wurde sie von der A für tot gehalten; tatsächlich war die B lediglich bewusstlos. Um die vermeintliche Leiche zu beseitigen, schmiss A die B in eine Jauchegrube. Erst dort verstarb sie infolge Ertrinkens.
2. Die Kernfrage
Die Vorinstanz, das Schwurgericht Oldenburg, hatte die A wegen vollendeten Totschlags verurteilt. Hiergegen hat sich A u.a. mit der Sachrüge gewehrt. Argumentieren könnte man insoweit, dass allenfalls eine versuchte Tötung zu Lasten der B in Betracht komme, da die A mit der von bedingtem Tötungsvorsatz getragenen Handlung, nämlich dem Stopfen des Sandes in den Mund der B, den tatbestandlichen Erfolg gerade noch nicht erreicht hatte. Dieser trat vielmehr erst zu einem späteren Zeitpunkt ein, nachdem A die B in die Jauchegrube geworfen hatte, wobei sie die B aber schon für tot hielt, so dass bezüglich dieses Aktes eine vorsätzliche Tötung ausscheiden würde.
3. Das sagt der BGH
Der BGH hat die Entscheidung des Schwurgerichts bestätigt, also ebenfalls eine Strafbarkeit der A wegen vollendeten Totschlags angenommen.
a) Zunächst erteilt er allerdings einer möglichen Begründung der Vorinstanz eine Absage, die in ihren Urteilsgründen noch argumentiert hatte, dass „ein die ganze Tat durchziehender Generaldolus“ vorliege, da der bedingte Tötungsvorsatz der A ihr gesamtes Vorgehen beherrscht habe, „beginnend mit der Verhinderung des Schreiens der Gewürgten und endend mit der Versenkung ihres Opfers in die Jauchegrube“. Der BGH führt hiergegen aus:
Es wäre unrichtig, wenn das Schwurgericht hiermit sagen wollte, die Angeklagte habe noch beim Beseitigen der bewusstlosen Frau B, von deren Tode sie fest überzeugt war (UA S.15), mit einem fortwirkenden bedingten Tötungsvorsatz gehandelt. Dieser war vielmehr durch jene Überzeugung der Angeklagten erledigt. Daran kann der unklare und rechtsgeschichtlich überholte Begriff eines „Generalvorsatzes“ nichts ändern. Es geht nicht an, mit seiner Hilfe den ursprünglichen Tötungsvorsatz auf spätere Handlungen auszudehnen, bei denen er tatsächlich nicht mehr bestand (vgl. Hellmuth Mayer, JZ 1956, 109).
b) Somit kann nicht an das unmittelbar zum Tode führende Werfen der B in die Jauchegrube als vorsätzliche Tötungshandlung angeknüpft werden. Jedoch sieht der BGH bereits in dem Stopfen des Sandes in den Mund des Opfers, welches zu deren Ohnmacht und damit Wehrlosigkeit führte, einen tauglichen Anknüpfungspunkt für den Vorwurf des Totschlags gegenüber A:
Selbst wenn ein solcher Fehler in der rechtlichen Begründung des Schuldspruchs läge, träfe dieser bei dem festgestellten Sachverhalt zu. Wie das Schwurgericht rechtlich einwandfrei darlegt (UA S.14), hatte die Angeklagte den bedingten Tötungsvorsatz, als sie Frau B zwei Hände voll Sand in den Mund stopfte, um sie am Schreien zu hindern. Dadurch verursachte sie den Tod zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar. Denn die Folge war, daß Frau B schließlich regungslos dalag, von der Angeklagten für tot gehalten und deshalb von ihr in die Jauchegrube geworfen wurde. Zu diesem Vorgange, der den Tod unmittelbar bewirkte, wäre es ohne die früheren Handlungen, die die Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführt hatte, nicht gekommen. Diese sind daher Ursache des Todes. Die Angeklagte hat ihn also mit bedingtem Vorsatz herbeigeführt.
Dass der Tod der B dabei nicht in der von A vorgestellten Weise, nämlich durch das Ersticken am Sand, sondern erst durch das spätere Ertrinken in der Jauchegrube eingetreten ist, stellt zwar – als Abweichung vom vorgestellten Tatgeschehen – einen Irrtum über den (grundsätzlich vorsatzrelevanten) Kausalverlauf dar, der allerdings nach dem BGH im konkreten Fall als so unwesentlich angesehen werden kann, dass er nicht zu einem vorsatzausschließenden Irrtum i.S.d. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB führt:
Diese Abweichung des wirklichen vom vorgestellten Ursachenablauf ist aber nur gering und rechtlich ohne Bedeutung. Das ist für Fälle des direkten Tötungsvorsatzes schon wiederholt entschieden worden (…). Daß die Angeklagte bei ihrem Angriff nur mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hatte, ist jedenfalls im vorliegenden Falle kein Grund, etwas anderes anzunehmen. Denn der Unterschied zwischen beiden Arten des Vorsatzes hat mit der Ursächlichkeit nichts zu tun. Er ändert auch nichts daran, daß das Maß, in dem der wirkliche Ursachenablauf von der Vorstellung der Angeklagten abwich, gering und daher rechtlich bedeutungslos ist.
4. Fazit
Der Jauchegruben-Fall ist ein Klassiker zu der Konstellation eines irrtümlich verspätet eingetretenen Taterfolgs und begegnet einem bereits sehr früh im Studium, ohne dass dies seine Bedeutung für die spätere Examensphase schmälern würde.
a) Hierbei ist zum Aufbau in der Klausur zunächst zu bemerken, dass es regelmäßig sinnvoll ist, bei einem mehraktigen Tötungsgeschehen zunächst bei dem unmittelbar den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführenden Verhalten, vorliegend also dem Werfen des Opfers in die Jauchegrube, anzusetzen: Während hier der objektive Tatbestand keine Probleme bereitet, ist dann aber bei der Frage des Vorsatzes, also im subjektiven Tatbestand, Schluss. Der Vorsatz muss sich nämlich, wie § 16 Abs. 1 S. 1 StGB lehrt, auf die „Tat“ beziehen, die gemäß § 8 S. 1 StGB nicht mit dem Erfolg, sondern der Handlung des Täters (bzw. dessen Unterlassen im Falle eines Unterlassungsdelikts) gleich gesetzt wird. Bei dem hier relevanten Verhalten, dem Werfen in die Jauchegrube, hatte die A aber, wie der BGH treffend feststellt, keinen Vorsatz zur Tötung mehr; zwar mag ihr das angenommene Ergebnis (Tod der B) auch zu diesem Zeitpunkt noch recht gewesen sein, jedoch nahm sie jedenfalls nicht an, den tatbestandlichen Erfolg mit ihrem Verhalten erst noch auszulösen, also, in Anlehnung an die Formulierung des einschlägigen § 212 Abs. 1 StGB, hiermit noch einen Menschen zu töten. Die Annahme eines „Generalvorsatzes“ geht daher fehl.
b) Beim sodann in den Blick zu nehmenden ersten Teilakt des Geschehens, also dem Stopfen des Sandes in den Mund des Opfers, ist demgegenüber von der subjektiven Tatseite her ein Tötungsvorsatz durchaus konstruierbar: Wie das Gericht selbst feststellte, ist die Abweichung des eingetretenen vom vorgestellten Tod insoweit unwesentlich und damit irrelevant, als dass dieser in einer zeitlichen und räumlichen Nähe zum von A vorgestellten Todeszeitpunkt eingetreten ist und auch die Todesart (= Ersticken) den Vorstellungen entsprach, welche die Täterin gehegt haben mag. Demgegenüber wollen in der Literatur allerdings verschiedene Stimmen im Fall des verspätet eingetretenen Erfolgs zusätzlich darauf abstellen, ob der Täter bereits bei der Vornahme des ersten Teilaktes auch schon die anschließende „eigentliche“ Tötungshandlung, hier also das Werfen des Opfers in die Jauchegrube, eingeplant hatte (vgl. SK-Rudolphi, 7. Aufl., § 16, Rn 35 f.; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben, 28. Aufl. 2010, § 15, Rn. 58) – ein solches Erfordernis erscheint allerdings insofern dogmatisch „schief“, als sich der Vorsatz grundsätzlich nur auf die Elemente des objektiven Tatbestandes beziehen muss, im Hinblick auf das Verhalten des Täters also nur auf die im Obersatz angegebene Tathandlung, die im konkreten Fall aber allein aus dem (vom Tötungsvorsatz tatsächlich getragenen) ersten Teilakt bestehen kann.
c) Will man daher die Tatsache, dass die Tötung erst durch einen der Vorsatzhandlung nachfolgenden zweiten Akt herbeigeführt wurde, bei der Lösungsfindung mit berücksichtigen, empfiehlt es sich, die Relevanz des zweiten Teilaktes nicht erst im subjektiven Tatbestand zu problematisieren, sondern bereits bei der objektiven Tatseite anzusetzen und dort zu fragen, ob A mit ihrer ersten Handlung tatsächlich bereits die „Tötung eines Menschen“ vorgenommen hat oder dieser Erfolg nicht erst (und allein) dem zweiten Teilakt zugeschrieben werden kann. Der BGH stellt insoweit nur fest, dass zwischen der vorsatzgetragenen Handlung der A und dem eingetretenen Tod der B Kausalität besteht, wenn er ausführt, dass die frühere Handlung „Ursache des Todes“ gewesen sei. Und tatsächlich wäre ohne die Bewusstlosigkeit der B ihr Ertrinken in der Jauchegrube ja auch kaum eingetreten – schon deswegen, weil die A sie dann nicht für Tod gehalten und eine entsprechende Beseitigungshandlung unterlassen hätte. Nach der neueren Lehre von der „objektiven Zurechnung“ kann es bei dieser bloßen Feststellung der Ursächlichkeit allerdings nicht sein Bewenden haben, vielmehr ist zu fragen, ob die A – darüber hinaus – bereits mit der „Sandattacke“ auch das relevante Todesrisiko gesetzt hat, welches sich sodann im konkreten Erfolg verwirklicht hat; der Fall, dass der Täter erst später (nämlich durch eine unvorsätzliche Beseitigungshandlung) zum Tod des Opfers beiträgt, ist danach nicht anders zu behandeln als Fälle des Dazwischentretens Dritter, welche durch ihr Verhalten erst den schlussendlich eingetretenen Erfolg herbeiführen (so zutreffend MüKo/StGB-Joecks, 2. Aufl. 2011, § 16, Rn. 91 ff.). Bei der Frage, ob unter diesem Gesichtspunkt bezüglich des ersten Teilaktes noch ein Zurechnungszusammenhang mit der tödlichen Folge bejaht werden kann, ist sodann aber ein breiter Argumentationsspielraum eröffnet, den man in der Klausur dazu nutzen kann, um das einem selbst „richtig“ erscheinende Ergebnis zu begründen: Soweit man den Zurechnungszusammenhang zwischen dem erstem Teilakt und anschließendem Tod des Opfers eher restriktiv versteht, müsste man darauf abstellen, ob gerade der Sand im Mund der B zu deren Ableben geführt, also sich dass insofern gesetzte „Erstickungsrisiko“ im Erfolg verwirklicht hat – dies wäre vorliegend aber zu verneinen, da nicht der Sand, sondern erst die Jauche dazu führte, dass das Opfer keine Luft mehr bekam und ertrank (vgl. zu einem solchen Verständnis etwa Kindhäuser, AT, 5. Aufl. 2011, § 27/52). Verfährt man hingegen etwas großzügiger, könnte man ebenfalls argumentieren, dass B gerade aufgrund ihrer Bewusstlosigkeit, die wiederum unmittelbar durch den von A zugeführten Sand verursacht wurde, sich weder aus eigener Kraft gegen das Verbringen in die Jauchegrube wehren, noch aus dieser befreien konnte, so dass die erste Tathandlung nicht nur unter Kausalitätsgesichtspunkten den Tod bedingt hat, sondern – bei wertender Betrachtung – auch ein Todesrisiko hervorrief, welches sich im anschließenden Versterben der B verwirklichte (so z.B. Wessels/Beulke, 32. Aufl. 2002, Rn. 262; vgl. auch NK-Puppe, 3. Aufl. 2010, § 16 Rn. 81 f.).
d) Ähnliche Probleme stellen sich übrigens auch im umgekehrten Fall, nämlich wenn der Täter den von ihm gewollten Erfolg entgegen seiner Vorstellung nicht durch den eigentlich geplanten Tötungsakt, sondern bereits vorzeitig herbeiführt. Beispielhaft hierfür wäre etwa der Sachverhalt, der einem Urteil des BGH v. 10.04.2002 (5 StR 613/01 = NStZ 2002, 475 f.) zugrunde liegt: Hier hatten die Täter das Opfer zunächst mit Schlägen, die es wehrlos machen sollten, traktiert, bevor sie es mittels Luftinjektion aus einer Einwegspritze töten wollten. Tatsächlich war das Opfer bereits vor der Injektion erstickt, da die Schläge der Täter seinen Kehlkopf eingedrückt hatten. In solchen Konstellationen wird überwiegend danach differenziert, ob der Täter bei Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Erfolges bereits in den Versuch der von ihm anvisierten Tat eingetreten war oder nicht. Befindet er sich nämlich noch in der bloßen Vorbereitungsphase zur anschließenden Tatbestandsverwirklichung, ist noch keine „Tat“ i.S.d. § 16 Abs. 1 S. 1 vorhanden, so dass allenfalls eine fahrlässige Tötung (für welche die Versuchsregeln gerade nicht gelten) in Betracht kommt (vgl. Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben, 28. Aufl. 2010, § 15 Rn. 58 m.w.N. auch zu abw. Ansichten). Im vorliegenden Fall dürfte danach, da die Schläge nach der Vorstellung der Täter für die geplante Tötung des Opfers notwendig waren und zudem in einem engen zeitlichen Zusammenhang zur nachfolgenden Injektion standen, bereits von einem Versuchseintritt der Delinquenten, also einem vollendeten Tötungsdelikt, auszugehen sein (ebenso der BGH, a.a.O.). Eine Schwierigkeit mit der objektiven Zurechnung hat man in dieser Fallgestaltung naturgemäß nicht, da das „Dazwischentreten“ durch eine weitere Handlung nicht möglich ist, wenn bereits die erste Handlung zum tatbestandlichen Erfolg führt.
