Nach dem ersten Teil der Besprechung des Urteils des BVerfG zur sog. Bundesnotbremse im Hinblick auf Kontaktbeschränkungen, hier nun der zweite Teil, der die Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen in den Blick nimmt.
II. Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG geschützte Fortbewegungsfreiheit ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass die Beschwerdeführer als natürliche Personen vom Schutzbereich umfasst sind.
Der sachliche Schutzbereich bezieht sich auf die „im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen […]. Das Grundrecht gewährleistet allerdings von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt und überall hin bewegen zu können […]. Die Fortbewegungsfreiheit setzt damit in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicher Wille […].“ (Rn. 241)
Der Schutzbereich der Fortbewegungsfreiheit ist somit eröffnet.
b) Eingriff
aa) Fortbewegungsfreiheit
Ein Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit liegt vor, „wenn die betroffene Person durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum, der ihr an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen […].“ (Rn. 243)
Die Regelung des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG wirkt zunächst jedoch psychisch und nicht physisch. Zu dieser Eingriffskonstellation nimmt das BVerfG ausführlich Stellung. Im Einzelnen:
„Für den Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist konstitutiv, dass die Betroffenen durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert werden, einen Ort oder Raum, der ihnen an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen. […] In notwendiger Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit […] können aber auch staatliche Maßnahmen in die Fortbewegungsfreiheit eingreifen, die auf den Willen des Betroffenen zur Ausübung der Fortbewegungsfreiheit in vergleichbarer Weise wirken wie bei unmittelbarem Zwang. Hebt staatlich veranlasster körperlich wirkender Zwang die an sich tatsächlich und rechtlich bestehende Möglichkeit auf, von der Fortbewegungsfreiheit Gebrauch zu machen, handelt es sich stets um einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Regelmäßig genügt dafür aber auch bereits, dass solcher Zwang angedroht wird oder ein Akt der öffentlichen Gewalt die rechtliche Grundlage für die Anwendung derartigen Zwangs schafft […]. Dementsprechend kann in die Fortbewegungsfreiheit auch durch allein psychisch vermittelten Zwang eingegriffen werden. Um einen gegen den Willen auf Ausübung der Fortbewegungsfreiheit gerichteten staatlichen Eingriffsakt annehmen zu können, bedarf es einer davon ausgehenden Zwangswirkung, die nach Art und Ausmaß einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang vergleichbar ist […]. Ob eine vergleichbare Zwangswirkung gegeben ist, richtet sich nach den konkreten tatsächlichen und rechtlichen Umständen. Für einen Eingriff können staatlich angeordnete Verbote genügen, einen bestimmten Ort oder Bereich nicht ohne Erlaubnis zu verlassen […].“ (Rn. 246)
Die Ausgangsbeschränkungen vermitteln psychisch einen Zwang, sie einzuhalten und von der Fortbewegungsfreiheit keinen Gebrauch zu machen (Rn. 247). Bezüglich der Vergleichbarkeit der Zwangswirkung mit unmittelbar physisch wirkendem Zwang, stellt das BVerfG zum einen darauf ab, dass ein Verstoß gegen die Ausgangsbeschränkungen mit physisch wirkendem Zwang im Rahmen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts durchsetzbar ist – das allein genügt aber nicht, denn „ansonsten würde sich Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wegen der Möglichkeit, mit gefahrenabwehrrechtlichen Maßnahmen auf jeden Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung zu reagieren, zu einer Art Übergrundrecht wandeln.“ (Rn. 248)
Deshalb hält es zum anderen fest, dass das verbotene Verhalten selbst einen deutlichen Bezug zur Fortbewegungsfreiheit aufweist, indem es für ein knappes Drittel der Tageszeit verboten war, sich außerhalb einer Wohnung aufzuhalten (Rn. 248). Die Vergleichbarkeit sei somit gegeben.
bb) Freiheitsentziehung gem. Art 104 Abs. 2 GG
Die Schwelle der Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 104 Abs. 2 GG wurde durch § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nach Auffassung des BVerfG nicht überschritten (Rn. 250). Eine Freiheitsentziehung liegt vor, „wenn die Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird, was eine besondere Eingriffsintensität und grundsätzlich eine nicht nur kurzfristige Dauer der Maßnahme voraussetzt […]“ (Rn. 250). Dadurch dass der Ort – unter Wahrung der geltenden Kontaktbeschränkungen und soweit es sich um eine Wohnung oder Unterkunft handelte – frei ausgewählt werden konnte und die Maßnahme auf Zeiten geringer Mobilität beschränkt war, ist die Schwelle zur Freiheitsentziehung nicht überschritten (Rn. 250).
c) Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Die Fortbewegungsfreiheit unterliegt der Schranke von Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG
In Bezug auf die formelle Verfassungsmäßigkeit gelten die Ausführungen zu den Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Erneut sei an dieser Stelle auf die Darstellung der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und mit dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG verzichtet. Die Vereinbarkeit wird vom BVerfG bejaht.
(1) Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch ein Gesetz
Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG gestattet den Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit auf Grund eines Gesetzes. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG greift als selbst vollziehendes Gesetz jedoch unmittelbar ohne weiteren Vollzugsakt in den Schutzbereich ein. Eine enge Wortlautauslegung der Schranken würde dazu führen, dass Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit durch solche selbst vollziehenden Gesetze stets materiell verfassungswidrig sind.
Das BVerfG geht jedoch nicht von diesem engen Schrankenbegriff aus. Es erkennt an, dass der Wortlaut auf ein kompetenzielles Verständnis der Schranken (i.S.e. Verwaltungsvorbehalts), hindeuten kann (Rn. 268). Dagegen argumentiert es dennoch wie folgt:
„Wenn aber Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG auch auf selbstvollziehende Maßnahmen des Gesetzgebers Anwendung findet, obwohl diese für sich genommen nicht unmittelbar körperliche Zwangswirkung entfalten, ist es konsequent, dass auch ein solcher legislativer Grundrechtseingriff der Schrankenregelung des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG genügen kann.“ (Rn. 268)
Weiter führt es dazu aus:
„Nichts spricht dafür, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG nach ihrem Zweck gegenüber dem Gesetzgeber ein absolutes, uneinschränkbares Recht begründen soll. Wird der Gesetzgeber selbst unmittelbar an dieses Grundrecht gebunden, muss er umgekehrt auch von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit Gebrauch machen können. Der Schrankenvorbehalt steht dem nicht entgegen. Bei Eingriffen in die Fortbewegungsfreiheit unmittelbar durch Gesetz droht kein mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz. Die gesetzliche Anordnung des Freiheitseingriffs schafft keine Lage, die die Schutzmechanismen des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz und Satz 2 GG auslösen müsste. Teleologische Gründe sprechen daher bei einem erweiterten Eingriffsverständnis dagegen, die Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kompetenziell als Verwaltungsvorbehalt auszulegen.“ (Rn. 272)
(Zusätzlich nimmt das BVerfG eine gesetzeshistorische Betrachtung der Schranken vor. Diese ist nach Auffassung des BVerfG nicht nur unergiebig – in der Klausursituation ist eine Auslegung anhand der Gesetzmaterialien im Regelfall nicht möglich. Daher sei auf die Darstellung der diesbezüglichen Ausführungen verzichtet.)
Damit standen die Schranken der Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 GG den als selbstvollziehendes förmliches Gesetz geregelten Ausgangsbeschränkungen aus § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nicht entgegen.
(2) Verhältnismäßigkeit
(a) Legitimer Zweck
Bezüglich des verfassungsrechtlich legitimen Zwecks ergeben sich keine Unterschiede zu den Ausführungen bezüglich der Kontaktbeschränkungen.
(b) Geeignetheit
Bei der Geeignetheitsprüfung der Ausgangsbeschränkungen spielt der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers eine wichtige Rolle. Nach Auffassung des BVerfG lagen nachvollziehbare Gründe für die Annahme des Gesetzgebers vor, dass durch die Ausgangsbeschränkungen mittelbar auch die Anzahl und Dauer privater Zusammenkünfte reduziert werden kann, indem die An- und Abreisezeiten außerhalb der betroffenen Zeiträume liegen müssen (Rn. 277).
Auch sind die fachwissenschaftlichen Grundlagen, auf die sich die Annahmen des Gesetzgebers stützen nicht zu beanstanden (Rn. 278). Diese gehen davon aus, dass Infektionsschutzmaßnahmen in Innenräumen wie Abstandhalten, das Tragen von Masken, Lüften und allgemeine Hygieneregeln dem Infektionsrisiko nur eingeschränkt entgegenwirken können, dies aber zur Nachtzeit im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar ist (Rn. 278). Zudem lagen wissenschaftliche Erkenntnisse vor, nach denen nächtliche Ausgangsbeschränkungen zu einer Absenkung des R-Wertes (der R-Wert gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person in einer bestimmten Zeiteinheit im Mittel ansteckt) um 0,1 führen (Rn. 279).
Damit erfüllt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG die Anforderung der Geeignetheit.
(c) Erforderlichkeit
Als alternative Maßnahme kommt für die Ausgangsbeschränkungen die Kontrolle privater Zusammenkünfte zur Nachtzeit unter Verzicht auf die Ausgangsbeschränkungen in Betracht (Rn. 285). Damit diese Kontrolle dem Infektionsrisiko in Innenräumen mit gleicher Wirksamkeit entgegenwirken können, müssten sie zum einen flächendecken angelegt sein und zum anderen müssten die privaten Innenräume durch ein Betreten der Vollzugsbehörden kontrolliert werden (Rn. 285). Damit verbunden wären dann wiederum schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte sowie in die Schutzsphäre von Art. 13 GG. Kontrollen wären somit keine mildere Maßnahme (Rn. 285). Die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG waren somit auch erforderlich.
(d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Wie auch bei den Kontaktbeschränkungen erkennt das BVerfG in den Ausgangsbeschränkungen einen schwerwiegenden Eingriff, der sich auf unterschiedliche Weisen auswirken kann (Rn. 292). Das Gewicht des Eingriffs wird auch durch die Bußgeldvorschrift des § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG erhöht (Rn. 294).
Allerdings enthielt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 lit. a bis g IfSG zahlreiche Ausnahmeregelungen, die die Eingriffsintensität minderten (Rn. 296). Insbesondere die Härtefallklausel nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 lit. f IfSG „stand einer grundrechtsfreundlichen Auslegung und Anwendung offen, die ermöglichte, zwischen dem Lebens- und Gesundheitsschutz und weiteren legitimen Belangen im Einzelfall abzuwägen.“ (Rn. 296)
Im Übrigen wirken sich die tageszeitliche Begrenzung der Ausgangsbeschränkungen, die Befristung der Regelung und deren am Pandemiegeschehen flexible Ausrichtung mildernd aus (Rn. 297). Durch diese Mechanismen hat der Gesetzgeber nicht dem Lebens- Und Gesundheitsschutz sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems einseitig Vorrang eingeräumt, sondern einen angemessenen Interessenausgleich bewirkt (Rn. 299). Insbesondere die Härtefallklausel, die die Berücksichtigung besonderer Umstände im Einzelfall ermöglichte, trug dazu bei (Rn. 300).
d) Zwischenergebnis
28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2IfSG stellt einen Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG dar. Der Eingriff ist jedoch verfassungsmäßig gerechtfertigt.
2. Familien- und Ehegrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Zum Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG s.o.
b) Eingriff
Im vorliegenden Fall war es manchen der Beschwerdeführer nicht möglich, eine Zusammenkunft mit Ehe- oder Lebenspartnern so zu gestalten, dass die Anreise vor Einsetzen der Ausgangsbeschränkungen erfolgte. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG griff dadurch in das subjektive Recht dieser Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG ein (Rn. 251).
c) Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG unterliegen lediglich verfassungsunmittelbaren Schranken.
Bezüglich der Verhältnismäßigkeit gilt weitestgehend das zur Fortbewegungsfreiheit Gesagte. Zu ergänzen ist, dass der Eingriff durch die Beschränkung familiärer und partnerschaftlicher Kontakte an Gewicht gewinnt.
Allerdings enthielt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 lit. a bis g IfSG Ausnahmebestimmungen, sie sich gerade auf diese Kontakte auswirkten. Darauf stellte auch das BVerfG ab:
„Die Ausnahmen in Buchstabe c für die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts sowie in Buchtstabe d für die Durchführung unaufschiebbarer Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger milderten die Intensität des Eingriffs vor allem in die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ab. Das Zusammenwirken der genannten Ausnahmen kam unter anderem Alleinerziehenden in ihrer besonderen Belastungssituation entgegen (dazu oben Rn. 296).“ (Rn. 300)
So stellte das BVerfG auch hier im Ergebnis fest, dass der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt war.
3. Allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG
Auch der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ist eröffnet. Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt in der mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG korrespondierenden Bußgeldvorschrift § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG (Rn. 252). Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt den Schranken von Art. 2 Abs. 1 GG. Auch der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG ist gerechtfertigt (Rn. 304).
C. Fazit
Die Frage nach der Vereinbarkeit von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit den Grundrechten ist also mit dem bekannten Prüfungsaufbau zu meistern. Innerhalb der Zulässigkeit ist insbesondere bei der Beschwerdebefugnis darauf zu achten, ob eine Rechtssatz- oder Urteilsverfassungsbeschwerde vorliegt. Das sind aber keine neuen Probleme, sondern gehören zum Standardwissen der Grundrechtsvorlesung.
Im Rahmen der Begründetheit ist dem dynamischen Pandemiegeschehen Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber hatte zum Zeitpunkt, in dem er die Maßnahmen mit § 28b IfSG geregelt hat, einen bestimmten Kenntnisstand bezüglich der Eigenarten der Corona-Pandemie. Die Prüfung muss sich auf diesen Kenntnisstand beziehen und aus der derzeitigen Perspektive vorgenommen werden. Hilfreich dabei ist der weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, der jedoch keinen „Freifahrtschein“ bewirkt. Die Maßnahmen müssen auf tragfähiger Grundlage beruhen, nachvollziehbar sein und dürfen nicht einseitig zulasten der geschützten Freiheitsrechte gehen.
Im Grunde sollte auch die Kenntnis dieser Grundsätze bereits bekannt sein – dieser Beitrag zeigt unter Bezug auf die Erwägungen des BVerfG, wie sie sich in der konkreten Prüfung niederschlagen.
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Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Darstellung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 zu den durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG für einen Zeitraum von gut zwei Monaten eingefügten bußgeldbewehrten Kontaktbeschränkungen (Teil 1) sowie bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen (Teil 2) nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG zur Eindämmung der Corona-Pandemie, der sogenannten Bundesnotbremse.
Die Begutachtung von Sachverhalten unter Berücksichtigung des Pandemiegeschehens ist auch in den (Examens)Klausuren angekommen. Die Fallgestaltungen dazu sind vielfältig und können das Zivil- und Strafrecht, aber insbesondere das öffentliche Recht betreffen. So hat das BVerfG in dem Beschluss geprüft, inwiefern die Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG (bußgeldbewehrte Kontaktbeschränkungen) und nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG (bußgeldbewehrte Ausgangsbeschränkungen) in Freiheitsgrundrechte eingriffen und ob die Eingriffe gerechtfertigt waren. Die Prüfung fand im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde statt und betrifft eine klassische Prüfungskonstellation für Klausuren. Die Folgende Darstellung ordnet die wesentlichen Erwägungen des BVerfG in den Prüfungsaufbau ein. Die behandelten Aspekte können in der Klausur jedoch nicht nur rein grundrechtlich, sondern auch verwaltungsrechtlich oder staatsorganisationsrechtlich (bspw. im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle) eingekleidet werden. Im Übrigen soll der Schwerpunkt der Darstellung auf der Begründetheitsprüfung liegen. Zuvor werden aber auch einzelne Aspekte der Zulässigkeitsprüfung aufgegriffen.
Die Verweise auf Randnummern beziehen sich auf die Randnummern in der vom BVerfG veröffentlichten Fassung des Beschlusses, die unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/11/rs20211119_1bvr078121.html (letzter Abruf v. 9.12.2021) abrufbar ist. Zur besseren Übersichtlichkeit und Lesbarkeit wurden die Verweise auf Quellen innerhalb der Zitate aus dem Beschluss ausgespart.
A. Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
I. Beschwerdebefugnis
In der Zulässigkeitsprüfung liegt nur ausnahmsweise der Schwerpunkt der Prüfung. Die Beschwerdebefugnis sollte dennoch nicht zu knapp bearbeitet werden. Die Beschwerdebefugnis einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass eine Möglichkeit der Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist.
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Zunächst müssen der Beschwerdeführer substantiiert die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung darlegen. Die reine Behauptung der Verletzung eines Grundrechts genügt nicht. In seinem Beschluss stellte das BVerfG fest, dass nicht hinreichend dargelegt wurde, wie die Kontaktbeschränkungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG die Grundrechte aus Art. 11 Abs. 1 GG, Art. 8 GG, Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG verletzen können. Bezogen auf diese Grundrechte hat das BVerfG die Möglichkeit einer Verletzung im konkreten Fall abgelehnt (Rn. 91 ff.)
Nicht abgelehnt hat das BVerfG aber die Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG, sowie die Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG und Art. 2 Abs. 1 GG durch die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen
Die Beschwerdeführer machten die Verletzung eigener Rechte und damit Selbstbetroffenheit geltend. Zudem traten die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ab der Überschreitung des Inzidenzwertes von 100 ein, sodass keine Durchführungsmaßnahme notwendig war. Damit waren die Beschwerdeführer unmittelbar betroffen.
Gegenwärtige Betroffenheit setzt voraus, dass die angegriffene Maßnahme bereits Rechtswirkung entfaltet und sich noch nicht erledigt hat. Bei zwei der Beschwerdeführer lag im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde die Inzidenz noch unter dem die Maßnahmen auslösenden Schwellenwert. Das BVerfG stellte hierzu fest:
„Jedoch bestand bei beiden Beschwerdeführenden nicht lediglich eine vage Aussicht, dass sie irgendwann einmal in der Zukunft von den angegriffenen Regelungen betroffen sein könnten […]. Der Schwellenwert von 100 wurde am Wohnort der Beschwerdeführenden zu 1) und 2) schon ab 27. April bis einschließlich 3. Mai 2021 überschritten. Das zum maßgeblichen Zeitpunkt dynamische Infektionsgeschehen ließ auch für sie zeitnah nach Inkrafttreten des Gesetzes die Geltung der Beschränkungen erwarten. Das genügt für ihre gegenwärtige Betroffenheit in eigenen Rechten.“ (Rn. 86)
II. Rechtsschutzbedürfnis
Zum Rechtsschutzbedürfnis sind in aller Regel keine besonderen Ausführen anzustellen; in den meisten Fällen genügt die positive Feststellung, dass es vorliegt. In manchen Konstellationen ist es jedoch angezeigt, das Rechtsschutzbedürfnis ausführlicher darzulegen. Denn das Rechtsschutzbedürfnis muss auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVerfG vorliegen. Dem könnte hier entgegenstehen, dass in diesem Zeitpunkt die angegriffenen Regelungen nicht mehr galten (die Maßnahmen waren beschränkt auf einen Zeitraum bis zum 20. Juni 2021) oder dass die Inzidenzen in den örtlichen Bezugsräumen gesunken sind.
Trotz Erledigung kann das Rechtsschutzinteresse aber fortbestehen, „wenn andernfalls entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt […].“ (Rn. 98)
Das Pandemiegeschehen war weder mit Sinken der Inzidenzwerte noch mit Ablauf der Maßnahmen beendet, sodass auch in Zukunft „Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen werden [könnten], die sich in der Regelungstechnik und den Regelungsinhalten an den hier angegriffenen Vorschriften orientieren.“ (Rn. 99)
Damit besteht das Rechtsschutzinteresse fort.
III. Subsidiarität und Rechtswegerschöpfung
Bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde sind zuletzt noch Ausführungen bezüglich der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung angezeigt.
Nach Auffassung des BVerfG ist auch gegen eine Rechtsnorm der Rechtsschutz vor den Fachgerichten vorrangig zur Verfassungsbeschwerde zu ersuchen, im Wege der Feststellungs- oder Unterlassungsklage (Rn. 101). Dieses Erfordernis kann aber entfallen, wenn die betreffenden Normen entweder keine klärungsbedürftigen einfachrechtlichen Fragen beinhalten oder solche zwar beinhalten, aber das BVerfG bei seiner verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht auf deren Beantwortung angewiesen ist (vgl. Rn. 101).
Von letzterem ging das BVerfG hier aus (Rn. 103). Daher stehen die Subsidiarität und das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde hier nicht entgegen.
B. Zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Für die Prüfung der Begründetheit bietet es sich an, eine Aufteilung nach den einzelnen Normen und den damit verbundenen Maßnahmen vorzunehmen. Dies ermöglicht einen klaren und strukturierten Aufbau, der dem Leser und Korrektor eine bessere Nachvollziehbarkeit bietet. Die Prüfung der einzelnen Maßnahme erfolgt dann im Rahmen des klassischen Aufbaus nach Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung.
I. Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG
Die Beschwerdeführer könnten durch die Bestimmung des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG in ihren Grundrechten verletzt sein. In Betracht kommt eine Verletzung der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG.
1. Familien- und Ehegrundrecht gem. Art. 6 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Den Gewährleistungsgehalt von Art. 6 Abs. 1 GG beschreibt das BVerfG wie folgt:
„Das Ehe- und das Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisten ein Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen. Vom Familiengrundrecht erfasst sind die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern, unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind, wie auch weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr. 101/2021 vom 30. November 2021)
Gewährleistet wird ein „Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen“ (Rn. 108). Damit ist der Schutzbereich eröffnet.
b) Eingriff
In diesen Schutzbereich müsste durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG eingegriffen worden sein. Zu dem Eingriff führt das BVerfG aus:
„Die Regelung machte vollstreckungsfähige Vorgaben [§ 73 Abs. 1a Nr. 11b IfSG] für private Zusammenkünfte sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum. Damit beschnitten die Kontaktbeschränkungen die Möglichkeiten, über die Ausgestaltung sowohl des familiären als auch des ehelichen Zusammenlebens selbst frei zu entscheiden. […] In unterschiedlichen Haushalten lebenden Kindern verbot das Gesetz, gemeinsam ihre Eltern zu besuchen. Erst recht schlossen die Kontaktbeschränkungen im Grundsatz das Zusammenkommen von mehr als drei in die Schutzbereiche fallenden Personen aus. Zulässig blieb insoweit lediglich der Kontakt über Mittel der Fernkommunikation.“ (Rn. 109)
Damit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 I GG vor.
c) Rechtfertigung
Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Art. 6 Abs. 1 GG enthält keinen Schrankenvorbehalt und unterliegt damit lediglich verfassungsimmanenten Schranken (Rn. 116, wobei das BVerfG irrtümlicherweise von verfassungsunmittelbaren Schranken spricht). Das eingreifende Gesetz, das einem anderen Verfassungsgut dienen müsste, muss auch formell und materiell verfassungsgemäß sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Der Bund hat gem. Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten. Damit hatte er die Gesetzgebungskompetenz für Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens im Zusammenhang mit der ansteckenden Krankheit Covid-19 (Rn. 118). Fehler im Gesetzgebungsverfahren und in der Form liegen nicht vor. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war formell verfassungsmäßig.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
An dieser Stelle geht das BVerfG zunächst auf die von den Beschwerdeführern gerügten Umstände ein, dass die gewählte Regelungsmechanik gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoße und das Bestimmtheitsgebot i.S.v. Art 103 Abs. 2 GG nicht gewahrt sei. Beide Aspekte verneint das BVerfG. Auf eine Darstellung der Prüfung sei an dieser Stelle verzichtet, um eine ausführliche Darstellung der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermöglichen.
- 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG müsste auch verhältnismäßig sein. Der Gesetzgeber muss dazu mit dem einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgen, das Gesetz muss geeignet sein diesen Zweck zu erreichen und dazu erforderlich sein und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.
(1) Legitimes Ziel
Der Gesetzgeber müsste zunächst einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt haben. Hierzu hält das BVerfG fest:
„Jedenfalls bei Gesetzen, mit denen der Gesetzgeber von ihm angenommenen Gefahrenlagen für die Allgemeinheit oder für Rechtsgüter Einzelner begegnen will, erstreckt sich die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht auch darauf, ob die dahingehende Annahme des Gesetzgebers hinreichend tragfähige Grundlagen hat […}. Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung ist also sowohl die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer solchen Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Allerdings belässt ihm die Verfassung für beides einen Spielraum, der vom Bundesverfassungsgericht lediglich in begrenztem Umfang überprüft werden kann […]. (Rn. 170 f.)
Hier bezweckte der Gesetzgeber den Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit die bestmögliche Krankenversorgung sicherzustellen (Rn. 174). Mit den Maßnahmen wollte der Gesetzgeber „ausdrücklich seine in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde Schutzpflicht erfüllen (vgl. BTDrucks 19/28444, S. 8). Dies umfasst den Schutz vor sämtlichen mit einer SARS-CoV-2-Infektion einhergehenden Gesundheits- und Lebensgefahren, insbesondere vor schweren Krankheitsverläufen und Langzeitfolgen (Long Covid).“ (Rn. 174).
Zur Bedeutung dieser Belange führt das BVerfG aus:
„Sowohl der Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke […]. Aus Art. 2 Abs. 2 GG, der den Schutz des Einzelnen vor Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Gesundheit umfasst […], kann zudem eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen umfasst […].“ (Rn. 176).
Die Annahmen des Gesetzgebers, die ihn zu seinem Tätigwerden veranlassten, stützten sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Robert Koch-Instituts, das das Pandemiegeschehen wissenschaftlich beobachtet und analysiert (Rn. 178). Dessen Einschätzungen schlossen sich mehrere wissenschaftliche Fachgesellschaften an (Rn. 181). Der Gesetzgeber stützte sich somit auf eine tragfähige Grundlage.
(2) Geeignetheit
Die Maßnahmen des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG müssten zur Erreichung des verfassungsrechtlich legitimen Zwecks geeignet sein. Zu den Anforderungen an die Geeignetheit stellt das BVerfG fest:
„Verfassungsrechtlich genügt für die Eignung bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen […]. Bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen […].“ (Rn. 185).
Dieser Spielraum ist jedoch nicht unbeschränkt. Zwar dürfen bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen (Rn. 185). Hier „war und ist insoweit gesicherte Erkenntnislage, dass SARS-CoV-2 über respiratorische Sekrete übertragen wird“ (Rn. 193). Die sachkundigen Dritten führten aus, „dass jede Einschränkung von Kontakten zwischen Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen leistet“ (Rn. 195).
Die Kontaktbeschränkungen gem. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG waren somit zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung geeignet.
Auch wird durch geringere Infektionszahlen die Zahl der intensivpflichtig zu behandelnden Patienten verringert, sodass die Kontaktbeschränkungen auch geeignet sind, zur Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems beizutragen (Rn. 197).
(3) Erforderlichkeit
Die mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG getroffene Maßnahme müsste erforderlich sein. Das ist der Fall, wenn kein milderes aber gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht. Auch hierbei kommt dem Gesetzgeber Spielraum zu, „die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren“ (Rn. 204). Als alternative Maßnahmen kommen der Schutz durch Impfung und die Ausgestaltung von Verhaltensregeln bei Kontakten in Betracht.
Im Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war allerdings lediglich ein sehr geringer Teil der Bevölkerung doppelt geimpft und aufgrund der zu dieser Zeit herrschenden Impfstoffknappheit war mit einer schnell steigenden Impfquote nicht zu rechnen (Rn. 206). Der Schutz vor Infektionen mit SARS-CoV-2 bzw. vor einer Transmission der Erreger allein durch die Impfung erreicht damit nicht dieselbe Wirksamkeit (Rn. 206).
Zur Alternative der Ausgestaltung von Verhaltensregeln bei Kontakten führt das BVerfG aus: „Verhaltensregeln für ansonsten personell unbeschränkte Kontakte stellten ebenfalls kein gleich wirksames Mittel dar. Zwar können nach gesicherter Erkenntnis Vorkehrungen getroffen werden, um zwischenmenschliche Kontakte möglichst infektionsarm verlaufen zu lassen. Das ordnungsgemäße Tragen von Mund und Nase bedeckenden Masken kann das Infektionsrisiko […] ebenso reduzieren wie das Abstandhalten, Hygienemaßnahmen und das Lüften von Räumen. Gesicherte Erkenntnisse darüber, dass das Infektionsrisiko bei der Einhaltung solcher Regeln gleichermaßen ausgeschlossen wäre, wie bei dem gänzlichen Verbot menschlicher Ansammlungen, existieren dagegen nicht.“ (Rn. 210)
Damit stellen Verhaltensregeln keine gleich wirksame Alternative dar. Die mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG getroffenen Regelungen waren erforderlich.
(4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung dürfte nicht außer Verhältnis zur Schwere des damit verbundenen Eingriffs liegen (Rn. 216). In den Worten des BVerfG:
„Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt […]. Umgekehrt wird gesetzgeberisches Handeln umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können […].“ (Rn. 216)
Die Kontaktbeschränkungen führten dazu, dass es den Betroffenen verwehrt war,
„sich in frei gewählter Weise zusammenzufinden. Durch die Anknüpfung an einen Haushalt schlossen die Kontaktbeschränkungen auch persönliche Begegnungen zwischen Personen mit besonders nahen familiären, durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Bindungen aus, wie typischerweise im Eltern-Kind-Verhältnis, wenn es sich um Kinder in einem Alter über 14 Jahren handelte. Das Verbot privater Zusammenkünfte galt zudem auch in Konstellationen, in denen regelmäßig die persönliche Begegnung zwischen in verschiedenen Haushalten lebenden nahen Familienangehörigen besondere Bedeutung hat, wie dies etwa bei dem persönlichen Kontakt zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern beziehungsweise einem Elternteil der Fall sein kann. So ließ § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG etwa den zeitgleichen Besuch von erwachsenen, in verschiedenen Haushalten lebenden Geschwistern bei einem in einem eigenen Haushalt lebenden Elternteil nicht zu.“ (Rn. 220)
Das BVerfG geht in einem ersten Schritt somit von einem deutlich schwerwiegenden Eingriff aus. In einem zweiten Schritt geht es dann auf die Umstände ein, die die Intensität des Eingriffs mildern. Relevant sind hier die vom Gesetzgeber getroffenen Ausnahmeregelungen. So wird die Intensität des Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG insbesondere dadurch gemildert, dass für Personen eines Haushalts untereinander keine Beschränkungen galten (Rn. 226). Auch dass eine zusätzliche Person mit allen zu einem Haushalt gehörenden agieren durfte, sieht es als Erleichterung insbesondere für Alleinerziehende (Rn. 226). Zudem blieben Kontakte zur Ausübung des Sorge- oder Umgangsrechts blieben ohnehin vollumfänglich gestattet, § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz IfSG (Rn. 226). Außerdem sei die Eingriffsintensität „durch den dynamisch am Pandemiegeschehen ausgerichteten und regional differenzierenden Regelungsansatz in § 28b IfSG erheblich begrenzt“ und auch die zeitliche Befristung des Gesetzes wirke sich mindern aus (Rn. 226).
Auf der anderen Seite spricht das BVerfG den verfolgten Zwecken des Lebens- und Gesundheitsschutzes und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems „überragende Bedeutung“ (Rn. 227) zu. Angesichts des dynamischen Infektionsgeschehens bestand im maßgeblichen Zeitpunkt ein dringender Handlungsbedarf (Rn. 227 f.). Insbesondere ließ „[d]er Blick in teilweise noch stärker vom Pandemiegeschehen betroffene Nachbarstaaten […] eine weitergehende Eskalation befürchten“ (Rn. 229). Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, „dass es darauf ankam, die Dynamik des Infektionsgeschehens möglichst umfassend und rasch zu durchbrechen, um die Bevölkerung vor Gefahren für Leib und Leben durch ein außer Kontrolle geratenes Infektionsgeschehen und eine dadurch bewirkte Funktionsunfähigkeit des Gesundheitssystems zu bewahren.“ (Rn. 230).
Indem der Gesetzgeber Ausnahmeregelungen getroffen und die Kontaktbeschränkungen an sich begrenzt ausgestaltet hat, hat er die kollidierenden Verfassungsgüter in einen verfassungsgemäßen Ausgleich gebracht (Rn. 232). Die Maßnahme der Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war verhältnismäßig im engeren Sinne.
d) Zwischenergebnis
- 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG greift in die Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG ein. Der Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
2. Allgemeine Handlungsfreiheit
a) Schutzbereich
Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass der persönliche Schutzbereich für die Beschwerdeführer als natürliche Personen eröffnet ist.
Der sachliche Schutzbereich umfasst „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt […]. Selbstverständlich erfasst das auch das Zusammentreffen mit beliebigen anderen Menschen.“ (Rn. 112)
Damit ist der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG eröffnet.
b) Eingriff
Indem die Kontaktbeschränkungen solche Zusammentreffen unter Bußgeldandrohung beschnitten, wurde dadurch in die allgemeine Handlungsfreiheit „über die Beeinträchtigung von Art. 6 Abs. 1 GG hinausgehend“ (Rn. 112) eingegriffen.
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt den Schranken von Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Im Ergebnis erkennt das BVerfG aus den oben genannten Gründen auch den Eingriff in die Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG als gerechtfertigt an. Zudem sieht es die ergänzende Bußgeldvorschrift als gerechtfertigt an (Rn. 237).
3. Allgemeines Persönlichkeitsrecht
a) Schutzbereich
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass der persönliche Schutzbereich für die Beschwerdeführer als natürliche Personen eröffnet ist.
Zum sachlichen Schutzbereich führt das BVerfG aus:
„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet solche Elemente der Persönlichkeitsentfaltung, die – ohne bereits Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes zu sein – diesen in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen […]. Danach schützt es zwar nicht jegliche Zusammenkunft mit beliebigen anderen Personen, bietet jedoch Schutz davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird. Anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung.“ (Rn. 113)
Auch dieser Schutzbereich ist eröffnet.
b) Eingriff
Die Maßnahmen könnten in diesen Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts insbesondere dann eingreifen, wenn alleinstehende und -lebende Personen betroffen sind. Bezüglich eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergänzt das BVerfG:
„Für sie [gemeint sind die alleinstehenden- und lebenden Personen] konnte es während der Geltungsdauer der Beschränkungen schwierig sein, überhaupt anderen Menschen zu begegnen. Insoweit halfen die Ausnahmen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz IfSG nicht. Sie waren auf familiäre Beziehungen ausgerichtet und konnten deshalb nicht verhindern, dass alleinstehende Personen Gefahr liefen, eine Zeit besonderer Isolation zu erleben. Sie waren jeweils darauf angewiesen, eine andere Person zu finden, die sich gerade mit ihnen treffen wollte und dafür bereit war, auf alternative Begegnungsmöglichkeiten zu verzichten. Für alleinstehende und -lebende Menschen konnte das die Möglichkeit der Begegnung mit anderen Menschen so sehr erschweren, dass dies vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gerechtfertigt werden musste.“ (Rn. 114)
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Auch hier sei auf die obigen Ausführungen verwiesen. Innerhalb der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist freilich auf die Schwere des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht abzustellen. Wie bei Art. 6 Abs. 1 GG stellte das BVerfG fest, dass der Eingriff besonders schwer wiegt, insbesondere für alleinstehende oder –lebende Personen (Rn. 221). Auch die Tatsache, dass das öffentliche Leben im Übrigen stark eingeschränkt war das Risiko der Vereinsamung bestand, führte zu einer erheblichen Schwere des Eingriffs (Rn. 221).
Im Ergebnis sei der Eingriff aus den oben aufgeführten Erwägungen jedoch gerechtfertigt.
4. Zwischenergebnis zu den Kontaktbeschränkungen
Die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG greifen in die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, in die allgemeine Handlungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Die Eingriffe sind jedoch verfassungsmäßig gerechtfertigt.
Teil 2 dieses Beitrags, der sich mit der Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen befasst, folgt kommende Woche hier auf www.juraexamen.info.