Der BGH entschied gestern einen äußerst examensrelevanten Fall, bei dem es um die Mitverursachung eines Unfalls beim Nichtanlegen des Kfz-Sicherheitsgurts ging (Az. VI ZR 10/11).
Sachverhalt (vereinfacht)
Die A befuhr mit ihrem Pkw nachts eine Autobahn und verlor aus ungeklärten Gründen die Kontrolle über ihr Fahrzeug. Ihr Fahrzeug geriet ins Schleudern, stieß gegen eine Leitplanke und kam auf der linken Fahrspur unbeleuchtet zum Stehen. Kurz darauf prallte der B, der mit eingeschaltetem Abblendlicht gefahren war, auf das Fahrzeug der A. Diese wurde schwer verletzt. Die A war bei dem Zweitunfall nicht angeschnallt. Die A fordert Schadensersatz von B.
Gegenseitige Ansprüche nach § 7 Abs. 1 StVG
Die Vorinstanz billigte der A dem Grunde nach einen Schadensersatzanspruch gemäß § 7 Abs. 1 StVG zu. Fraglich ist jedoch, ob dieser Anspruch wegen einer Mitverursachung durch die A gekürzt werden konnte.
Vorliegend gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass die A dem B genauso nach § 7 Abs. 1 StVG haften würde. Auch das Fahrzeug der A war i.S.d. § 7 Abs. 1 StVG „in Betrieb“, obwohl das Fahrzeug stand und sich nach dem Unfall auch nicht mehr bewegte. Beim Betrieb eines Fahrzeuges hat sich der Unfall schließlich bereits dann ereignet, wenn sich eine Gefahr realisiert, die mit dem Fahrzeug als Verkehrsmittel verbunden ist. Der Begriff „bei dem Betrieb“ ist dabei weit zu fassen. Ein Kfz ist demnach in Betrieb, solange es sich im Verkehr befindet und andere Verkehrsteilnehmer gefährdet werden können. Es genügt dabei auch ein naher zeitlicher oder örtlicher Zusammenhang mit einem Betriebsvorgang. Mithin genügt es, dass sich eine vom Kfz ausgehende Gefahr verwirklicht. Ein Unfallwagen, der auf dem Seitenstreifen liegen bleibt, befindet sich noch in einem räumlichen Zusammenhang zur Autobahn. Das Fahrzeug der A bewegt sich zwar nicht, jedoch gehen immer noch die typische fahrzeugspezifische Gefahren von dem Wagen aus.
Anmerkung: Das Urteil des BGH ist noch nicht im Volltext verfügbar. Die derzeit erhältliche Pressemitteilung lässt nicht durchblicken, ob der BGH eine Haftung der A aus § 7 Abs. 1 StVG bejaht hat. Sofern eine solche Haftung entgegen der oben geäußerten Ansicht verneint würde, wären die folgenden Ausführungen nicht auf Ebene des § 17 StVG, sondern bei § 254 BGB zu berücksichtigen.
Auch die Ausnahmevorschrift für langsam fahrende Fahrzeuge nach § 8 Nr. 1 StVG kann vorliegend nicht greifen, da nur solche Fahrzeuge vom Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 StVG ausgenommen sind, die konstruktionsbedingt weniger als 20 km/h fahren.
Haftungsquotelung
Sofern zwei Fahrzeughalter sich jeweils nach § 7 Abs. 1 StVG verpflichtet sind, greift die Vorschrift des § 17 Abs 2 StVG. Diese Vorschrift stellt eine Sonderregelung im Verhältnis zu § 254 Abs 1 BGB dar und gebietet eine Haftungsquotelung zwischen den Fahrzeughaltern. § 9 StVG, der auf § 254 BGB verweist, ist bei solchen Fällen hingegen nicht einschlägig.
Gemäß § 17 Abs. 2 StVG ist grundsätzlich von einer Haftungsquote von 50:50 auszugehen. Dies ergibt sich daraus, dass beide Halter zumindest für die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs einzustehen haben. Die standardmäßige Haftungsquote nach § 17 Abs. 2 StVG kann jedoch durch eine Haftungsabwägung verschoben werden (wodurch u.U. auch ein vollständiger Ausschluss des Anspruchs bewirkt wird). In diese Abwägung werden die jeweiligen Verursachungsanteile gegeneinander abgewogen. Nur, wenn Gewichtsunterschiede nicht festzustellen sind, ergibt sich die vorgenannte Haftungsquote von 50% auf Basis der gegeneinader anzuführenden Betriebsgefahr.
Anmerkung: Die vorgenannte Verursachungssabwägung hat gemäß § 17 Abs. 3 StVG nicht zu erfolgen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde. Ein unabwendbares Ereignis liegt dann vor, wenn der Unfall selbst bei höchster Sorgfalt nicht hätte verhindert werden können. Ein solcher Fall lag hier wohl nicht vor, da die Erwägungen zur Haftungsquotelung ansonsten obsolet wären.
Im konkret zu entscheidenden Fall begründete die Vorinstanz einen besonderen Mitverursachungsanteil der A auf Basis der Tatsache, dass die A nicht in ihrem Unfallfahrzeug angeschnallt war. Die Vorinstanz kam aufgrund dieser Erwägungen zu einer Anspruchskürzung von 60%. D.h. zu Lasten der A wurde die Quote von 50% um 10 % gemindert.
Anmerkung: Das Urteil des BGH ist im Volltext noch nicht verfügbar. Es kann durchaus sein, dass noch eine Vielzahl weiterer Faktoren in die Verursachungsabwägung eingestellt wurden.
Folgerung des BGH
Der BGH kam hingegen zu einem geringeren Mitverursachungsanteil der A. Das Gericht führte hierzu aus, dass nach § 21a Abs. 1 StVO vorgeschriebene Sicherheitsgurte zwar während der Fahrt grundsätzlich angelegt sein müssen und dass ein Verstoß gegen diese Vorschrift hinsichtlich unfallbedingter Körperschäden zu einer Haftungskürzung wegen Mitverursachung führe.
Da der B hier aber nur für die Folgen des Zweitunfalls hafte, sei für die Frage der Mitverursachung durch die A allein von Bedeutung, ob zum Zeitpunkt des Zweitunfalls noch eine Anschnallpflicht bestand. Dies war nach dem BGH nicht der Fall, denn der Aufprall auf das Fahrzeug der A ereignete sich nicht „während der Fahrt“ ihres eigenen Pkw. Dessen Fahrt war vielmehr dadurch beendet worden, dass der Pkw unfallbedingt an der Leitplanke zum Stehen gekommen war. Nachdem es zu diesem Unfall gekommen war, war die Klägerin mithin nicht nur berechtigt, den Gurt zu lösen, um ihr Fahrzeug verlassen und sich in Sicherheit bringen zu können, sondern gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 2 StVO sogar dazu verpflichtet, nämlich um die Unfallstelle sichern zu können. Ihr könne deshalb nicht angelastet werden, unangeschnallt gewesen zu sein, als sich der Zweitunfall ereignete.
Der BGH änderte das Urteil der Vorinstanz deshalb zugunsten der A auf einen geringeren Mitverursachungsanteil ab. Sofern der Sachverhalt keine sonstigen Aspekte, die eine Haftungsverschiebung begründen könnten, enthält, käme es damit zu einer Quotelung von 50:50.
Examensrelevanz
Der hier geschilderte Fall eignet sich hervorragend für Klausuren im ersten sowie im zweiten Staatsexamen. Das Ergebnis lässt sich mit gesundem Menschenverstand auch gut selbst herleiten. Gleichwohl verstärken die Bezüge zu den einschlägigen Normen der StVO die Argumentation. Bei der Abwägung von Mitverursachungsanteilen nach dem StVG gilt ohnehin der Grundsatz, dass sich beinahe jede Sorgfaltswidrigkeit an einem Paragraphen der StVO festmachen lässt. Selbst, wenn man in der StVO gar nichts findet, kann im Regelfall zumindest ein Verstoß gegen den Grundsatz des Rücksichtnahme im Verkehr nach § 1 Abs. 2 StVO angenommen werden.
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