BGH – Großer Strafsenat, Beschluss v. 21.4.2010, GSSt 1/09
Sachverhalt und Verfahrensgang
In dem Beschluß entschied der Große Strafsenat über die Vorlage des Fünften Strafsenats gem. § 132 Abs. 2 GVG. Der Fünfte Strafsenat hatte über eine Revision eines landgerichtlichen Urteils zu entscheiden. Diese wurde mit der Begründung erhoben, der Angeklagte sei in seinem Anwesenheitsrecht verletzt worden. Nach § 338 Nr. 5 StPO stellt dies einen absoluten Revisionsgrund dar.
In dem Ausgangsfall ging den sexuellen Mißbrauch eines Kindes. Ein Zeuge wurde nach Entfernung des Angeklagten gem. § 247 StPO in dessen Abwesenheit vernommen. Anschließend wurde – immer noch in Abwesenheit des Angeklagten – über die Entlassung des Zeugen verhandelt (§ 248 StPO).
Der Fünfte Strafsenat sah dieses Vorgehen als zulässig an. Die Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen sei noch von § 247 StPO gedeckt. Er wollte entsprechend entscheiden. Damit hätte er sich gegen die frühere Rechtsprechung eines anderen Senates des BGH gewandt. Deshalb musste der Fünfte Senat, nachdem der Senat, der der gegenteiligen Auffassung war, gem. § 132 Abs. 3 S. 1 GVG erklärt hat, er halte an seiner Rechtsaufassung fest, die Frage gem. § 132 Abs. 2 GVG dem Großen Strafsenat des BGH vorlegen.
Inhalt der Entscheidung
Der Große Strafsenat hält mit der bisherigen Rechtsprechung des Vorgehen des Landgerichts für unzulässig. Die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen ist kein Teil der Vernehmung im Sinne von § 247 StPO. Deshalb begründet die fortdauernde Abwesenheit eines nach § 247 StPO während einer Zeugenvernehmung entfernten Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen regelmäßig den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO.
Reichweite des § 247 StPO
Nach § 247 StPO kann der Angeklagte während der „Vernehmung“ des Zeugen aus dem Sitzungszimmer entfernt werden. Entscheidende Frage ist somit, ob die Verhandlung über die Entlassung des Zeugen noch unter den Begriff der „Vernehmung“ fällt.
Wortlaut / Kein Anhaltspunkt in Historie
Der Wortlaut „Vernehmung“ lässt es, insbesondere im Hinblick auf den Zweck der Vorschrift, dem Zeugenschutz, durchaus zu, auch die Verhandlung über die Entlassung noch unter den Begriff der „Vernehmung“ zu fassen. Gesetzgebungsmaterialien oder Historie sind nicht aussagekräftig.
Charakter als Ausnahmevorschrift
Dem Anwesenheitsrecht des Angeklagten kommt im deutschen Strafprozess jedoch ein hoher Stellenwert zu (vgl.auch § 230 StPO). Es soll sein rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sichern und ist Grundvoraussetzung für ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 EMRK). Es kann nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, in denen andere gewichtige Belange entgegenstehen und eine Einschränkung seiner grundsätzlich zu gewährleistenden Anwesenheit verlangen, durchbrochen werden. Eine solche Ausnahme stellt § 247 StPO dar. Als Ausnahmevorschrift ist sie eng auszulegen.
Abwägung Interessen des Zeugen mit Rechten des Angeklagten
Ihre Reichweite darf nur soweit gehen, wie es zum Schutz der Zeugen zwingend erforderlich ist. Dabei ist die Reichweite in Abwägung mit dem Anwesenheitsrecht des Angeklagten zu finden.
Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ist der mit einem Ausschluss zwangsläufig verbundene Eingriff in die Autonomie des Angeklagten auf solche Verfahrenshandlungen zu beschränken, bei denen der jeweilige Schutzzweck den Ausschluss unbedingt erfordert. Entsprechend muss der Begriff der Vernehmung ausgelegt werden. Den Belangen des Zeugen- und Opferschutzes kann auch in den Grenzen der bisherigen Auslegung des Vernehmungsbegriffs in § 247 StPO hinreichend Rechnung getragen werden. Es ist nicht notwendig, den Angeklagten auch während der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen auszu-schließen, um jede Begegnung zwischen Angeklagtem und Zeugen zu vermeiden. Stattdessen kann das Gericht dem Zeugen erlauben, sich aus dem Sitzungssaal zu entfernen, solange der Angeklagte über die Zeugenaussage unterrichtet und über die Entlassung des Zeugen verhandelt wird. Während der Mitteilung der Entlassungsverfügung an den wieder im Sitzungssaal anwesenden Zeugen bzw. während dessen weiterer Befragung kann der Angeklagte erneut aus dem Sitzungssaal fern gehalten werden. Die mit einem Prozedieren in wechselseitiger Abwesenheit zwangsläufig verbundenen Umständlichkeiten sind vor dem Hintergrund der in Ausgleich zu bringenden Schutzgüter hinzunehmen.
Bei Verstoß regelmäßig absoluter Revisionsgrund gegeben
Die fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 Satz 1 oder 2 StPO entfernten Angeklagten ist regelmäßig geeignet, den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO zu begründen. Die Verhandlung über die Entlassung eines in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen ist grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung.Hierfür spricht bereits § 248 Satz 2 StPO. Diese Hervorhebung in einer eigenen Vorschrift belegt, dass das Gesetz der Verhandlung über die Entlassung und dem Entlassungsvorgang besondere Bedeutung – auch für das weitere Verfahren – beimisst. Im Übrigen bestimmt sich die Frage, ob ein Verfahrensteil als wesentlich einzuordnen ist, nach dem Zweck der jeweils betroffenen Vorschriften sowie danach, in welchem Umfang ihre sachliche Bedeutung betroffen sein kann. Nach dem Zweck der betroffenen Vorschriften ist die Entlassungsverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten grundsätzlich als wesentlich einzuordnen. Die das Anwesenheitsrecht und die Anwesenheitspflicht des Angeklagten betreffenden Vorschriften bezwecken auch, dem Angeklagten eine allseitige und uneingeschränkte Verteidigung zu ermöglichen, insbesondere durch Vornahme von Verfahrenshandlungen auf Grund des von ihm selbst wahrgenommenen Verlaufs der Hauptverhandlung.
Mögliche Heilung
Der Verstoß gegen das Anwesenheitsrecht des Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung kann allerdings geheilt werden, insbesondere wenn der Fehler während der Verhandlung bemerkt wird. Eine Heilung ist bereits dann anzunehmen, wenn der Angeklagte bei seiner Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO mitteilt, keine Fragen mehr an den Zeugen stellen zu wollen oder eine entsprechende Erklärung abgibt, nachdem die zu frühe Entlassung des Zeugen bemerkt wurde. Hat der Angeklagte noch Fragen, ist es auch möglich, den Zeugen noch einmal beizuladen.
Examensrelevanz
Ein schöner Fall für die mündliche Prüfung. Hier kann grundlegendes Verständnis für das im Strafprozessrecht immer wieder auftauchende Vorgehen, Auslegungsergebnisse durch Abwägung der Position des Angeklagten mit einer entgegenstehenden Rechtsposition zu finden, geprüft werden. Interessant macht den Fall, dass auf Grund der gut greifbaren Materie eine selbstständige Argumentation möglich ist.
Schlagwortarchiv für: Examen Strafrecht
Armin Engländer, Examens-Repetitorium Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2009 C.F.Müller, Heidelberg, 109 Seiten, € 14,50, ISBN 978-3-8114-9721-4
Das „Examens-Repetitorium zum Strafprozessrecht“ aus der Unirep Jura Reihe richtet sich an Jurastudenten, die sich das strafprozessuale Kernwissen für die StPO-Frage in der Examensklausur im Strafrecht und die mündliche Prüfung im 1. juristischen Staatsexamen aneignen wollen.
Inhalt
Nach einer kurzen Darstellung der Ziele, Quellen und Gang des Strafverfahrens, der Prozessvoraussetzungen und der Prozessmaximen wird in kompakter und strukturierter Form auf die examensrelevanten Probleme des Strafverfahrens eingegangen. In etwas mehr als 100 Seiten wird die Theorie durch Schaubilder und Übersichten sehr gut unterstützt. Anhand der Fälle und Lösungen, die auf höchstrichterlichen Entscheidungen basieren, aber gleichzeitig auch noch die Auffassungen des Schrifttums enthalten, kann man die Theorie direkt im Anschluss an die jeweiligen Themenkomplexe am Fall üben. Die Wiederholungsfragen am Ende ermöglichen eine zusätzliche Überprüfung des Lernerfolges.
Würdigung
Im Strafprozessrecht neigt man dazu, auf Lücke zu setzen, da am Ende ja doch nur eine verfahrensrechtliche Frage im Rahmen der Strafrechts Examensklausur gestellt wird. Da möchte man lieber die Lücken in „wichtigeren“ Rechtsgebieten schließen.
Positiv hervorzuheben ist, dass sich das Buch im Vergleich zu den klassischen StPO-Lehrbüchern wirklich auf die examensrelevanten Schwerpunkte im Strafverfahrensrecht beschränkt. Die Kombination von Theorie in Form von Übersichten, Schaubildern und Fällen, die an zentrale höchstrichterliche Entscheidungen angelehnt sind, hilft dem Examenskandidaten, sich durch dieses oftmals doch unbekannte und unbeliebte Rechtsgebiet zügig durchzuarbeiten. Dieses Buch eignet sich dank seiner kompakten und übersichtlichen Form sehr gut für die Vorbereitung des StPO-Teils im 1. Staatsexamen.