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Schlagwortarchiv für: Abwägung

Dr. Melanie Jänsch

BGH: Mieterhöhung trotz Irrtums über die Größe der Wohnung wirksam

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Zivilrecht

Mit am Dienstag veröffentlichtem Urteil vom 11.12.2019 (Az. VIII ZR 234/18) hat der BGH festgestellt, dass Mieterhöhungen selbst dann wirksam sein können, wenn der Berechnung jahrelang eine falsche Quadratmeterzahl zugrunde gelegt wurde – soweit die höhere Miete unter der ortsüblichen Vergleichsmiete bleibt. Ein Anspruch des Mieters auf Rückzahlung aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB bzw. eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB komme nicht in Betracht. Der Fall ist dabei nicht nur praktisch interessant, sondern erfordert auch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen rechtlichen Problemen wie der Behandlung des beiderseitigen Kalkulationsirrtums sowie den Voraussetzungen einer Vertragsanpassung nach § 313 BGB – die erhöhte Klausur- und Examensrelevanz liegt damit auf der Hand. Im Rahmen dieses Beitrags sollen daher die Grundzüge der Entscheidung dargestellt und erläutert werden.
 
Anmerkung: Einen ausführlichen Grundlagenbeitrag zur Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB  findet ihr hier.
 
A) Sachverhalt (leicht abgewandelt und vereinfacht)
Der Sachverhalt ist schnell erzählt: M war im Zeitraum vom 1.7.2006 bis zum 31.12.2014 Mieter einer Wohnung des V in D. Die ursprüngliche Kaltmiete belief sich auf 495 €, wobei der schriftliche Mietvertrag keine Angaben zur Größe der Wohnung enthielt. V übersandte dem M mit Schreiben vom 26.7.2007, 21.1.2009, 21.3.2011 und 28.6.2013 insgesamt vier Mieterhöhungsverlangen, in denen V ausgehend von einer Wohnfläche von 114 qm jeweils erhöhte Grundmieten errechnete, die allerdings immer noch deutlich unter der ortsüblichen Vergleichsmiete nach dem Mietspiegel der Stadt D. lagen, der den genannten Schreiben jeweils beigefügt war. M stimmte jedem Erhöhungsverlangen schriftlich zu und zahlte fortan die erhöhten Mieten. Im Jahre 2013 kamen dem M erstmals Zweifel über die Größe der Wohnung; er beauftragte einen Sachverständigen, welcher eine Größe von etwa 100 qm feststellte. Nunmehr begehrt der M Rückzahlung der vermeintlich zu viel gezahlten Miete.
 
B) Rechtsausführungen
Die Vorinstanz, das LG Dresden, hat unter teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Urteils den V zur Zahlung verurteilt. Der BGH hat das Urteil nunmehr aufgehoben – der M habe keinen Anspruch auf Rückzahlung der auf falscher Berechnungsgrundlage beruhenden Miete. Doch der Reihe nach:
 
I. Anspruch auf Rückzahlung aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
Ein Anspruch auf Rückzahlung aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB sei nicht gegeben. Zwar habe der V durch Leistung des M etwas erlangt; indes bestehe nach Ansicht des BGH unabhängig von der Einhaltung der mietrechtlichen Vorschriften nach §§ 558, 558a BGB ein Rechtsgrund in den wirksamen Vereinbarungen der Parteien über die Erhöhung der Miete. Denn die Vereinbarungen seien dahingehend auszulegen, dass sie sich in dem explizit genannten Betrag, auf den die Nettokaltmiete erhöht wurde, erschöpfen; nicht dagegen sei die Wohnfläche, die der Berechnung zugrunde gelegt wurde, Vertragsinhalt – hierbei handele es sich lediglich um den (insofern unerheblichen) Grund zur vom M akzeptierten Vertragsänderung. Ausdrücklich formuliert der BGH:

„Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es im Falle einer Zustimmung des Mieters zu einem Mieterhöhungsbegehren des Vermieters nicht darauf an, ob das Begehren des Vermieters den formellen Anforderungen des § 558a BGB entsprochen und dem Vermieter ein materieller Anspruch auf Zustimmung zu der begehrten Mieterhöhung (§ 558 Abs. 1 BGB) zugestanden hat. Denn durch die Zustimmung des Mieters zu einem Mieterhöhungsverlangen des Vermieters kommt – nach allgemeiner Meinung – eine vertragliche Vereinbarung zwischen Mieter und Vermieter über die Erhöhung der Miete zustande [..]. Dass eine solche vertragliche Vereinbarung neben den gesetzlich vorgesehenen einseitigen Mieterhöhungen und dem (gerichtlichen) Mieterhöhungsverfahren nach § 558, § 558b BGB möglich ist, ergibt sich aus § 557 Abs. 1 BGB. […]. Die hier in Rede stehenden Mieterhöhungsvereinbarungen sind dahin auszulegen, dass die Miete auf den darin jeweils explizit genannten neuen Betrag erhöht wird und nicht lediglich auf den geringeren Betrag, der sich durch Multiplikation des jeweils erhöhten Quadratmeterbetrages mit der tatsächlichen Wohnfläche ergibt. […] Gegenstand der vereinbarten Mieterhöhungen ist hier der jeweils genannte Betrag, auf den die Nettomiete für die Wohnung erhöht wurde. Bei der Wohnfläche, die zur Ermittlung dieser neuen (erhöhten) Miete genannt war, handelt es sich hingegen – ebenso wie bei der gleichfalls explizit angegebenen ortsüblichen Vergleichsmiete (je qm) – lediglich um den (nicht zum Vertragsinhalt gewordenen) Grund für die von den Beklagten angestrebte und vom Kläger akzeptierte Vertragsänderung.“ (Rn. 15 ff.)

Mit anderen Worten: Unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach §§ 558, 558a BGB können die Vertragsparteien privatautonom eine Mieterhöhung vereinbaren. Dies ist durch die Schreiben des V und die schriftlichen Zustimmungen des M sowie die darauffolgende Zahlung der erhöhten Mieten im vorliegenden Fall geschehen. Die Vereinbarung der Parteien ist dahingehend auszulegen, dass sich die Miete auf den in den Schreiben benannten Betrag erhöht. Die Wohnfläche, die als Berechnungsgrundlage angegeben wurde, ist hingegen nach Auslegung vom objektiven Empfängerhorizont nach §§ 157, 133 BGB kein Vertragsinhalt geworden, sodass der diesbezügliche gemeinsame Irrtum die Wirksamkeit der Abrede nicht hindert. Da ein Rechtsgrund besteht, scheidet ein Anspruch auf Rückzahlung aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB also aus.
 
Anmerkung: Ein Kalkulationsirrtum berechtigt grundsätzlich nicht zur Anfechtung nach § 119 BGB. Denn derjenige, der aufgrund einer für korrekt gehaltenen, tatsächlich aber unzutreffenden Berechnungsgrundlage einen bestimmten Preis oder eine Vergütungsforderung ermittelt und diese seiner Willenserklärung zugrunde legt, trägt das Risiko dafür, dass seine Kalkulation zutrifft. Insofern handelt es sich um einen unerheblichen Motivirrtum (BeckOK BGB/Wendlandt, 52. Edition, Stand: 01.11.2019, § 119 Rn. 33 m.w.N.). Liegt – wie hier – ein gemeinsamer Irrtum der Parteien vor, sind die Grundsätze zur Störung der Geschäftsgrundlage heranzuziehen (BeckOK BGB/Wendlandt, 52. Edition, Stand: 01.11.2019, § 119 Rn. 34).
 
II. Anspruch auf Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1, 2 BGB
Ein Anspruch auf Vertragsanpassung auf die jeweils geringere Miete nach den Grundsätzen zur Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1, 2 BGB erscheint denkbar. Als eine vom Grundsatz pacta sunt servanda abweichende Regelung betrifft die Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB den Fall, dass Umstände von vornherein fehlen oder nachträglich wegfallen, die für eine Vertragspartei so wesentlich sind, dass der Vertrag geändert oder aufgehoben werden muss, weil ein Festhalten am unveränderten Vertrag sich als unzumutbar darstellen würde.
 
1. Wegfall oder Fehlen der Geschäftsgrundlage

Erforderlich ist hierfür zunächst, dass es sich die Geschäftsgrundlage, also ein Umstand, dessen (Fort-)Bestand von jedenfalls einer Vertragspartei vorausgesetzt wurde – der zwar nicht Vertragsinhalt geworden ist, aber der nach der Intention zumindest einer Partei erforderlich ist, um den Vertrag als sinnvolle Regelung aufrechtzuerhalten, nachträglich weggefallen ist bzw. sich schwerwiegend verändert hat (§ 313 Abs. 1 BGB) oder von vornherein fehlt (§ 313 Abs. 2 BGB). Dies betrifft im vorliegenden Fall die Wohnfläche, die die Parteien aufgrund des beiderseitigen Kalkulationsirrtums den jeweiligen Mieterhöhungsvereinbarungen zugrunde gelegt haben.
 
2. Hypothetisches Element
Dieser Umstand, der von der Vertragspartei vorausgesetzt wurde, also im konkreten Fall die für größer gehaltene Wohnfläche, muss überdies so wesentlich sein, dass die Vertragspartei ohne ihn den Vertrag nicht bzw. zu anderen Konditionen abgeschlossen hätte. Hier muss also die Frage gestellt werden, ob die Partei den Vertrag ggf. mit anderem Inhalt abgeschlossen hätte, wenn sie die wesentliche Veränderung des Umstands vorhergesehen hätte. Im betreffenden Fall ist bereits fraglich, ob die Parteien bei Kenntnis der tatsächlichen Wohnfläche die Mieterhöhungsvereinbarungen nicht oder nicht mit demselben Inhalt geschlossen hätten. Dagegen könnte sprechen, dass sich die vereinbarte erhöhte Miete noch deutlich unter der ortsüblichen Vergleichsmiete befand sowie dass die Voraussetzungen des § 558 BGB, unter denen der V ohnehin ein berechtigtes Verlangen nach einer Mieterhöhung gehabt hätte, vorlagen; dies kann als Indiz gewertet werden. Gleichwohl hat der M „in den Tatsacheninstanzen vorgetragen, dass es ihm auf die Wohnfläche entscheidend angekommen sei und er bei Kenntnis der wahren Wohnfläche einer Mieterhöhung nicht zugestimmt, sondern dass Mietverhältnis gekündigt hätte.“ (Rn. 22) Vor diesem Hintergrund kann auch davon ausgegangen werden, dass die tatsächliche Wohnfläche als derart wesentliche Geschäftsgrundlage einzuordnen ist, dass der M in deren Kenntnis den Vertrag so nicht abgeschlossen hätte. Der BGH hat dies letztlich offen gelassen, da es ohnehin an der Unzumutbarkeit mangelte.
 
3. Normatives Element
Denn: In einem dritten Schritt ist zu prüfen, ob der Partei das Festhalten am unveränderten Vertrag zugemutet werden kann. Hierbei handelt es sich um eine Wertungsentscheidung, die eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls erfordert. Wie § 313 Abs. 1 BGB vorgibt, fließen hierbei insbesondere vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilungen ein. Unzumutbarkeit ist folglich nicht gegeben, wenn es sich um einen Umstand handelt, der dem Risikobereich der Vertragspartei zuzuordnen ist. Dass gemeinsame Irrtümer der Vertragsbeteiligten, die zu einer fehlerhaften Berechnung auf einer als maßgeblich erachteten Berechnungsgrundlage geführt haben, eine Anpassung über § 313 BGB rechtfertigen können, entspricht der wohl herrschenden Meinung (exemplarisch MüKoBGB/Finkenauer, 8. Aufl. 2019, § 313 Rn. 278). Dies hat der BGH unter anderem in einer Entscheidung aus dem Jahre 2004 explizit für Grundstücksflächen im Kontext eines Kaufvertrages entschieden:

„Ist bei dem Verkauf einer noch zu vermessenden Grundstücksfläche der Kaufgegenstand in der notariellen Urkunde sowohl durch eine bestimmte Grenzziehung in einem maßstabsgerechten Plan als auch durch eine als ungefähr bezeichnete Flächenmaßangabe bestimmt, kommt die Anpassung oder Auflösung des Vertrags nach den Grundsätzen vom Fehlen der Geschäftsgrundlage in Betracht, wenn die Parteien bei Vertragsschluss übereinstimmend davon ausgingen, dass die Größe der zeichnerisch dargestellten Fläche in etwa der bezifferten Flächengröße entspricht und das Ergebnis der Vermessung davon wesentlich abweicht“ (Urt. v. 30.1.2004 – V ZR 92/03, NJW-RR 2004, 735)

Eine noch höhere Relevanz erlangt in diesem Kontext ein anderes Urteil, ebenfalls aus dem Jahre 2004, in dem der BGH feststellte, dass für ein Mieterhöhungsverlangen nicht die vereinbarte, sondern die tatsächliche Größe der Wohnung entscheidend ist, denn ansonsten könnte der Vermieter eine Miete erzielen, die über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegt (s. BGH, Urt. v. 07.07.2004 – VIII ZR 192/03, BeckRS 2004, 07041).
In Abgrenzung hierzu hat der BGH in der aktuellen, hier zu besprechenden Entscheidung nunmehr aber die Zumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag bejaht. Zwar hat der BGH herausgestellt, die (richtige) Ermittlung der Wohnfläche sei grundsätzlich der Risikosphäre des Vermieters zuzuordnen (Rn. 24; s. auch Urt. v. 7.7.2004 – VIII ZR 192/03, aaO unter II 2 a sowie v. 18.11.2015 – VIII ZR 266/14, BGHZ 205, 18 Rn. 28). Dennoch bestehe im konkreten Fall die Besonderheit, dass die unzutreffende Berechnungsgrundlage sich schon deswegen nicht zu Lasten des Mieters ausgewirkt habe, weil dem Vermieter letztlich auch bei Berücksichtigung der tatsächlichen Wohnfläche ein Anspruch auf Zustimmung zur begehrten Mieterhöhung nach § 558 Abs. 1 BGB zugestanden hätte:

„Jedenfalls spricht nichts dafür, dass sich die wirtschaftliche Situation des Klägers in irgendeiner Weise günstiger dargestellt hätte, wenn er bei Kenntnis der tatsächlichen Wohnfläche eine Mieterhöhung abgelehnt und das Mietverhältnis gekündigt hätte. Denn in diesem Fall wären dem Kläger durch die Suche einer neuen Wohnung Mühen und Kosten entstanden und ist nicht ersichtlich, dass anderweit eine vergleichbare Wohnung zu einer unterhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete liegenden Miete zur Verfügung gestanden hätte. Der den Beklagten bei den Mieterhöhungsbegehren bezüglich der Wohnfläche unterlaufene Fehler hatte somit für den Kläger keine negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, so dass ihm ein unverändertes Festhalten an den Vereinbarungen auch zumutbar ist. Da eine Anpassung der Mieterhöhungsvereinbarungen auf eine jeweils geringere Miete somit nicht in Betracht kommt, besteht der Rechtsgrund für die vom Kläger erbrachten (erhöhten) Mietzahlungen fort.“ (Rn. 26)

Der BGH lehnt also auch einen Anspruch aus § 313 Abs. 1, 2 BGB auf Vertragsanpassung mangels Unzumutbarkeit ab.
 
C) Fazit
Zusammenfassend gilt: Eine Mieterhöhung kann auch dann wirksam sein, wenn die Wohnung tatsächlich kleiner ist als vom Vermieter im Rahmen der Berechnung zugrunde gelegt. Ein Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB kommt mangels fehlenden Rechtsgrundes dann nicht in Betracht, wenn eine wirksame Parteivereinbarung vorliegt, die dahingehend auszulegen ist, dass ausschließlich der konkret genannte Betrag und nicht die der Berechnung zugrunde gelegte Wohnfläche Vertragsinhalt geworden ist. Auch eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen zur Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1, 2 BGB scheidet aus, wenn ein Festhalten am Vertrag dem Mieter mangels negativer wirtschaftlicher Auswirkungen durch die Mieterhöhungsabrede zumutbar ist. Das ist dann der Fall, wenn die Miete unter der ortsüblichen Vergleichsmiete bleibt. Anderes kann sich aber dann ergeben, wenn durch die auf falscher Berechnungsgrundlage beruhende Erhöhungsvereinbarung zu einer Miete führt, die die ortsübliche Vergleichsmiete übersteigt. In einer Klausur sollte daher genaues Augenmerk auf die im Sachverhalt konkret genannten Aspekte gelegt werden, um anhand dieser eine Zumutbarkeitsabwägung vornehmen zu können.
 
 

06.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Melanie Jänsch
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2020-02-06 09:05:562020-02-06 09:05:56BGH: Mieterhöhung trotz Irrtums über die Größe der Wohnung wirksam
Dr. Sebastian Rombey

BVerwG: Kükentöten bleibt rechtmäßig – vorerst

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Das BVerwG hat mit Entscheidung v. 13. Juni 2019 (Az. 3 C 28.16 und 3 C 29.16) ein extrem examensrelevantes Grundsatzurteil gefällt, das politisch brisanter und juristisch spannender kaum sein könnte. Es geht um die Frage, ob die ca. 45 Millionen männlichen Küken, die jährlich in Deutschlands Legehennenbetrieben schlüpfen, direkt nach dem Schlüpfvorgang geschreddert oder vergast werden dürfen, da sie weder Eier legen noch für die Fleischproduktion geeignet sind. Das scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zum TierSchG zu stehen, ist aber europaweite Praxis und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll. Das eigentlich schon für Mitte Mai angekündigte und erst jetzt auf Grund erhöhten Beratungsbedarfs ergangene BVerwG-Urteil beendet einen jahrelang erbittert geführten Streit und erlaubt das Kükentöten – vorerst. Es soll solange zulässig bleiben, bis praxistaugliche Methoden zur Geschlechtsbestimmung der Eier vor dem Schlüpfen auch für Betriebe der Massentierhaltung einsatztauglich sind. Im Einzelnen:
I. Entscheidungskontext: Sachverhalt und Hintergründe
Das im Jahre 2015 (Kabinett Kraft II) noch grün geführte NRW-Umweltministerium richtete an die Kreisordnungsbehörden des Landes einen Erlass, wonach die Tötung männlicher Küken nicht mit dem TierSchG zu vereinbaren sei. Diesem Erlass folgend erließ der Kreis Paderborn (Gleiches geschah im Kreis Gütersloh) gegen einen Legehennenbetrieb nach vorheriger Anhörung das mit einer Übergangsfrist zum 1. Januar 2017 versehene Verbot der Tötung männlicher Küken (sog. Eintagsküken), wobei kranke respektive nicht schlupffähige Küken ausgenommen wurden. Zur Begründung verwies der Kreis darauf, dass kein vernünftiger Grund für die Tötung der männlichen Küken bestehe; insbesondere die von dem Legehennenbetrieb angeführten wirtschaftlichen Interessen seien hierfür nicht ausreichend. Die gesellschaftlichen Anschauungen hätten sich – auch vor dem Hintergrund des mittlerweile in Art. 20a GG normierten Staatsziels des Tierschutzes – derart gewandelt, dass eine Direkttötung nach dem Schlüpfvorgang nicht mehr gerechtfertigt werden könne. Gegen diese auf § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG gestützte Ordnungsverfügung wandte sich der adressierte Legehennenbetrieb mit der Begründung, dass sich ein Verzicht auf diese Praxis existenzgefährdend auswirke, grundrechtliche Gewährleistungen (Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG) verletzt seien deshalb § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage darstelle.
Das OVG Münster gab der Anfechtungsklage des Legehennenbetriebs mit Urteil v. 20. Mai 2016 (Az. 20 A 530/15 und 20 A 488/15) statt und ging dabei davon aus, dass § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG trotz der grundrechtlichen Relevanz eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für behördliches Handeln bilde und die ins Feld geführten ökonomischen Interessen als vernünftiger Grund anzusehen seien. Die dagegen gerichtete Revision wurde nun vom BVerwG abgewiesen, auch wenn die Leipziger Richter eine Hintertür offen lassen, die dann zu durchschreiten ist, wenn praxistaugliche Alternativen zur Geschlechtsbestimmung vor dem Schlüpfvorgang einsatzbereit sind.
II. Die Entscheidung des BVerwG (PM Nr. 47/2019 v. 13. Juni 2019)
Die angegriffene Ordnungsverfügung des Kreises ist rechtswidrig, soweit der Inhaber des Legehennenbetriebs hierdurch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Da es sich bei dem Verbot des Kükentötens um einen VA mit Dauerwirkung handelt, ist ausnahmsweise auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen.
1. § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG als taugliche Ermächtigungsgrundlage?
Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 2, 28 Abs. 1 GG) folgt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, zu dem der Vorbehalt des Gesetzes gehört. Deshalb bedarf es für ein behördliches Handeln im Bereich der Eingriffsverwaltung einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage, die in § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG zu erblicken sein könnte. Danach trifft die „zuständige Behörde […] die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen.“ Zwar handelt es sich hierbei fraglos um eine Ermächtigungsgrundlage, unklar ist indes, ob diese vor dem Hintergrund des Parlamentsvorbehalts ausreichend sein kann, wenn grundrechtliche Gewährleistungen wie hier der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb nach Art. 14 Abs. 1 GG sowie die Unternehmensfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG in starker Weise eingeschränkt werden. Denn derart wesentliche Entscheidungen sind unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten dem Grundsatz nach durch den Gesetzgeber zu treffen. Dennoch ist es überzeugender, von einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage auszugehen. Da das Urteil des BVerwG noch nicht im Volltext vorliegt, müssen die vom BVerwG bestätigten Erwägungen des OVG Münster an dieser Stelle herangezogen werden (Rn. 21):

„Die Vorschrift bildet die allgemeine Ermächtigungsgrundlage zum Erlass behördlicher Anordnungen zur Durchsetzung des Tierschutzrechts. Sie begründet nach ihrem Wortlaut sowie ihrem Sinn und Zweck für die zuständige Behörde die generelle Befugnis, durch Verwaltungsakt vorbehaltlich spezieller Vorschriften Regelungen zur Einhaltung des Tierschutzrechts zu treffen. Die Befugnis wird durch § 16a Abs. 1 Satz 2 TierSchG für beispielhaft genannte Fallgruppen („insbesondere“), in denen die Behörde im Einzelnen beschriebene Anordnungen erlassen bzw. Maßnahmen ergreifen darf, konkretisiert und für weitere Konstellationen unter anderem durch § 16a Abs. 2 und 3 TierSchG ergänzt.“

Dass es sich um eine Generalklausel handelt, ist ebenso wenig problematisch, da auf Tatbestandsseite ein Verstoß gegen das TierSchG und auf Rechtsfolgenseite notwendige Anordnungen getroffen werden; beides ist einzelfallgerecht und im Einklang mit höherrangigem Recht (insbesondere im Einklang mit dem Grundgesetz) auszulegen, zumal die Beschränkung der Anordnungen auf das Notwendige den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 15 OBG NRW) zum Ausdruck bringt. Deshalb bildet die Generalklausel des § 16 Abs. 1 S. 1 TierSchG eine taugliche Ermächtigungsgrundlage.
2. Formelle Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung
In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken gegen die durch den zuständigen Kreis nach vorheriger Anhörung erlassene, schriftlich begründete Ordnungsverfügung, § 28 Abs. 1 VwVfG NRW, § 39 Abs. 1 VwVfG NRW i.V.m. § 20 OBG NRW.
3. Materielle Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung
Materiell ist die Ordnungsverfügung rechtmäßig, wenn sie die Voraussetzungen des § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG wahrt, die Tötung der männlichen Eintagsküken also gegen das TierSchG verstößt. In Betracht kommt ein Verstoß gegen § 1 S. 2 TierSchG, wonach Niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf. Dieses allumfassende Verbot sichert Art. 20a GG einfachgesetzlich ab.
a) Bestimmtheitsbedenken gegen § 1 S. 2 TierSchG bestehen nicht
Zunächst könnte man sich fragen, ob § 1 S. 2 TierSchG überhaupt mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG hinreichend bestimmt ist. Dies deshalb, weil ein solches in Grundrechte eingreifendes und mittels § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG abgesichertes Verbot möglicherweise genauer angeben müsste, was genau als vernünftiger Grund zum Töten eines Tieres im Sinne von § 1 S. 2 TierSchG anzusehen ist und was nicht. Wie immer reicht aber die Bestimmbarkeit einer Regelung aus, um dem Bestimmtheitsgrundsatz zu genügen. Maßstab ist die Frage, ob durch Auslegung mittels des Savigny’schen Auslegungskanons eine Konkretisierung des Blankettbegriffs möglich ist. Da § 1 S. 2 TierSchG systematisch im Kontext mit der Staatszielbestimmung aus Art. 20a GG zu lesen ist und überdies selbst angibt, dass das Tier als Mitgeschöpf stark beeinträchtigt sein muss – genannt werden Schmerzen, Leiden und Schäden -, kann im Einzelfall ermittelt werden, was erfasst sein soll und was nicht. Ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ist damit nicht anzunehmen.
b) Doch: Was ist ein vernünftiger Grund zum Töten eines Tieres? Interessenabwägung bereits auf Tatbestandsebene
Um zu ermitteln, ob die angeführten ökonomischen Interessen des Legehennenbetriebs einen vernünftigen Grund zum Töten der Küken darstellen können, ist bereits auf Tatbestandsebene eine Interessenabwägung zwischen dem menschlichen Nutzungsinteresse einerseits und dem Tierschutz andererseits durchzuführen. Dazu das BVerwG in seiner Pressemitteilung:
„Das Tierschutzgesetz schützt – anders als die Rechtsordnungen der meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – nicht nur das Wohlbefinden des Tieres, sondern auch sein Leben schlechthin. Vernünftig im Sinne dieser Regelung ist ein Grund, wenn das Verhalten gegenüber dem Tier einem schutzwürdigen Interesse dient, das unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse am Schutz des Tieres. Im Lichte des im Jahr 2002 in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels Tierschutz beruht das Töten der männlichen Küken für sich betrachtet nach heutigen Wertvorstellungen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund. Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung nur weibliche Küken zu erhalten. Anders als Schlachttiere werden die männlichen Küken zum frühestmöglichen Zeitpunkt getötet. Ihre „Nutzlosigkeit“ steht von vornherein fest. Zweck der Erzeugung sowohl der weiblichen als auch der männlichen Küken aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung ist allein die Aufzucht von Legehennen. Dem Leben eines männlichen Kükens wird damit jeder Eigenwert abgesprochen. Das ist nicht vereinbar mit dem Grundgedanken des Tierschutzgesetzes, für einen Ausgleich zwischen dem Tierschutz und menschlichen Nutzungsinteressen zu sorgen.“
Kurzum:Das Leben eines Tieres hat einen Eigenwert. Und: Wirtschaftliche Interessen allein rechtfertigen die Tötung von Tieren nicht. Damit tritt das BVerwG der Auffassung des OVG Münster entgegen. Dieses hatte noch angeführt, dass der mit der Aufzucht der Küken verbundene wirtschaftliche Aufwand nicht lohne und mit der menschlichen Nutzung der Hennen zur Eier- und Fleischproduktion eine Tötung der männlichen Küken einhergehe. Dies sei – so das OVG Münster in Rn. 47 – gerade „kein Mangel an Achtung der Tiere in ihrer Mitgeschöpflichkeit, sondern wird als solches angesichts der hergebrachten und nach wie vor weithin verbreiteten sowie rechtlich und gesellschaftlich akzeptierten Ernährung von Menschen durch tierische Lebensmittel von vernünftigen Gründen im Sinne von § 1 S. 2 TierSchG getragen.“
c) Der gesellschaftliche Wandel als „strafbarkeitsbegründender“ Faktor?
Überzeugender noch sind die Erwägungen des OVG Münster zu den gewandelten gesellschaftlichen und ethischen Anschauungen, denn: Könnten diese eine abweichende Beurteilung rechtfertigen, wäre im Ergebnis – ohne gesetzgerbisches Tätigwerden! – die Tötung nach § 17 Nr. 1 TierSchG strafbar. Mit Art. 103 Abs. 2 GG sowie § 1 StGB sei dies unvereinbar. Ein durchaus berechtigter Einwand, der nicht so leicht übergangen werden kann. Man wird die Urteilsgründe des BVerwG hierzu abwarten müssen.
d) Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen hinreichend belegt?
Und noch ein weiteres tritt hinzu: Es erscheint unklar, ob sich die gesellschaftlichen Anschauungen überhaupt so stark verändert haben. Zugegeben: Tierschutz ist in den vergangenen Dekaden immer wichtiger geworden, Art. 20a GG belegt dies eindrucksvoll, Menschen ernähren sich gesünder und im Zuge dessen steigt auch das Bewusstsein für andere Mitgeschöpfe, wie sich u.a. auch an der stetig wachsenden Zahl an Vegetariern und Veganern zeigt. Und dennoch: Die größte Anzahl der Verbraucher ist nicht bereit, für den Tierschutz mehr Geld auszugeben (s. die Recherchen von Julia Löhr unter dem Titel „Flauschig, männlich – tot“ in der FAZ v. 13.06.2019). Schließlich bestehen auf dem Markt (etwa bei REWE, aber auch bei Discountern wie ALDI) schon jetzt Möglichkeiten, Eier zu kaufen, die nach dem „Seleggt“-Verfahren zuvor auf ihr Geschlecht hin bestimmt wurden, männliche Küken also nicht getötet werden mussten. Aber der Preis treibt. Der Unterschied liegt im einstelligen Cent-Bereich pro Ei im Vergleich zur herkömmlichen Produktion. Durchgesetzt haben sich diese Produkte jedenfalls in der breiten Masse nicht. Haben sich die gesellschaftlichen Anschauungen also wirklich derart gewandelt, dass man allgemeinhin bereit wäre, sein Ess- und Kaufverhalten dem Tierschutz anzupassen? Billigeier aus Bodenhaltung oder zusammengeklebtes Formfleisch aus Massentierhaltung zählen unverändert zu den Verkaufsschlagern. Das wird man nicht wegdiskutieren können – ein erster Kritikpunkt an den Ausführungen des BVerwG.
e) „Doppelte Umstellung“ durch Legehennenbetriebe als vernünftiger Grund
Auch wenn die wirtschaftlichen Interessen für sich genommen die Tötung der Küken nicht zu rechtfertigen mögen und damit ein Verstoß gegen § 1 S. 2 TierSchG eigentlich angenommen werden müsste, wäre es – so das BVerwG – unverhältnismäßig, einen vernünftigen Grund gänzlich abzulehnen. Denn eine in der Folge auf § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG gestützte Verbotsverfügung zöge für den Legehennenbetrieb eine doppelte Umstellung nach sich: Einerseits müssten die männlichen Küken aufgezogen und dürften dann nicht mehr getötet werden, andererseits müssten Verfahren zur Geschlechtsbestimmung der Eier implementiert werden. Dazu das BVerwG in seiner Pressemitteilung:
„Die bisherige Praxis wurde allerdings – ausgehend von einer damaligen Vorstellungen entsprechenden geringeren Gewichtung des Tierschutzes – jahrzehntelang hingenommen. Vor diesem Hintergrund kann von den Brutbetrieben eine sofortige Umstellung ihrer Betriebsweise nicht verlangt werden. […] Ohne eine Übergangszeit wären die Brutbetriebe gezwungen, zunächst mit hohem Aufwand eine Aufzucht der männlichen Küken zu ermöglichen, um dann voraussichtlich wenig später ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei einzurichten oder ihren Betrieb auf das Ausbrüten von Eiern aus verbesserten Zweinutzungslinien umzustellen. Die Vermeidung einer solchen doppelten Umstellung ist in Anbetracht der besonderen Umstände ein vernünftiger Grund für die vorübergehende Fortsetzung der bisherigen Praxis.“
f) Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen durch die Hintertür der Zumutbarkeit?
Ob das wirklich überzeugen kann – und das ist der zweite Kritikpunkt – erscheint fraglich, aber auch hier wird man die nähere Urteilsbegründung abwarten müssen. Richtig ist, dass auf Grund der grundrechtlichen Gewährleistungen ein sofortiges Verbot nicht möglich gewesen wäre. Ob die Notwendigkeit einer doppelten Umstellung jedoch einen vernünftigen Grund bildet oder nicht vielmehr erst auf Rechtsfolgenseite bei § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG hätte berücksichtigt werden können, sodass im Ergebnis zwar ein Verstoß gegen § 1 S. 2 TierSchG vorliegt, aber die Anordnung eines Sofortverbots nicht „notwendig“ im Sinne der Vorschrift ist, harrt der näheren Betrachtung. Die Pressemitteilung jedenfalls klingt im Ansatz wertungswidersprüchlich: Denn wenn man im ersten Atemzug den wirtschaftlichen Interessen die Fähigkeit abspricht, einen vernünftigen Grund zur Tötung von Tieren bilden zu können, um sodann im zweiten Atemzug zu sagen, dass von den Legehennenbetrieben aber „nicht verlangt“ werden könne, die Tötungen umgehend einzustellen, klingt dies nach einer Berücksichtigung ökonomischer Interessen „durch die Hintertür“ der Zumutbarkeit. Denn auch wenn das BVerwG das nicht so sagt, kann man es von den Legehennenbetrieben allein wirtschaftlich nicht verlangen, eine doppelte Umstellung vorzunehmen. Eleganter wäre es deshalb m.E. gewesen, auf Rechtsfolgenseite einem Sofortverbot die Notwendigkeit abzusprechen.
g) Ergebnis: In der Sache ändert sich wenig
So oder so: Am Ende steht die Zulässigkeit der Kükentötung bis auf weiteres, oder besser gesagt solange, bis eine praxistaugliche Alternative in den Massentierhaltungsbetrieben etabliert werden kann. Einen zeitlichen Rahmen für diese Übergangsfrist hat das BVerwG freilich nicht bestimmt – allzu schnell wird sich in der Sache also nur wenig ändern, auch wenn das Bundeslandwirtschaftsministerium schon seit längerer Zeit Geld in die Fortentwicklung der Methoden zur Geschlechtsbestimmung investiert.
III. Fazit: Zulässigkeit des Kükentötens auf Abruf
Der CO-Chef der Grünen, Robert Habeck, ließ sich direkt nach Urteilsverkündung zu der Bemerkung hinreißen, es handele sich um „enttäuschendes Kükenurteil“, er freue sich aber immerhin darüber, dass die Debatten über die Thematik in der Öffentlichkeit nun wieder befeuert würden, während verschiedene Tierschutzvereine drastischere Worte fanden und abermals ihren Forderungen nach einem sofortigen Stopp der Tötungspraxis Ausdruck verliehen. Julia Klöckner, derzeit Bundeslandwirtschaftsministerin und stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende, sprach sich ebenso für ein schnelles Ende des Tötens aus, das „ethisch nicht vertretbar“ sei, wies aber zugleich darauf hin, dass die Verfahren zur Geschlechtsbestimmung erst noch weiterentwickelt werden müssten. Diese Aussage wiederum stieß auf Kritik des Koalitionspartners, so sagte z.B. der SPD-Agrarpolitiker Rainer Spiering, dass die entsprechenden Verfahren längst durch das Landwirtschaftsministerium hätten entwickelt werden müssen; wäre dies passiert, hätte die BVerwG-Entscheidung anders ausfallen können. Friedrich-Otto Ripke, Präsident des Zentralverbands Deutsche Geflügelwirtschaft dagegen machte deutlich, dass man zwar ebenso an der Entwicklung passgenauer Methoden zur Geschlechtsbestimmung interessiert sei, hierdurch die Produktionszahl von 100.000 Eiern pro Sortiermaschine aber nicht gefährdet werden dürfe. Vielfach wurde das als Drohung aufgefasst, die Produktion anderenfalls ins EU-Ausland zu verlagern, wo derartige Auflagen überwiegend nicht bestehen und schon heute rund die Hälfte der in Deutschland verzehrten Eier produziert wird.
Man sieht: Kein Lager ist mit dem Urteil vollends zufrieden – das belegt die Ausgewogenheit der Entscheidung, jedenfalls im Ergebnis. Was die juristische Begründung in den Details angeht, wird man die Veröffentlichung des Urteils im Volltext hinsichtlich einiger – nach hiesiger Auffassung – kritischer Punkte mit Spannung erwarten können.

17.06.2019/5 Kommentare/von Dr. Sebastian Rombey
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Sebastian Rombey https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Sebastian Rombey2019-06-17 09:42:462019-06-17 09:42:46BVerwG: Kükentöten bleibt rechtmäßig – vorerst
Tom Stiebert

BVerfG: Neues zum Prüfungsumfang im einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Fragen des einstweiligen Rechtsschutzes sind bei Studierenden häufig unbeliebt. Dies rührt insbesondere daher, dass bei Klausuren im Ersten Examen der praxisrelevante Unterschied zwischen Hauptsacheverfahren und vorläufigem Rechtsschutz hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs oftmals nicht deutlich wird. Zwar werden in Klausuren im Regelfall die Begrifflichkeiten der „summarischen Prüfung“ und der Abwägung des Suspensivs- und Vollzugsinteresses genannt werden, was sich genau dahinter verbirgt, bleibt aber oft unklar. Dies resultiert daher, dass der Sachverhalt – im Gegensatz zur Wirklichkeit – im Ersten Examen stets auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren schon abschließend feststeht.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 14.9.2016 (1 BvR 1335/13) nun über den notwendigen Prüfungsmaßstab im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu entscheiden. Der Prüfungsmaßstab wurde hier nochmals konkretisiert.
I. Sachverhalt
Zugrunde lag folgende Konstellation:

Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin eines unbebauten, bewaldeten Grundstücks, das zwischenzeitlich für den Braunkohletagebau Cottbus-Nord in Anspruch genommen worden ist.

Mit Beschluss vom 1. Oktober 2012 entzog die zuständige Behörde der Beschwerdeführerin das Eigentum an ihrem Grundstück und übertrug es zur bergbaulichen Nutzung auf die Betreiberin des Braunkohletagebaus. Die Betreiberin wurde zudem unter Anordnung der sofortigen Vollziehung vorzeitig in den Besitz des Grundstücks eingewiesen. Rechtsgrundlage hierfür ist § 116 BauGB. Hiergegen erhob die Eigentümerin Klage zum VG, über die bislang noch nicht entschieden wurde. Zudem beantragte sie Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO, der vom zuständigen VG abgelehnt wurde. Auch die hiergegen gerichtete Beschwerde war erfolglos.

Das Gericht nahm dabei zunächst eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache vor, die zu keinem Ergebnis führte, da noch nicht absehbar war, wie die Rechtssache in der Hauptsache entschieden würde. Da folglich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache weder das Vollzugs- noch das Suspensivinteresse begründen konnten, war eine Folgenabwägung vorzunehmen. Diese ging aus Sicht des VG zulasten der Beschwerdeführerin aus, da eine Stattgabe des Eilantrags voraussichtlich zu einem mehrmonatigen Stillstand des Tagebaus führen würde und dies folglich eine schwerwiegende Einschränkung darstelle.

II. Rechtliche Würdigung

Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Der Anspruch auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist verletzt. Gerügt wurde der fehlerhafte Prüfungsmaßstab des Verwaltungsgerichts im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO.

Der Bürger hat einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG kommt auch die Aufgabe zu, irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>).

Gerade im Hinblick hierauf ist die Herbeiführung des Suspensiveffekts von Rechtsmitteln notwendig. Auch dies darf aber nicht grenzenlos erfolgen.

Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (vgl. BVerfGE 35, 382 <402>).

Hier zeigt sich also, dass die Interessensabwägung im einstweiligen Rechtsschutz auf verfassungsrechtlichem Fundament ruht.

Dennoch – so das BVerfG – genügt im Regelfall eine summarische Prüfung, das heißt insbesondere ein Verzicht auf Beweiserhebungen. Allerdings weist das Gericht auch darauf hin, das grundgesetzliche Wertungen eine abweichende Behandlung im Einzelfall zur Folge haben können:

Grundsätzlich ist bei der Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eine summarische Prüfung verfassungsrechtlich unbedenklich; die notwendige Prüfungsintensität steigt jedoch mit der drohenden Rechtsverletzung, die bis dahin reichen kann, dass die Gerichte unter besonderen Umständen – wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen – dazu verpflichtet sein können, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. BVerfGE 79, 69 <74 f.>).

Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Verletzung des grundrechtlichen Kernbereichs erfolgen könnte. Hier gebietet sich eine genaue Prüfung angelehnt an das Hauptsacheverfahren. Insbesondere gilt dies bei Enteignungen, die einen besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstellen.

Droht einem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl. BVerfGE 79, 69 <75>; 94, 166 <216>). Denn in diesen Fällen kann das Fachgericht nur im einstweiligen Rechtsschutz eine endgültige Grundrechtsverletzung verhindern.

Dies wurde durch das Verwaltungsgericht verkannt. Es prüfte allein summarisch, ohne zu beachten, dass der Kernbereich des Art. 14 GG betroffen war und demnach eine eingehendere Prüfung geboten war.

Das Gericht hat sich auf eine Folgenabwägung zurückgezogen, ohne zuvor zu versuchen, dem verfassungsrechtlichen Gebot der tatsächlichen und rechtlichen Durchdringung des Falles angesichts der drohenden Schaffung vollendeter Tatsachen nach Möglichkeit gerecht zu werden, weil nur durch sein Eingreifen im einstweiligen Rechtsschutz die Grundrechtsverletzung hätte vermieden werden können.

Insofern waren die Beschlüsse des Verwaltungsgericht fehlerhaft und verstießen gegen Art. 19 Abs. 4 GG.

III. Examensrelevanz

Das Verständnis juristischer Strukturen ist äußerst wichtig, um in der Klausur tatsächlich eine sehr gut verwertbare Lösung zu liefern. Bloßes Auswendiglernen hat vielerorts seine Grenzen. Insofern ist der Beschluss des BVerfG sehr nützlich. Es zeigt zunächst deutlich die Hintergründe des Prüfungsumfangs einer summarischen Prüfung auf. Hier endet es aber nicht, sondern betont wegen der überragenden Bedeutung der Grundrechte im Einzelfall einen abweichenden Prüfungsmaßstab. Bloßes Auswendiglernen wäre hier also wenig zielführend, würde man doch sonst einfach die Begrifflichkeiten „summarische Prüfung“ und „Interessensabwägung“ verwenden, ohne auf das eigentliche Problem zu stoßen.

Insbesondere für eine mündliche Prüfung eignet sich der Fall äußerst gut, da er viele Abzweigungen ermöglicht. So kann die Prüfung des Art. 14 GG ebenso wie Grundsätze des einstweiligen Rechtsschutzes abgefragt werden. Ebensogut kann der Prüfer aber die Antworten des Prüflings auf Systemverständnis überprüfen. Hier zeigt sich schnell, wer „nur“ gelernt hat und wer wirklich die Konstellation verstanden hat. Insofern lohnt es sich, für diese Konstellation etwas Zeit in der Vorbereitung aufzuwenden.

20.10.2016/0 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2016-10-20 14:30:062016-10-20 14:30:06BVerfG: Neues zum Prüfungsumfang im einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO
Dr. Maximilian Schmidt

BVerfG zu anwaltlicher Schockwerbung: Über Geschmack lässt sich streiten?!

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Ein Nichtannahmebeschluss des BVerfG v. 5.3.2015 – 1 BvR 3362/14 hat eine Diskussion über die Zulässigkeit anwaltlicher Schockwerbung ausgelöst. Der zugrunde liegende Sachverhalt sollte für das Examen bekannt sein, da eine ausführliche Grundrechtsprüfung erfordert wird und alte Judikate mit neuen Problemen verbunden werden – kurz gesagt: Prüfer werden sich die Hände reiben. Der Beitrag soll die Entscheidung und deren Gründe darstellen und zugleich mögliche Ansatzpunkte für eine weiterführende Prüfung oder kritische Auseinandersetzung liefern.
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen)

„Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. Er bat die zuständige Rechtsanwaltskammer, die spätere Beklagte des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagte), um Prüfung der berufsrechtlichen Zulässigkeit einer von ihm beabsichtigten Werbemaßnahme. Es handelte sich dabei um Tassen mit der – durchgestrichenen – Abbildung einer Frau, die mit einem Knüppel auf das entblößte Gesäß eines Kindes schlägt. Neben der Abbildung sollten der Text „Körperliche Züchtigung ist verboten § 1631 Abs. 2 BGB“ sowie der Name, die Berufsbezeichnung „Rechtsanwalt“ und die Kontaktdaten des Beschwerdeführers abdruckt werden. Die Beklagte teilte dem Beschwerdeführer mit, dass sie die Werbemaßnahme wegen eines Verstoßes gegen das Sachlichkeitsgebot gemäß § 43b der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) für unzulässig halte.“

Gegen diese Entscheidung bestätigende Urteile wendet sich der Beschwerdeführer, der mit den „schockierenden“ Tassen werben möchte. Streitig war nämlich neben der „Knüppeltasse“ auch, ob es als Werbemaßnahme eines Anwaltes zulässig ist, einen älteren Mann, der mit einem Stock auf das entblößte Gesäß einer Frau schlägt, sowie eine Frau, die sich eine Schusswaffe an den eigenen Kopf hält und offenbar im Begriff ist, sich selbst zu töten, zu zeigen. Neben den Abbildungen sollte im ersten Fall die Frage „Wurden Sie Opfer einer Straftat?“ stehen. Neben letztgenannter Abbildung sollte der Text „Nicht verzagen, R… (scil.: Nachname des Beschwerdeführers) fragen“ abgedruckt werden. In beiden Gestaltungen sollten wiederum der Name, die Berufsbezeichnung „Rechtsanwalt“ und die Kontaktdaten des Beschwerdeführers hinzugefügt werden.
II. Prüfung in der Klausur
Der Sachverhalt ist recht klar: Ein Anwalt möchte mit schockierenden, provozierenden Bildern Aufmerksamkeit erregen. Die Rechtsfrage ebenfalls: Darf der das?
Im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde ist insoweit zu prüfen, ob der Beschwerdeführer durch die Urteile in seinen Grundrechten verletzt worden ist. In Betracht kommt die Verletzung der Freiheitsrechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 GG sowie des Gleichheitssatzes, Art. 3 GG.
1. Art. 12 Abs. 1, 5 Abs. 1 GG
In der Klausur könnte Prüfung mit Art. 12 GG als vermeintlich sachnächstes Grundrecht begonnen werden, empfehlenswert scheint es hingegen mit dem „stärkeren“ Art. 5 Abs. 1 GG anzufangen.
a) Art. 5 Abs. 1 GG
Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG umfasst auch Wirtschaftswerbung, wenn sie einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat oder Angaben enthält, die der Meinungsbildung dienen (vgl. BVerfGE 71, 162 <175>; 95, 173 <182>; 102, 347 <359>). Hierunter sind auch Bilder zu fassen , wenn in ihnen ein Werturteil, eine Ansicht oder Anschauung bestimmter Art zum Ausdruck kommt (vgl. BVerfGE 30, 336 <352>; 71, 162 <180>; 102, 347 <359>). Durch das Verbot der „Schockwerbung“ liegt auch ein Eingriff in den Schutzbereich vor, der verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden muss.
aa) § 43b BRAO als allgemeines Gesetz
Art. 5 Abs. 2 GG erfordert zur Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit ein allgemeines Gesetz als Schranke. Ein solches liegt vor, wenn es sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richtet und ein schlechthin schützenswertes Rechtsgut schützt. Dies könnte hier § 43b BRAO sein:

Werbung ist dem Rechtsanwalt nur erlaubt, soweit sie über die berufliche Tätigkeit in Form und Inhalt sachlich unterrichtet und nicht auf die Erteilung eines Auftrags im Einzelfall gerichtet ist.

Dieser wendet sich nicht gegen eine bestimmte Meinung und dient dem Schutz des Ansehens der Rechtsanwaltschaft, indem eine Verfälschung des Berufsbildes durch die Verwendung von Werbemethoden verhindernt wird, wie sie in der gewerblichen Wirtschaft üblich ist (s. schon BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 1987 – 1 BvR 362/79 –, BVerfGE 76, 196-210). Hierdurch soll das Vertrauen der Rechtssuchenden gestärkt werden. Schutzzweck der Regelung ist somit die Sicherung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege (vgl. BTDrucks 12/4993, S. 28 f.); dies ist letztlich auch Ausprägung des Rechtsstaatsprinzipes, da ein Rechtsstaat nicht ohne Anwälte, aber eben auch nicht ohne entsprechendes Ansehen funktionieren kann (welche beruhigende Erkenntnis…).
Auch im Lichte der Wechselwirkungslehre wird diese Norm als verfassungskonformes allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG und somit als taugliche Schranke der Meinungsäußerungsfreiheit eingeordnet werden müssen. In der Klausur sollte hier nicht zu allzu viel Begründungsaufwand betrieben werden, das Auffinden des Rechtsgutes des Vertrauens und Ansehens der Rechtsanwaltschaft sollte bei entsprechender sauberer Darstellung bereits honoriert werden.
bb) Verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall
Nun müsste von dieser verfassungskonformen Eingriffsermächtigung auch im Einzelfall verfassungsgemäß Gebrauch gemacht worden sein. Die Ausgangsgerichte müssten bei der Auslegung und Anwendung des § 43b BRAO die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG hinreichend beachtet haben. In der Klausur sollte ein kurzer Hinweis erfolgen, dass alleine verfassungsspezifisches Recht und nicht das einfache Recht geprüft wird („keine Superrevisionsinstanz“).
(1) Werbung i.S.d. § 43b BRAO?
Zunächst muss gefragt werden, ob es sich bei den Maßnahmen überhaupt um Werbung handelt – prügelnde Frauen mögen provozieren, doch letztlich nur auf wenige Personen werbend wirken. Dies sieht zwar auch das BVerfG, doch geht es davon aus, dass kein gesellschaftlicher Diskurs angestoßen werden solle, sondern Aufmerksamkeit für die eigene Tätigkeit generiert werden soll:

Dass der Beschwerdeführer neben der Werbung unter Umständen daneben noch weitere Anliegen, etwa das Anstoßen eines gesellschaftspolitischen Diskurses, verfolgen könnte, hindert die Anwendbarkeit des § 43b BRAO nicht. Der Begriff der Werbung im Sinne des § 43b BRAO ist grundsätzlich weit zu fassen.

(2) Anwendbarkeit der Benetton-Rechtsprechung
In der sog. Benetton-Entscheidung hatte das BVerfG (BVerfGE 102, 347) angenommen, dass auch „Schockwerbung“ vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG erfasst ist. Hiermit sollte sich durch Lektüre entsprechender Lehrbücher auseiandergesetzt werden. Diese kann hier jedoch nicht unbesehen übernommen werden, da – wie bereits oben dargestellt – bei anwaltlicher Tätigekeit besondere Maßstäbe gelten. Als Rechtsanwalt ist man anderen Grundrechtseinschränkungen unterworfen als andere Grundrechtsträger.
(3) Abwägung der widerstreitenden Interessen
An dieser Stelle begnügt sich der Nichtannahmebeschluss mit knappen Formeln – in der Klausur sind demgegenüber an dieser Stelle mit besonderer Sorgfalt argumentativ die widerstreitenden Interessen abzuwägen, und dies möglichst konkret. So sollte die genaue message der Tassen berücksichtigt werden und inwiefern hieraus das Vertrauen der Rechtssuchenden erschüttert werden kann. Für die Zulässigkeit dieser Werbemaßnahmen könnte beispielsweise angeführt werden, dass in unserer digitalisierten Welt ein gewisser Abstumpfungseffekt eingetreten ist, der die Werbung als nicht allzu schockierend erscheinen lässt. Zudem handelt es sich bloß um Tassen und nicht um eine Plakataktion o.ä. Zudem ist die Ironie der Darstellung der zu würdigen. Im Ergebnis wird man aber dem BVerfG zustimmen müssen: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, doch sind Geschmacklosigkeiten grundrechtlich weniger stark geschützt. Hinzu tritt das besondere Schutzgut der Unabhängigkeit der Rechtspflege. Nicht zu verkennen ist insoweit, dass Nachahmungsffekte tatsächlich einen schädlichen Einfluss auf das Vertrauen der Bevölkerung in die Anwaltschaft haben könnte.
b) Art. 12 Abs. 1 GG
Der Schutzbereich der Berufsfreiheit umfasst auch die berufliche Außendarstellung der Grundrechtsträger einschließlich der Werbung für die Inanspruchnahme ihrer Dienste (vgl. BVerfGE 85, 248, 256; 94, 372, 389). Dieses gilt auch für anwaltliche Tätigkeit, wobei hier besondere Einschränkungen greifen können (BVerfGE 76, 196). So wird man auch hinsichtlich Art. 12 Abs. 1 GG im konkreten Einzelfall eine Verletzung durch das Werbeverbot nicht annehmen können. Gerade Anwälte unterliegen insoweit wie gesehen besonderen Einschränkungen. Kurz sollte in der Klausur dennoch die Drei-Stufen-Theorie des BVerfG erläutert und das Werbeverbot als Berufsausübungsregelung eingeordnet werden.
2. Art. 3 Abs. 1 GG
Hinsichtlich einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG wird man entweder schon kein geeignetes tertium comparationes finden: Anwälte sind eine eigene Berufsgruppe, innerhalb derer allein gleichzubehandeln ist, nicht aber gegenüber gänzlich anderen – zudem gelten vergleichbare Einschränkungen von Werbemaßnahmen auch für andere freie Berufe. Jedenfalls liegt aber – eine Ungleichbehandlung unterstellt – mit dem Schutz des Vertrauens und der besonderen Stellung der Anwaltschaft ein Sachgrund nach der Willkürformel vor. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG scheidet daher ebenfalls aus.
III. Geschmack oder Geschmacklosigkeit – Grundsätze des Werbeverbotes sollten bekannt sein
Der Fall kann als aktueller Anlass zur Wiederholung von Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG dienen. Da er altes mit neuem verbindet, könnte er gerade in einer mündlichen Prüfung als Ausgangsfall gewählt werden. Sind die Grundsätze der anwaltlichen Werbeeinschränkung bekannt, sollte hierbei nichts schiefgehen. Und letztlich bleibt die alte Redensart richtig: de gustibus non est disputandum – über die Beschränkung von Grundrechten hingegen schon!
 

25.03.2015/2 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2015-03-25 14:00:452015-03-25 14:00:45BVerfG zu anwaltlicher Schockwerbung: Über Geschmack lässt sich streiten?!
Dr. Deniz Nikolaus

EGMR: Das sichtbare Tragen eines Kruzifix am Arbeitspatz ist von der Religionsfreiheit grundsätzlich geschützt

Rechtsprechung, Startseite

Der EGMR (ECHR 012 (2013)) hat am 15.01.2013 entschieden, dass das sichtbare Tragen eines Kruzifixes am Arbeitsplatz grundsätzlich von der Religionsfreiheit geschützt ist. Dies ist nur im Einzelfall, nämlich dann, wenn die Religionsfreiheit mit kollidierenden Rechten anderer nicht in Einklang zu bringen ist, anders. Während eine British-Airways-Stewardess bei der Arbeit eine Kette mit Kreuz tragen darf, ist dies einer Krankenschwester nach Ansicht des Gerichts vor dem Hintergrund der Religionsfreiheit indessen nicht zwingend zu gestatten. Mit Eintritt der Rechtskraft wird diese Entscheidung für alle 46 Mitgliedsländer des Europarates, die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert haben, bindend. Gerügte Staaten sind angehalten, ihre Gesetze entsprechend zu ändern und anzupassen.
Die (noch nicht im Volltext vorliegende) Entscheidung steht im Einklang mit der Kruzifix-Entscheidung des EGMR aus dem Jahre 2011, in der die Straßburger Richter Kreuze in italienischen Klassenräumen für zulässig hielten (wir berichteten dazu hier, zu Kopftuch und anderen religiösen Bekleidungsstücken, siehe hier).
Sachverhalt
Geklagt hatten zwei praktizierende Christinnen britischer Staatsangehörigkeit. Eine davon war Angestellte des Bodenpersonals der Fluggesellschaft British Airways und die andere Krankenschwester in einem Krankenhaus. Beide sahen sich durch eine Anordnung ihres Arbeitgebers, ihre Kruzifixe bei der Arbeit unter der Kleidung zu tragen, in ihrer Religionsfreiheit verletzt.
Die Kleiderordnung der Fluggesellschaft British Airways sah eine Uniform vor und untersagte den Mitarbeitern, Schmuck oder jegliche religiöse Symbole ohne Erlaubnis offen zu tragen. Dagegen erlaubte die Fluggesellschaft muslimischen Frauen oder Sikhs, ein Kopftuch beziehungsweise einen Turban in den Farben der Uniform zu tragen.
Im Fall der Krankenschwester verboten die einschlägigen Bestimmungen das Tragen von Schmuck im Krankenhaus aus gesundheitlichen und sicherheitsrechtlichen Gründen, da die Patienten sich bei unbedachten Bewegungen an der Kette verletzen oder bei offenen Wunden infizieren könnten.
Beide Klägerinnen behaupteten, das sichtbare Tragen des Kreuzes sei ein wichtiger Bestandteil der Manifestation ihres Glaubens. Sie fühlten sich daher durch das Verbot diskriminiert.
Entscheidung
Der EGMR entschied im Fall der Flugbegleiterin, dass das Verbot der Fluggesellschaft,keine sichtbaren Kreuze tragen zu dürfen, einen Verstoß gegen Artikel 9 (freedom of religion) EMRK darstellt. Die Richter wogen die Religionsfreiheit der Mitarbeiterin und das (von der Fluggesellschaft vorgebrachte) entgegenstehende Interesse, ein bestimmtes öffentliches Image zu wahren, gegeneinander ab und entschieden zu Gunsten der Klägerin. Ihren religiösen Glauben nach außen zu manifestieren überwiege im Lichte der Religionsfreiheit das (grundsätzlich ebenfalls anzuerkennende) Interesse der Fluggesellschaft. Die Richter sprachen der Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 2000 Euro zu.
Anders lag nach Ansicht des Gerichts der Fall der christlichen Krankenschwester. Hier stehe der Religionsfreiheit der Klägerin der Schutz der Gesundheit der Patienten gegenüber. Es bestünde nämlich die (aus Sicht der Klinikleitung begründete) Gefahr, dass sich die (vornehmlich älteren) Patienten an dem offen getragenen Kreuz verletzen könnten. Insoweit überwiegt nach Ansicht des Gerichts der Gesundheitsschutz die durch Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 14 (prohibition of discrimination) EMRK geschützte Religionsfreiheit der Krankenschwester.
Kruzifix-Entscheidung des BVerfG
Um die Entscheidung in den nationalen Kontext einordnen zu können, soll an dieser Stelle auf die aufsehenerregende Kruzifix-Entscheidung des BVerfG vom 10. August 1995 (BVerfGE 93, 1) eingegangen werden. Hier wurde der Verfassungsbeschwerde dreier minderjähriger schulpflichtiger Kinder und ihrer Eltern stattgegeben, die sich gegen die Anbringung von Kruzifixen und Kreuzen in bayrischen Klassenzimmern gewandt hatten. Die Anbringung von Kruzifixen beruhte auf einer Rechtsverordnung für die Volksschulen in Bayern (VSO) dessen einschlägiger Teil in § 13 Abs. 1 S. 2 wie folgt lautete:

…In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen…

Daraufhin hielt das BVerfG in seinem Leitsatz fest:

Die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.

Der Senat des BVerfG stellte vorerst auf die Verletzung der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG ab. Zur Freiheit der positiven Ausübung umfasse die Glaubensfreiheit aber auch, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese negative Freiheit beziehe sich ebenfalls auf Glaubenssymbole. Dem Staat sei durch Art. 4 Abs. 1 GG eine Pflicht auferlegt, Einzelnen oder religiösen Gemeinschaften einen Betätigungsraum zur Entfaltung zu sichern und vor Angriffen konkurrierender Religionsgruppen zu schützen. Allerdings entfalte Art. 4 Abs. 1 GG keinen Anspruch des Einzelnen darauf, durch staatliche Hilfe seiner religiösen Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Dies folge aus dem Grundsatz staatlicher Neutralität. Der Staat könne die friedliche Koexistenz nur bewahren, wenn er in Glaubensfragen Neutralität bewahre. Dieses Gebot fände seine Grundsätze neben Art. 4 Abs. 1 GG auch in Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 1 sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 11 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV.
Im Anschluss daran erwog das BVerfG die Verletzung der Glaubensfreiheit durch § 13 Abs. 1 S. 3 VSO. Die staatliche Anbringung des Kreuzes führe dazu, dass die Schüler ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert seien und gezwungen würden, „unter dem Kreuz zu lernen“ (Kreuz als Zwangselement). Das Kreuz (mit oder ohne Korpus) sei das spezifische Glaubenssymbol der Christen und nicht nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur. Für Nichtchristen und Atheisten sei das Kreuz gerade wegen der Bedeutung Symbol der „missionarischen Ausbreitung“ bestimmter Glaubensüberzeugungen. Ein staatliches Bekenntnis zu diesem Glaubensinhalt berühre daher die Religionsfreiheit.
Im dritten Teil befasste sich das BVerfG mit einer möglichen Rechtfertigung. Da das Grundrecht auf Glaubensfreiheit vorbehaltlos gewährleistet wird, muss sich die Einschränkung aus der Verfassung selbst ergeben. Als Erstes wurde eine Rechtfertigung aus Art. 7 Abs. 1 GG (staatliche Schulhoheit) angesprochen. Art. 7 Abs. 1 GG erteile dem Staat ein Erziehungsauftrag unabhängig von den Eltern. Problematisch hierbei ist jedoch, dass in der Schule unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen der Schüler und ihrer Eltern intensiv aufeinander treffen. Um diesen Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechtsträgern zu lösen, zieht das BVerfG den Grundsatz der „praktischen Konkordanz“ heran. Dieser Grundsatz fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet werden darf, sondern dass alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren. Ein solcher Ausgleich könne aber nicht dazu führen, dass alle kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen abgestreift werden. Allerdings sei es in einer pluralistischen Gesellschaft unmöglich, allen Erziehungsvorstellungen voll Rechnung zu tragen. Das Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit sei mithin vom Landesgesetzgeber unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes zu lösen. Dem Landesgesetzgeber sei die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht verboten. Voraussetzung sei jedoch, dass damit nur das unerlässliche Minimum an Zwangselementen verbunden ist. Im vorliegenden Fall überschreite die staatlich angeordnete Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern die Grenzen religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule. Art. 7 Abs. 1 GG als Einschränkung der Glaubensfreiheit wurde daher im Ergebnis verneint.
Weiterhin wurde auch eine Rechtfertigung der Anbringung der Kreuze aufgrund der positiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens abgelehnt. Gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezwecke in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten, so dass es keine Bedeutung habe, dass die Anhänger christlichen Glaubens im Klassenzimmer in der Mehrheit seien.
Fazit
Diese Entscheidung des BVerfG ist nicht als Widerspruch zu den Entscheidungen des EGMR zu betrachten. Als säkularer Staat ist Deutschland grundsätzlich religionsfreundlich, sog. „offene Neutralität“. Jedoch wurde die Neutralität vom Gericht nicht, wie teilweise angenommen, im Sinn eines Laizismus gedeutet, der die Entfernung aller religiösen Elemente aus dem öffentlichen Leben verlangt. Es wurde ausdrücklich anerkannt, dass religiöse Bezüge auch in den Bereich des öffentlichen Schulwesens hineinwirken können. Das Gericht hat sich nur von der staatlich angeordneten Anbringung von Kreuzen ohne Ausgleichsregelung distanziert, nicht von Kreuzen in Klassenzimmern generell.
Wie die aktuelle Entscheidung des EGMR noch einmal verdeutlicht, gilt auch in Europa auf Grundlage der EMRK die Religionsfreiheit. Sie ist sowohl von den Mitgliedsstaaten als auch von den Staatsangehörigen (namentlich in Person der Arbeitgeber) zu achten. Allerdings gilt die Religionsfreiheit auch insoweit nicht uneingeschränkt. Insbesondere wenn höherrangige Interessen wie gesundheitliche und sicherheitsrechtliche Aspekte entgegenstehen, kann diese eingeschränkt werden. Pauschale Verbote, Religionssymbole am Arbeitsplatz sichtbar zu tragen, verstoßen aber grundsätzlich gegen Artikel 9 EMRK.
 

22.01.2013/1 Kommentar/von Dr. Deniz Nikolaus
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Deniz Nikolaus https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Deniz Nikolaus2013-01-22 10:00:422013-01-22 10:00:42EGMR: Das sichtbare Tragen eines Kruzifix am Arbeitspatz ist von der Religionsfreiheit grundsätzlich geschützt

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