Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“
Ein nach §§ 823 I, 253 II BGB ersatzfähiger „Schockschaden“ soll einem jüngst veröffentlichten Urteil des BGH (v. 06.12.2022 – VI ZR 168/21) zufolge auch dann vorliegen, wenn das Opfer pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigungen erleidet, die in ihrer Intensität nicht über das hinausgehen, was nahe Angehörige in vergleichbarer Situation regelmäßig erfahren. Damit ändert der BGH seine seit Jahren etablierte Rechtsprechung zu „Schockschäden“.
I. Der Sachverhalt
Der klagende Vater K musste erfahren, dass seine Tochter im frühen Kindesalter von fünf und sechs Jahren vom Beklagten B sexuell missbraucht wurde. Die Handlungen wurden strafrechtlich aufgearbeitet und B rechtskräftig verurteilt. Bei der missbrauchten Tochter konnten anhaltende psychische Belastungen durch die Ereignisse nicht festgestellt werden, wohl aber erlitt der K durch die gerichtliche Aufarbeitung der Geschehnisse eine tiefgreifende reaktive depressive Verstimmung, die zur Arbeitsunfähigkeit für einen Zeitraum von über einem Jahr führte. Diese Verstimmung konnte erst nach Abschluss des Verfahrens ihr Ende finden und auch die Arbeit erst dann wieder aufgenommen werden. K wollte B vor diesem Hintergrund auf immateriellen Schadensersatz zivilrechtlich in Anspruch nehmen.
Ein Sachverständiger konnte eine Anpassungsstörung des K nach ICD-10 F43.2 feststellen, wies aber auch darauf hin, dass K selbst durch Ereignisse in seiner eigenen Vergangenheit mit der erlittenen Belastung dysfunktional umgegangen sei und die Anpassungsstörung dadurch möglicherweise länger andauerte, als es ohne die eigene Vorgeschichte der Fall gewesen wäre. Das erstinstanzliche Landgericht nahm die Erkenntnisse des Sachverständigen zum Anlass, bei K eine pathologisch fassbare Gesundheitsverletzung festzustellen, die über das übliche Maß hinausgeht und daher gem. § 823 I BGB zur Schadensersatzpflicht des Schädigers führt. B wurde daher zur Zahlung von 4.000 EUR Schmerzensgeld nebst Zinsen sowie Zahlung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt. Die von B eingelegte Berufung blieb erfolglos, sodass er letztlich mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision sein Begehren vor dem BGH weiterverfolgte und Klageabweisung beantragte.
II. Die Entscheidung
Die Ausführungen der Vorinstanz konnten einer revisionsrechtlichen Überprüfung durch den BGH nicht vollumfänglich standhalten.
Für einen Schadensersatzanspruch aus §§ 823 I, 253 II BGB müsste zunächst eine Rechtsgutsverletzung gegeben sein. Als solche kommt nur eine Gesundheitsverletzung in Betracht. Eine solche stellt nach ständiger Rechtsprechung auch eine psychische Störung von Krankheitswert dar. Im Rahmen der sog. „Schockschäden“ galt dies bisher jedoch nur eingeschränkt. Gefordert wurde für die Annahme einer Gesundheitsverletzung das Vorliegen von zwei kumulativen Voraussetzungen. So muss zum einen eine pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung vorliegen und zum anderen muss diese über das hinausgehen, was Betroffene beim Tod oder schweren Verletzungen von nahen Angehörigen regelmäßig erfahren (BGH, Urteil v. 11.05.1971 – VI ZR 78/70, NJW 1971, 1883 (1884 f.); BGH, Urteil v. 21.05.2019 – VI ZR 299/17, NJW 2019, 2387, Rn. 7 m.w.N.). Von diesem kumulativen Erfordernis wendet sich der BGH nunmehr ausdrücklich ab. Es soll fortan genügen, wenn die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar ist. Mehr kann nicht gefordert werden, um die gewünschte Gleichstellung zwischen physischen und psychischen Beeinträchtigungen im Rahmen von § 823 I BGB zu erreichen. Die damit einhergehende Erleichterung zur Geltendmachung einer Gesundheitsverletzung in Gestalt eines „Schockschadens“ soll nach dem BGH auch mit der Wertung der §§ 844, 845 BGB vereinbar sein, wonach Dritte bei der Verletzung von Rechtsgütern einer anderen Person nur in den dort genannten Fällen Ansprüche geltend machen können. Im Falle von „Schockschäden“ gehe es schließlich nicht um die Verletzung fremder Rechtsgüter, sondern um die Verletzung der eigenen Gesundheit. Im Übrigen sieht der Senat in der alten Rechtsprechung Wertungswidersprüche, die es erforderlich machen, bei „Schockschäden“ zukünftig anders zu verfahren. So läge nach der bisherigen Rechtslage keine Gesundheitsverletzung infolge eines Schocks vor, wenn eine dem „Schockgeschädigten“ nahestehende Person Opfer einer schwersten Straftat wird (man denke an einen Mord) und dadurch eine pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung erfährt, die aber auch alle anderen Personen in einer solchen Situation (verständlicherweise) erfahren würden. Andererseits läge eine Gesundheitsverletzung vor, wenn eine deutlich geringere Straftat in Rede steht, die eine pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung nach sich zieht und die (übertriebene) Reaktion des „Schockgeschädigten“ aber dazu führt, dass sie bei anderen Personen in dieser Intensität niemals eintreten würde.
Mit der Misshandlung der Tochter war überdies auch eine Verletzungshandlung gegeben, welche die Gesundheitsverletzung in kausaler Weise verursacht hat. Dabei ist zum einen unerheblich, dass K die Beeinträchtigung nicht bereits bei Erhalt der Nachricht über die Misshandlung der eigenen Tochter, sondern erst während des Strafverfahrens erlitten hat. Das eine Person nicht bereits mit der Nachricht selbst, sondern erst im späteren Verlauf Beeinträchtigung erleidet, liegt nicht außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit. Zu beachten ist jedoch, dass der haftungsbegründende Kausalzusammenhang unter anderem auch durch den Schutzzweck der Norm begrenzt wird. So ist in der Rechtsprechung im Bereich der „Schockschäden“ anerkannt, dass es am Schutzzweckzusammenhang fehlt, wenn kein Näherverhältnis zwischen „Schockgeschädigtem“ und dem Erstgeschädigten besteht. Ausnahmen gelten nur bei unmittelbarer Unfallbeteiligung. Daran hält der Senat weiterhin fest, wobei sich eine Nähebeziehung im konkreten Fall durch den familiären Bund zwischen Vater und Tochter ohne weitere Probleme feststellen lässt. Auch der Umstand, dass die Tochter nicht getötet oder schwer verletzt wurde, steht der Kausalität nicht hingegen. Zwar sollen nach dem Gerichtshof Einschränkungen in bestimmten Konstellationen grundsätzlich denkbar sein, aber dies kann nicht mehr gelten, wenn Eltern mit der Misshandlung des eigenen Kindes konfrontiert werden. Ferner betont der BGH in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung, dass die den „Schockschaden“ geltend machende Person nicht am „Unfallgeschehen“ beteiligt sein muss, sondern es ausreichend ist, wenn es – wie hier – um den „Fernwirkungsschaden“ eines nahen Angehörigen geht. Schließlich stellt sich die Frage, ob der Zurechnungszusammenhang nicht deshalb in Frage gestellt werden muss, weil K vorbelastet war und dadurch dysfunktional mit den Belastungen umging. Auch dies ist im Ergebnis jedoch abzulehnen. Der Schädiger kann im Rahmen der Zurechnung nicht verlangen, „so gestellt zu werden, als habe er einen bis dahin Gesunden verletzt“ (BGH, Urteil v. 06.12.2022 – VI ZR 168/21, Rn. 25, 30).
Das Verschulden des B ist gegeben, sodass nur noch Ausführungen zum kausalen Schaden gemacht werden müssen. Hierbei ist auf die Besonderheit zu achten, dass die aus dem Sachverständigengutachten hervorgehende Vorschädigung des Opfers zum Ausdruck bringt, dass die eingetretene Gesundheitsschädigung auch auf die psychische Prädisposition des K zurückzuführen ist. Im Unterschied zur haftungsbegründenden Kausalität sind solche Umstände bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen. Da das Berufungsgericht diesem Grundsatz nicht Rechnung getragen hat, erblickte der BGH hier einen Rechtsfehler. Da die Bemessung der Höhe des Schadensersatzes dem Tatrichter vorbehalten ist, war der Rechtsstreit nicht nach § 563 III ZPO zur Entscheidung reif, sodass das Berufungsurteil nur aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden konnte (§§ 562 I, 563 I 1 ZPO).
Einordnung der Entscheidung
Mit diesem Urteil starten wir direkt mit einem Dauerbrenner in das neue Jahr. Fragen rund um das Thema „Schockschaden“ werden gerne und oft abgeprüft, sodass man sich in diesem Bereich sicher sein sollte. Dies gilt insbesondere deshalb, weil sich die Voraussetzungen zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“ nicht einfach aus dem Gesetz ergeben. Die Rechtsprechung muss Prüflingen also zwangsläufig bekannt sein.
Insgesamt erweist sich das Urteil als überzeugende Weiterentwicklung der Rechtsprechung. Die bisher angestellte Erwägung, dass der Geschädigte eine pathologisch fassbare psychische Beeinträchtigung erfahren muss, die über das hinaus geht, was erfahrungsgemäß zu erwarten ist, wurde oftmals auf die Wertungen der §§ 844, 845 BGB gestützt (vgl. dazu BGH, Urteil v. 27.01.2015 – VI ZR 548/12, NJW 2015, 1451, Rn. 7; BGH, Urteil v. 21.05.2019 – VI ZR 299/17, NJW 2019, 2387, Rn. 7 m.w.N.). Dieser Ansatz ist nicht mehr haltbar, wie der BGH nun überzeugend zum Ausdruck gebracht hat. Es geht nicht um einen Schadensersatzanspruch, der aus der Verletzung von Rechtsgütern Dritter abgeleitet wird, sondern um die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs aufgrund der Verletzung der eigenen Gesundheit! Es verwundert, dass die Rechtsprechung diese Wertung überhaupt bis heute aufrechterhalten konnte. Geht es um eine Minderung des Schadensersatzanspruchs des „Schockgeschädigten“ wegen eines Mitverschuldens des Erstgeschädigten, so klärte der BGH bereits 1971, dass dieses Mitverschulden nicht über § 846 BGB (analog), sondern vielmehr über §§ 254, 242 BGB zurechnet werden kann (BGH, Urteil v. 11.05.1971 – VI ZR 78/70, NJW 1971, 1883 (1885 f.). Die Erwägung des BGH: „Diese Fälle [der „Schockschäden“] unterscheiden sich von denen der §§ 844, 845 BGB wesentlich dadurch, daß hier auch der geschädigte Dritte in einem der Rechtsgüter des § 823 Abs. 1 BGB betroffen und deshalb unmittelbar Geschädigter mit einem eigenen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB ist“ (BGH, Urteil v. 11.05.1971 – VI ZR 78/70, NJW 1971, 1883 (1885)). Dann ist es in der Folge aber unschlüssig, die Wertung der §§ 844, 845 BGB im Bereich der Rechtsgutsverletzung bei „Schockschäden“ einbeziehen zu wollen.
Es fragt sich, ob mit der Erleichterung bei der Ersatzfähigkeit eines „Schockschadens“ für die Zukunft eine Haftung ins uferlose droht. Dies ist klar zu verneinen! Einschränkungen bei der Geltendmachung eines „Schockschadens“ ergeben sich nach wie vor. So ist auch weiterhin die Feststellung einer pathologisch fassbaren psychische Beeinträchtigung erforderlich. Vor allem aber wird man viele Fälle im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität ausfiltern können, denn hier bleibt die Rechtsprechung restriktiv. In den meisten Fällen sind ohnehin nur die „Schockschäden“ naher Angehöriger erfasst. Andere „Zweitgeschädigte“ sind nur erfasst, wenn sie unmittelbar am Unfall beteiligt waren und das Geschehen nicht nur als Zuschauer miterleben mussten (BGH, Urteil v. 22.05.2007 – VI ZR 17/06, NJW 2007, 2764 (2766)). Schließlich darf die eingetretene Beeinträchtigung auch nicht außer Verhältnis zum Anlass des Schocks stehen, sodass es sich im Ergebnis stehts um eine nachvollziehbare Reaktion handeln muss (MüKO/Oetker, BGB, § 249 Rn. 155).