Bedeutung der Versammlungsfreiheit im demokratisch-liberalen Rechtsstaat
Wie wichtig die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) im Rahmen eines demokratisch-liberalen Rechtsstaates ist, wird seitens des BVerfG zu Recht in fast jedem entsprechenden Verdikt gebetsmühlenartig wiederholt. So betonte das BVerfG im berühmten Brokdorf-Beschluss (BVerfG v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, BVerfGE 69, 315, 343), dass das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilzunehmen, zu den „unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“ gehöre. Die Versammlungsfreiheit gelte als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend sei. In einer Demokratie müsse die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt verlaufen (grundlegend bereits BVerfG v. 19.7.1966 – 2 BvF 1/65, BVerfGE 20, 56). Versammlungen sind daher eine wesentliche Möglichkeit, um außerhalb der Wahlen Einfluss auf die Politik nehmen zu können (BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 = BVerfGE 69, 315, 345). Im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ist eine Versammlung „sowohl Aggregatzustand des Politischen als auch kritischer Kontrapunkt zur repräsentativen Demokratie“ (Depenheuer, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 4).
Versammlungsrecht im Staatsexamen
Wie bei anderen Kommunikationsgrundrechten (vgl. zu Parallelen: BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, BVerfGE 69, 315) ist auch die Ausübung der Versammlungsfreiheit auf Wirkung nach außen angelegt und damit in besonderem Maße konfliktträchtig. Häufig kommt es daher zu komplexen Abwägungsproblemen, die sich natürlich ideal als Klausurprobleme eignen. All dies ist Grund genug, sich bei der Vorbereitung auf die juristischen Staatsexamina intensiv mit versammlungsrechtlichen Problemen zu beschäftigen.
In einem aktuellen Urteil entschied das BVerwG (Urteil v. 26.01.2014 – 6 C 1.13), dass die Stadt Trier zu Unrecht angeordnet hat, dass eine für den 27. Januar 2012 (Holocaust-Gedenktag) angemeldete Versammlung der NPD nicht an diesem Tag stattfinden dürfe. Diese Entscheidung soll zum Anlass genommen werden, um grundlegende Kenntnisse zum Versammlungsrecht aufzufrischen.
Sachverhalt: NPD-Versammlung am Holocaust-Gedenktag in Trier
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde (nach Pressemitteilung Nr. 14/2014): Die angemeldete Versammlung sollte unter dem Motto stehen „Von der Finanz- zur Eurokrise – zurück zur D-Mark heißt unsere Devise!“. Als Anlass der Versammlung war angegeben, ein Börsenexperte halte am selben Tag im Bischöflichen Priesterseminar einen Vortrag zu dem Thema „Von der Finanz- zur Eurokrise“. Die beklagte Stadt Trier ordnete die Verlegung der Versammlung vom 27. auf den 28. Januar an: Die Versammlung der NPD am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, sei als Provokation zu bewerten, durch die grundlegende soziale und ethische Anschauungen und Empfindungen verletzt würden. Die NPD sei nach ihrem eigenen Selbstverständnis dem rechtsextremen politischen Spektrum zuzuordnen. Sie lasse in der öffentlichen Wahrnehmung die notwendige Distanz zu dem Unrechtsregime vermissen, das die Opfer zu verantworten habe, derer am 27. Januar gedacht werden solle. Nicht entscheidend sei, dass das Motto der Versammlung sich nicht mit den Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetze.
Das Verwaltungsgericht Trier hat die Klage der NPD auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser versammlungsrechtlichen Verfügung abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht Koblenz hat die Berufung der NPD zurückgewiesen: Die öffentliche Ordnung sei unmittelbar gefährdet gewesen. Von der Versammlung wäre eine das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigende Provokationswirkung ausgegangen. Die Klägerin habe das von ihr angegebene Thema der Versammlung lediglich als Aufhänger gewählt, während die dahinter stehende Motivation von der Bevölkerung darin gesehen worden wäre, an einem zentralen Ort in der Innenstadt Präsenz zu zeigen und nach außen zu dokumentieren, dass man als rechtsextreme Partei trotz des Holocaust-Gedenktags „Flagge zeigen“ könne.
Gedanklicher Ausgangspunkt: Brokdorf-Formel
Wie das BVerfG in der bereits genannten Brokdorf-Entscheidung feststellte, garantiert Art. 8 GG den Grundrechtsträgern ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung (BVerfG v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, BVerfGE 69, 315, 343). Ein zeitliches Verschieben einer Versammlung stellt also einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff dar. Ermächtigungsgrundlage hierfür ist § 15 VersG, es sei denn, es gibt landesrechtliche Regelungen zum Versammlungsrecht (zB in Bayern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt).
§ 15 VersG deckt nicht nur das Versammlungsverbot i.e.S. ab, sondern auch alle sog. Minus-Maßnahmen wie insbesondere „Auflagen„. Die von der Stadt Trier angeordnete Verlegung stellte hier eine solche Auflage dar (a.A. gut vertretbar). Ist Ziel der Versammlung, auf die besondere Bedeutung des angemeldeten Tages hinzuweisen, kommt die Verlegung der Versammlung auch nur um einen Tag einem Verbot gleich, weil die Versammlung letztlich ihres wesentlichen Inhalts und ihrer zentralen Zielsetzung beraubt wird. Ein solcher besonderer Bezug des Versammlungsziels zum 27. Januar 2012 war hier aber angesichts des Themas der Versammlung ( „Von der Finanz- zur Eurokrise – zurück zur D-Mark heißt unsere Devise!“) nicht erkennbar.
Diese Auflage stellt keine Nebenbestimmung i.s.v. § 36 VwVfG dar, da es aufgrund der Genehmigungsfreiheit von Versammlungen an einem Hauptverwaltungsakt fehlt. Auflagen nach § 15 VersG sind also selbständige Verwaltungsakte, gegen die eine Anfechtungsklage (oder bei Erledigung: FFK) bzw. ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft ist.
Lösung des BVerwG: Versammlungsverbot nicht von § 15 Abs. 1 VersG gedeckt
Als zentrale tatbestandliche Voraussetzung verlangt § 15 VersG eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung.
Eine Gefahr ergibt sich bei einem Lebenssachverhalt, der bei ungehindertem Ablauf in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an den polizeilichen bzw. ordnungsrechtlichen Schutzgütern führen wird. Maßgeblich ist dabei die Prognose eines fähigen, sachkundigen und besonnenen Beamten aus der ex-ante Perspektive. Zu den Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit zählt man den Schutz der Individualrechtsgüter (insbesondere individuelle Grundrechtspositionen), den Schutz der Unversehrtheit der Rechtsordnung sowie den Schutz des Bestands und der Veranstaltungen des Staates und anderer Hoheitsträger. Die öffentliche Ordnung umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes und gedeihliches Zusammenleben innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (außerrechtliche Sozialnormen).
Im vorliegenden Fall kam nur eine Gefahr für die öffentliche Ordnung in Betracht. Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung kann nach Ansicht des BVerwG in dem hier gegebenen Kontext nur bejaht werden, wenn einem bestimmten Tag – wie dem Holocaust-Gedenktag – ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, der bei der Durchführung einer Versammlung an diesem Tag in einer Weise angegriffen zu werden droht, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt würden. Nicht ausreichend sei jedoch, dass die Durchführung der Versammlung an dem Gedenktag in irgendeinem beliebigen Sinne als dem Gedenken zuwiderlaufend beurteilt werden könnte. Vielmehr sei die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Durchführung der Versammlung Provokationen ausgehen würden, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigten. Eine solche Feststellung setze voraus, dass die Versammlung eine den Umständen nach eindeutige Stoßrichtung gegen das Gedenken erkennen lasse, etwa weil sie die Sinnhaftigkeit oder die Wertigkeit des Gedenkens negiere oder in anderer Weise dem Anspruch der Mitbürger entgegenwirke, sich ungestört dem Gedenken an diesem Tag widmen zu können.
Diese Schwelle war durch die geplante Versammlung noch nicht überschritten. Die Versammlung sollte ein aktuelles allgemein-politisches Thema aufgreifen und die hierzu entwickelten programmatischen Vorstellungen der Klägerin kundtun.
Berufungsentscheidung des OVG Koblenz
Anders hatte dies noch die Vorinstanz (OVG Koblenz v. 06.12.2012 – 7 A 10821/12.OVG) bewertet. Zwar sei der Klägerin keine Tarnabsicht in dem Sinne zu unterstellen, dass sie der Versammlung ein anderes Motto oder Thema hätte geben wollen, als dies in der Anmeldung zum Ausdruck kam. Das OVG teilte aber die Einschätzung der beklagten Stadt, wonach sich die besondere Provokationswirkung daraus ergebe, dass die Klägerin das Thema der Versammlung lediglich als Aufhänger gewählt habe, während die dahinterstehende Motivation von der breiten Bevölkerung darin gesehen werde, an einem zentralen Ort in der Innenstadt Präsenz zu zeigen und nach außen zu dokumentieren, dass man als rechtsextreme Partei trotz des Gedenktages Flagge zeigen könne. Dafür spreche u.a., dass der von der Klägerin angegebene inhaltliche Bezug ihrer Versammlung zu dem Vortrag des Börsenexperten Prof. O. am 27. Januar 2012 im Bischöflichen Priesterseminar in Trier zum Thema „Von der Finanz- zur Eurokrise“ gesucht wirke. Hierfür spreche auch, dass die Klägerin ihren eigenen Angaben zufolge bereits am 22. Januar 2012 und damit lediglich fünf Tage vor dem 27. Januar 2012 eine Versammlung zu dem gleichen Thema durchgeführt habe. Es sei unwahrscheinlich, dass es sich bei der Häufung von Versammlungen der Klägerin an Tagen mit Bezug zur Herrschaft des Nationalsozialismus um einen Zufall gehandelt habe. Vielmehr bestärke dieser Umstand die Einschätzung, dass die Klägerin sich einen beliebigen Anlass gesucht habe, um an diesen Tagen eine Versammlung durchführen und in der Öffentlichkeit sichtbar Präsenz zeigen zu können.
Auch diese Position wäre in einer Klausur sicherlich gut vertretbar.
Restriktive Tendenz bestätigt
Die aktuelle Entscheidung des BVerwG fügt sich aber ein – und dies sollte als Richtschnur für die Klausur durchaus bekannt sein – in eine Kette von eher restriktiven Leiturteilen zur Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung im Versammlungsrecht.
Vor allem das OVG Münster hatte immer wieder Verbote von (rechtsradikalen) Versammlungen bestätigt, bei denen sich die Behörden auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung gestützt hatten (s. etwa OVG Münster v. 25.01.2001 – 5 B 115/01; OVG Münster v. 30.04.2001 – 5 B 585/01, NJW 2001, 2114; kritisch zur Judikatur des OVG Münster: Arndt, BayVBl. 2002, 2002). Diese Entscheidungen waren mehrfach vom BVerfG korrigiert worden (BVerfG v. 24.03.2001 – 1 BvQ 13/01, NJW 2001, 2069; BVerfG v. 12.04.2001 – 1 BvQ 19/01, NJW 2001, 2075; BVerfG v. 01.05.2001 – 1 BvQ 22/01, NJW 2001, 2076). Kernaussagen der BVerfG-Rechtsprechung sind:
- § 15 VersG ist hinsichtlich des Schutzes der öffentlichen Ordnung insoweit einengend auszulegen, als zur Abwehr von kommunikativen Angriffen auf Schutzgüter der Verfassung besondere Strafrechtsnormen geschaffen worden sind. Die darin vorgesehenen Beschränkungen von Meinungsäußerungen sind jedenfalls im Hinblick auf seit langem bekannte Gefahrensituationen abschließend und verwehren deshalb einen Rückgriff auf die in § 15 VersG enthaltene Ermächtigung zum Schutz der öffentlichen Ordnung, soweit kein Straftatbestand erfüllt ist (BVerfG v. 24.03.2001 – 1 BvQ 13/01, NJW 2001, 2069).
- Allgemein gilt: Unter Berücksichtigung der Versammlungsfreiheit und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit rechtfertigt eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung idR kein Versammlungsverbot (BVerfGE, 69, 315, 352 f.). Anm.: Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass bei einer Qualifizierung der „Verlegung“ der Versammlung als Verbot schon aus diesem Grund ein rechtswidriges Vorgehen zu bejahen wäre.
- Das Verbot einer Versammlung an den Osterfeiertagen ist jedenfalls nicht allein deshalb rechtmäßig, weil die Versammlung durch ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt ist und deshalb die öffentliche Ordnung stört. Ein Verbot könnte nur dann gerechtfertigt sein, wenn Anhaltspunkte für eine nachhaltige Störung des Friedens des Osterfests vorliegen, die einer Überprüfung am Maßstab der Art. 5 und 8 GG standhalten (BVerfG v. 12.04.2001 – 1 BvQ 19/01, NJW 2001, 2075).
- Das Verbot einer von der NPD beantragten Versammlung kann auch unter Berücksichtigung des gegen diese Partei beim BVerfG anhängigen Verbotsverfahrens nicht allein auf die Annahme gestützt werden, dass die von der NPD typischerweise vertretenen Inhalte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechen. Die Absage an den Nationalsozialismus hat das Grundgesetz in vielen Normen, wie beispielsweise Art. 139 GG, besonders ausgedrückt, aber auch in dem Aufbau allgemeiner rechtsstaatlicher Sicherungen dokumentiert. In der Beachtung rechtsstaatlicher Sicherungen sieht das Grundgesetz eine wichtige Garantie gegen ein Wiedererstehen eines Unrechtsstaats. Rechtsstaatliche Garantien dürfen deshalb nicht dadurch unterlaufen werden, dass bestimmten Parteien oder Personen grundsätzlich der Schutz eines Grundrechts wie Art. 8 GG verwehrt wird (BVerfG v. 01.05.2001 – 1 BvQ 22/01, NJW 2001, 2076).