Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einer aktuellen Entscheidung vom 29.4.2016 (1 BvR 2844/13) der Frage gewidmet, wie weit der Schutz der von Art. 5 GG geschützten Meinungsfreiheit reicht. Die Frage der Reichweite des Schutzbereichs dieses Grundrechts und die Möglichkeit der Rechtfertigung sind vom zweiten Semester an bis zu den Examensklausuren von immens höher Bedeutung und sollte daher wiederholt werden.
I. Sachverhalt
Der Sachverhalt knüpft an den Freispruch eines bekannten ehemaligen Wettermoderators (hier: der Kläger) in einem Verfahren wegen Vergewaltigung im Jahr 2011 an. Im Zuge dessen kam es zu Äußerungen des vermeintlichen Opfers der Vergewaltigung (hier: die Beschwerdeführerin).
Am Tag des Freispruchs sowie am Tag darauf äußerten sich der Strafverteidiger und der für das Zivilverfahren mandatierte Rechtsanwalt des Klägers in Fernsehsendungen über die Beschwerdeführerin. Etwa eine Woche nach der Verkündung des freisprechenden Urteils erschien in einer wöchentlich erscheinenden Zeitschrift ein dreiseitiges Interview mit dem Kläger unter der Überschrift „Mich erpresst niemand mehr“,
Über die Beschwerdeführerin äußerte er hierin zudem:
Ich weiß, ich habe mich mies benommen. Ich habe Menschen verarscht. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Aber das, was die Nebenklägerin mit mir gemacht hat, als sie sich den Vorwurf der Vergewaltigung ausdachte – das ist keine Verarsche. Das ist kriminell. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. (…) Ich habe keinen Sprung in der Schüssel. Viel interessanter wäre doch zu erfahren, was psychologisch in der Frau vorging, die mich einer Tat beschuldigt, die ich nicht begangen habe.
Daraufhin reagierte die Beschwerdeführerin mit einem Interview in einer Illustrierten, das eine Woche nach oben genanntem Interview erschien. Hierin äußerte sie sich sowohl unter Bezug auf die vermeintliche Tat als auch mit Bezug zum Kläger als vermeintlichen Täter:
Das Gericht unterstellt mir mit diesem Freispruch, dass ich so dumm und so niederträchtig sein könne, eine solche Vergewaltigungsgeschichte zu erfinden (…). Wer mich und ihn kennt, zweifelt keine Sekunde daran, dass ich mir diesen Wahnsinn nicht ausgedacht habe. Ich bin keine rachsüchtige Lügnerin.
(…) Fast unerträglich aber war für mich, die Aussagen der [vom Kläger] bezahlten Gutachter in der Presse lesen zu müssen. Diese Herren erklären vor Gericht, die Tat könne sich nicht so abgespielt haben, wie es die Nebenklägerin, also ich, behauptet – und man selbst sitzt zu Hause, liest das und weiß ganz genau: ES WAR ABER SO! (…)
Zu den Aktivitäten des Klägers im Internet:
Ja, das kann er. Andere beschimpfen und bloßstellen (…) In seinen Augen hat er in der besagten Nacht ja nichts falsch gemacht. Er hat nur die Machtverhältnisse wieder so hergestellt, wie sie seiner Meinung nach richtig sind.
Der im Strafprozess freigesprochene Kläger begehrte nun von der Beschwerdeführerin Unterlassung der dargelegten Äußerungen. Eine entsprechende Klage vor dem LG war erfolgreich; die hiergegen durch die Beschwerdeführerin eingelegten Rechtsmittel blieben erfolglos.
II. Lösung des BVerfG
Das BVerfG hatte hier nun zu prüfen, ob bei der Gewährung des Unterlassungsanspruchs § 1004 BGB durch die Gerichte eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (hier von Art. 5 GG) vorgelegen hat, weil die Bedeutung dieses Grundrechts bei der Prüfung nicht hinreichend beachtet wurde. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht hier bejaht.
a) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst auch Tatsachenbehauptungen. Diese sind aus Sicht des BVerfG Voraussetzung der Bildung von Meinungen und daher auch vom grundrechtlichen Schutz erfasst. Dies scheidet nur dann aus, wenn ein Meinungsbezug vollständig fehlt. Zudem entfällt ein Schutz bei einer unwahren Tatsache, da diese gerade kein schützenswertes Gut darstellen. Hier ist die Unwahrheit – trotz des Freispruchs des Klägers – aber nicht erwiesen. Im Strafverfahren konnte nicht geklärt werden, ob die Angaben der Beschwerdeführerin oder die des Klägers der Wahrheit entsprechen. Insofern war der Schutzbereich eröffnet.
b) Hierin wurde auch eingegriffen, indem die Verbreitung untersagt wurde.
c) Der Eingriff ist auch nicht gerechtfertigt.
Eine Schranke liegt in Gestalt des § 1004 BGB zwar vor:
Die Meinungsfreiheit ist nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen. Zivilrechtliche Grundlage zur Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Wege eines Unterlassungsanspruches ist hier § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog in Verbindung mit § 823 BGB.
Deren Anwendung ist hier aber nicht verhältnismäßig.
Die sich gegenüberstehenden Positionen sind in Ansehung der konkreten Umstände des Einzelfalles in ein Verhältnis zu bringen, das ihnen jeweils angemessen Rechnung trägt.
Das Bundesverfassungsgericht nimmt hier eine sehr übersichtliche und strukturierte Verhältnismäßigkeitsprüfung vor die nachfolgend dargestellt wird:
Zunächst wird der Inhalt Äußerung problematisiert. Eine die öffentlichen Interessen betreffende Äußerung ist dabei stärker zu schützen:
Von Bedeutung ist […], ob die Äußerung lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen betrifft oder ob von der Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede (vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 93, 266 <294>). Allerdings beschränkt sich die Meinungsfreiheit nicht allein auf die Gewährleistung eines geistigen Meinungskampfs in öffentlichen Angelegenheiten […]. Die Meinungsfreiheit ist als individuelles Freiheitsrecht folglich auch um ihrer Privatnützigkeit willen gewährleistet und umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen.
Zudem betont dass BVerfG, dass die Maßstäbe an die Prüfung der Angemessenheit dann andere sind, wenn die Äußerung durch vorherige Verlautbarungen faktisch „provoziert“ wurde:
Zu berücksichtigen ist weiter, dass grundsätzlich auch die überspitzte Meinungsäußerung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung unterliegt (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>). Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 24, 278 <286>). Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert (vgl. BVerfGE 12, 113 <131>; 24, 278 <286>; 54, 129 <138>).
Diese Abwägungsgesichtspunkte wurden aus Sicht des BVerfG vom LG und OLG verkannt. Hauptkritikpunkt ist dabei, dass die Gerichte die Meinungsäußerung auf die Verlautbarung einer rein sachlichen Darstellung des Geschehens beschränkt werden soll. Diese Einschränkung ist aus Sicht des BVerfG gerade nicht geboten. Auch emotionale Faktoren sind zu beachten:
Indem die Gerichte aber davon ausgingen, dass sich die Beschwerdeführerin auf die Wiedergabe der wesentlichen Fakten und eine sachliche Darstellung des behaupteten Geschehens zu beschränken habe, verkennen sie die durch das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Diese Auffassung übersieht auch das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und auch Härten, die ein rechtsstaatliches Strafprozessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann. Zudem haben die Gerichte in die erforderliche Abwägung nicht den Druck eingestellt, der auf der Beschwerdeführerin lastete und sie dazu brachte, das Ergebnis des weithin von der Öffentlichkeit begleiteten Prozesses kommunikativ verarbeiten zu wollen.
Dies gilt erst Recht im Hinblick auf die vorhergehende Äußerung des Klägers:
Das Oberlandesgericht geht insoweit zwar zutreffend davon aus, dass der Beschwerdeführerin ein „Recht auf Gegenschlag“ zusteht. Die Gerichte verkennen aber, dass sie dabei nicht auf eine sachliche, am Interview des Klägers orientierte Erwiderung beschränkt ist, weil auch der Kläger und seine Anwälte sich nicht sachlich, sondern gleichfalls in emotionalisierender Weise äußerten. Der Kläger, der auf diese Weise an die Öffentlichkeit trat, muss eine entsprechende Reaktion der Beschwerdeführerin hinnehmen.
Aus diesem Grund liegt eine Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit vor. Die Bedeutung der Grundrechte wurde hier verkannt.
III. Examensrelevanz
Die Bedeutung der Konstellation für das Examen ist offensichtlich: Die Meinungsfreiheit ist ein häufig und gern geprüftes Grundrecht, dass sich ob seiner praktischen Relevanz und ob seiner ausdifferenzierten Inhalte sehr gut für eine Klausur eignet.
Am Beschluss des BVerfG lässt sich zudem die Systematik der Prüfung sehr gut nachvollziehen. Zum einen wird deutlich, dass das BVerfG allein eine Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch das Urteil prüft (ob also beim Urteil zentrale Wertungen verkannt wurden) zum anderen zeigt das Gericht hier auch sehr gut, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung – trotzdem sie häufig als „schwammig“ empfunden wird – an harte Kriterien und Tatsachen anzuknüpfen hat. Gerade dies bringt in der Klausur hohe Punktzahlen.