Ein landesweites pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in deutschen Klassenzimmern ist verfassungswidrig. Komme es in bestimmten Schulen oder Schulbezirken durch das Tragen des Kopftuchs nicht zu einer hinreichend konkreten Gefährdung bzw. Störung des Schuldfriedens oder der staatlichen Neutralität, bestehe kein anerkennenswertes Bedürfnis, religiöse Bekundungen durch Lehrer allgemein aus dem Klassenzimmer zu verbannen. Der Erste Senat hat mit dieser Entscheidung eine Abkehr von der ersten Kopftuch-Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003 vorgenommen und im Rahmen der erforderlichen verfassungsrechtlichen Abwägung die Glaubensfreiheit muslimischer Lehrerinnen in der Schule deutlich stärker gewichtet als bislang. Die Gerichtsentscheidung ist mittlerweile in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte über Religion, Einwanderung und Integration geraten: Während das Urteil nach einigen Stimmen die Integration und Gleichberechtigung der Religionen fördere (Prantl auf SZ-Online), stehen andere dem Urteil verhaltener gegenüber und betonen demgegenüber die religiöse und weltanschauliche Neutralität der Schule sowie die negative Religionsfreiheit der Schüler und befürchten, dass der Streit um das Kopftuch von nun an unmittelbar in die Schule und damit auch das Klassenzimmer verlagert werde (Wefing auf Zeit-Online). Vereinzelt wird das Urteil auch schärfer und polemischer kritisiert: So wertet beispielsweise der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, Michael Bertrams, den Beschluss als Zeichen von „höchstrichterlicher Ignoranz“ (Interview auf FR-Online). Im Folgenden soll daher eine Darstellung der wesentlichen Argumentationslinien des Gerichts erfolgen.
A. Sachverhalt
Gegenstand der Entscheidung des BVerfG waren zwei Verfassungsbeschwerden zweier Lehrkräfte muslimischen Glaubens gegen letztinstanzlich ergangenen arbeitsgerichtlichen Urteile, die die Zulässigkeit von arbeitsrechtlichen Sanktionen des Landes NRW gegenüber den Beschwerdeführerinnen infolge des religiös motivierten Tragens von Kopfbedeckungen im Schuldienst bestätigten.
Grundlage für diese arbeitsrechtlichen Maßnahmen des Landes sowie die Entscheidungen der Arbeitsgerichte bildeten die Regelungen im Schulgesetz (SchulG) NRW über die Zulässigkeit und Grenzen religiöser Bekundungen durch im Schulwesen beschäftigte Personen. Die maßgebliche Vorschrift des § 57 Abs. 4 SchulG NRW lautet:
Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich- demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. Das Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen.
I. Verfahren der Beschwerdeführerin zu I
Bei der ersten Beschwerdeführerin handelt es sich um eine Sozialpädagogin muslimischen Glaubens, die seit ihrem 17. Lebensjahr aus religiösen Gründen das Kopftuch trägt und seit 1997 beim Land NRW angestellt und an einer Gesamtschule beschäftigt ist, wo sie insbesondere mit der Schlichtung von Schulkonflikten befasst ist. Nach Inkrafttreten der Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW wurde sie von der Schuldbehörde aufgefordert das Kopftuch während ihrer dienstlichen Tätigkeit in der Schule abzulegen. Die betroffene Beschwerdeführerin kam der Aufforderung nach, bedeckte allerdings in der Folge ihr Haar, den Haaransatz sowie die Ohren vollständig durch eine Ersatzbekleidung in Form einer rosafarbenen Baskenmütze. Die Schulbehörde erteilte der Beschwerdeführerin daraufhin eine Abmahnung und drohte zugleich eine Kündigung an, da die betroffene Lehrkraft durch das Tragen religiös motivierter Kopfbekleidung den Schulfrieden gefährde. Darüber hinaus begründete die Behörde die arbeitsrechtlichen Maßnahmen mit dem Argument, dass durch das Tragen des Kopftuchs bei den Schülern sowie deren Eltern der Eindruck entstehen könne, dass die Betroffene nicht die Werte der Menschenwürde, der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder der freiheitlich-demokratischen Grundordnung teile.
Im arbeitsgerichtlichen Verfahren bestätigten die Arbeitsgerichte die Entscheidung der Schuldbehörde und werteten das Verhalten der Beschwerdeführerin als bewusste religiöse Kundgabe im Sinne des § 57 Abs. 4 SchulG NRW, die geeignet sei, den Schuldfrieden zu stören, da es auf die Deutung durch die Schüler oder die Eltern aus der Sicht eines objektiven Beobachters ankomme. Dem Einwand, dass die betroffene Lehrkraft das Kopftuch abgelegt habe und es sich bei der Ersatzbekleidung lediglich um eine rosafarbene Baskenmütze handle, entgegneten die Gerichte mit der Argumentation, dass das Verhalten bei einer objektiven Betrachtung dennoch als religiös motiviert anzusehen sei, da durch die Mütze Haare, Haaransatz und Ohren vollständig bedeckt würden und die Wollmütze offenkundig das bislang von der Lehrkraft getragene Kopftuch ersetzen solle. Nach Ansicht der Gerichte könne das Verbot durch die ihrer Auffassung nach verfassungsrechtlich zulässige Norm des § 57 SchulG gerechtfertigt werden, da der Gesetzgeber eine Einschätzungsprägorative habe und dementsprechend auch weit reichende Regelungen treffen könne, um den Schulfrieden und die religiöse Neutralität zu sichern. Darüber hinaus sei § 57 Abs. 4 SchulG auch nicht deshalb verfassungsrechtlich unzulässig, weil die Norm in Satz 3 eine Darstellung christlicher sowie abendländischer Bildungs- und Kulturwerte zulasse. Eine religiöse Ungleichbehandlung liege nämlich deswegen nicht vor, weil die Darstellung derartiger Werte mit einer Erörterung und Diskussion verbunden sei und daher nicht mit der Kundgabe eines individuellen religiösen Bekenntnisses gleichzusetzen sei, die durch die Norm verhindert werden solle. Zudem bezeichne der Begriff des „Christlichen“ – unabhängig von seiner Herkunft aus dem religiösen Bereich – Werte, die aus der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangen seien und auch dem Grundgesetz zugrunde liegen.
II. Verfahren der Beschwerdeführerin zu II
Bei der Beschwerdeführerin zu II. handelt es sich ebenfalls um eine muslimische Lehrkraft, die aufgrund für verbindlich erachteter religiöser Vorschriften ein Kopftuch trägt und dieses auch im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit nicht ablegt. Die Betroffene war als Lehrerin beim Land NRW angestellt und unterrichtete an verschiedenen Schulen muttersprachlichen Unterricht in türkischer Sprache an dem stets nur muslimische Schüler teilnahmen. Im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit hatte es bislang nie Beanstandungen wegen ihres Kopftuchs gegeben. Nach einer Information durch den Schulleiter, dass mit dem Inkrafttreten der Regelung des § 57 SchulG NRW das Tragen des Kopftuchs nicht mehr mit den gesetzlichen Vorgaben vereinbar sei, hielt die Beschwerdeführerin jedoch weiter an der religiös motivierten Bekleidung fest. In der Folge wurde sie durch ihrer Arbeitgeber, das Land NRW, allerdings mit der Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen abgemahnt. Die Beschwerdeführerin kam jedoch auch dieser Aufforderung nicht nach und wurde schlussendlich aus dem Schuldienst entlassen. Die gegen die Kündigung eingelegten Rechtsmittel hatten keinen Erfolg, da die Arbeitsgerichte auch diese arbeitsrechtlichen Maßnahmen des Landes NRW bestätigten.
B. Rechtliche Würdigung durch das BVerfG
I. Verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab
Zu beachten ist, dass bei beiden Verfahren unmittelbarer Angriffsgegenstand der Verfassungsbeschwerde eine mögliche Grundrechtsverletzung durch die letztinstanzliche arbeitsgerichtliche Entscheidung ist. Die Verfassungsbeschwerden richten sich folglich gegen Akte der rechtsprechenden Gewalt in Form von Gerichtsurteilen, so dass es sich um sogenannte Urteilsverfassungsbeschwerden handelt (vertiefend zur Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Prüfung Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 178ff.). Zwar nimmt das BVerfG grundsätzlich eine umfassende Prüfung der behaupteten Grundrechtsverletzung vor, hat dabei allerdings nicht die Funktion einer Superrevisionsinstanz (BVerfGE 1, 418 (420); 18, 85 (92)), die die Urteile der Fachgerichte auf ihre Vereinbarkeit mit dem einfachen Recht kontrolliert. Das BVerfG ist vielmehr in seinen Kompetenzen auf eine Überprüfung spezifischen Verfassungsrechts, also grundrechtsrelevante Fehler, beschränkt. Die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts ist beim außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde folglich nicht einer Kontrolle durch das BVerfG zugänglich. So führt das BVerfG in seiner maßgeblichen Entscheidung auch aus:
Andererseits würde es dem Sinn der Verfassungsbeschwerde und der besonderen Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht werden, wollte dieses ähnlich wie eine Revisionsinstanz die unbeschränkte rechtliche Nachprüfung von gerichtlichen Entscheidungen um deswillen in Anspruch nehmen, weil eine unrichtige Entscheidung möglicherweise Grundrechte des unterlegenen Teils berührt. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen… Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. (BVerfGE 18, 85 (92)).
II. Eröffnung des Schutzbereich
1. Besonderheiten von Sonderrechtsverhältnissen
Fraglich ist allerdings, ob sich die beiden Lehrkräfte im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit überhaupt auf grundrechtlich gewährleistete Freiheiten berufen und somit ein Recht auf Tragen des Kopftuchs herleiten können. Dagegen könnte sprechen, dass es sich bei der vorliegenden Sachverhaltskonstellation um ein sogenanntes Sonderrechtsverhältnis handelt, bei dem eine besondere Beziehung des Betroffenen zum Staat besteht, die hinsichtlich ihrer Intensität vom gewöhnlichen Staat-Bürger-Verhältnis abweicht (Instruktiv zu den Problemen derartiger Sonderstatutverhältnisse v. Kielmannsegg, Das Sonderstatutverhältnis, in: JA 2012, 881ff.). Charakteristikum derartiger Sonderstatutverhältnisse ist gerade eine Eingliederungslage, bei der die Betroffenen eine besonders enge Beziehung zum Staat aufweisen. So handeln beispielsweise Lehrer im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit als Amtsträger und treten folglich als Teil der staatlichen Organisation auf. Als typische Sonderrechtsverhältnisse sind vor allem das Beamten-, Soldaten-, Schülern- oder Strafgefangenenverhältnis zum Staat zu identifizieren. Hier waren die betroffenen Lehrkräfte zwar nicht verbeamtet, sondern lediglich Angestellte im öffentlichen Dienst, allerdings ist auch diese Beziehung von den dargelegten Besonderheiten gekennzeichnet. Bis zur Strafgefangenenentscheidung des BVerfG sollten die Grundrechte nach der von der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik übernommenen Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis in derartigen Verhältnissen nur eingeschränkt Geltung finden, so dass insbesondere der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes nicht zur Anwendung kommen sollte. In seiner Entscheidung in BVerfGE 33, 1 ff. hat das BVerfG jedoch bereits in den Leitsätzen festgestellt, dass aufgrund der in Art. 1 Abs. 3 GG angeordneten lückenlosen Grundrechtsbindung aller Staatsgewalt, die Grundrechte auch in Sonderrechtsverhältnisses nur durch oder aufgrund eines Gesetzes einschränkbar sind. Lehrerinnen geben somit ihre Grundrechte nicht an der Tür zum Klassenzimmer ab, sondern können sich daher auch gegenüber dem Land auf ihre grundrechtlich geschützten Freiheiten berufen. Das BVerfG geht daher in seinem Beschluss vom 27. Januar auch nur noch kurz auf diese Besonderheiten ein:
Die Beschwerdeführerinnen können sich auch als Angestellte im öffentlichen Dienst auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Die Grundrechtsberechtigung der Beschwerdeführerinnen wird durch ihre Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich der Schule nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt….
2. Gewährleistungsumfang von Art. 4 GG
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisten nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und der sich dieser Auslegungsvariante anschließenden Literatur das einheitliche Grundrecht der Glaubensfreiheit (BVerfGE 24, 236 (245); 32, 98 (106); 33, 23 (30); zuletzt BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10 – Rn. 85. Aus der Literatur dazu nur Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 4 Rn.10. Vgl. zur Gegenansicht, die die Freiheitsrechte in mehrere Einzelgrundrechte untergliedern will, u.a. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rn. 5ff. und Muckel, in: Berl. Kommentar GG, Art. 4 Rn. 33).
Der Schutzbereich der Glaubensfreiheit wird dabei denkbar weit verstanden, so nicht das Forum Internum, also die Möglichkeit, einen Glauben zu bilden und zu haben, sondern auch das Forum Externum gewährleistet ist, so dass auch die Freiheit seinen Glauben auszuleben, geschützt wird (Tillmanns, Die Religionsfreiheit, Jura 2004, 619 (622)). Die vorherrschende Meinung legt die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Glaubensfreiheit dabei derart extensiv aus, dass jedes religiös oder weltanschaulich motivierte Handeln vom Schutzbereich erfasst ist: So enthält Art. 4 GG das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. An diese Leseart knüpft das BVerfG auch im vorliegenden Beschluss an und stellt das religiös motivierte Tragen eines Kopftuches unter den Schutz des Grundrechts der Glaubensfreiheit.
Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 24, 236 (247 f.); 108, 282 (298 f.)). Dies bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der Glaubensfreiheit angesehen werden muss. Die staatlichen Organe dürfen prüfen und entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das Verhalten tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung in plausibler Weise dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen lässt, also tatsächlich eine als religiös anzusehende Motivation hat. Dem Staat ist es indes verwehrt, derartige Glaubensüberzeugungen seiner Bürger zu bewerten oder gar als „richtig“ oder „falsch“ zu bezeichnen;…
Die Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich dafür auch bei der Ausübung ihres Berufs in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule, aber auch für das Tragen einer sonstigen Bekleidung, durch die Haare und Hals nachvollziehbar aus religiösen Gründen bedeckt werden, auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen.
III. Grundrechtseingriff
Das BVerfG ordnet die auf § 57 Abs. 4 SchulG gestützte und von den Arbeitsgerichten bestätigte Untersagung des Kopftuchs, in Verbindung mit den getroffenen arbeitsrechtlichen Sanktionen, vor dem Hintergrund der von beiden Frauen für verbindlich erachteten Glaubensvorschriften als besonders schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG gewährleistete Grundrecht der Glaubensfreiheit ein.
Die Beschwerdeführerinnen berufen sich nicht nur auf eine religiöse Empfehlung, deren Befolgung für die einzelnen Gläubigen disponibel oder aufschiebbar ist. Vielmehr haben sie plausibel dargelegt, dass es sich für sie – entsprechend dem Selbstverständnis von Teilen im Islam… – um ein imperatives religiöses Bedeckungsgebot in der Öffentlichkeit handelt, das zudem nachvollziehbar ihre persönliche Identität berührt (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), so dass ein Verbot dieser Bedeckung im Schuldienst für sie sogar den Zugang zum Beruf verstellen kann (Art. 12 Abs. 1 GG). Dass auf diese Weise derzeit faktisch vor allem muslimische Frauen von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Pädagoginnen ferngehalten werden, steht zugleich in einem rechtfertigungsbedürftigen Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG). Vor diesem Hintergrund greift das gesetzliche Bekundungsverbot in ihr Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit trotz seiner zeitlichen und örtlichen Begrenzung auf den schulischen Bereich mit erheblich größerem Gewicht ein, als dies bei einer religiösen Übung ohne plausiblen Verbindlichkeitsanspruch der Fall wäre.
IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
Möglicherweise könnte der Eingriff in die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der betroffenen Lehrerinnen allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
1. Schrankenproblematik des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
Problematisch ist jedoch, dass das Grundrecht der Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG keinen geschriebenen Gesetzesvorbehalt enthält, dem Wortlaut nach folglich vorbehaltlos gewährleistet ist. Fraglich ist somit, inwieweit das Grundrecht der Glaubensfreiheit überhaupt einschränkbar ist. Bei der Beantwortung dieser Frage besteht in der Staatsrechtslehre grundsätzlich Einigkeit darüber, dass auch ein dem Wortlaut nach vorbehaltlos garantiertes Grundrecht nicht schrankenlos gewährleistet werden kann. Im Rahmen von Art. 4 GG ist jedoch umstritten, unter welchen Voraussetzungen eine solche Einschränkung möglich ist:
Eine heute nur noch vereinzelt vertretene Meinung spricht sich für das Modell einer Schrankenleihe aus und will die Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) durch die Schranke des Art. 2 Abs.1 GG einschränken, während zur Begrenzung der Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) die Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG herangezogen werden soll (vgl. dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rn. 90, 114). Dieser Anspricht steht allerdings entschieden die Spezialität der Einzelfreiheitsrechte entgegen, die jeweils einer eigenen Schrankenregelung unterliegen. Darüber hinaus birgt eine Schrankenleihe insbesondere die Gefahr, die sich aus dem GG ergebende Schrankensystematik zu nivellieren (Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 85).
Das BVerwG und ein immer größer werdender Anteil der Literatur vertreten demgegenüber die Auffassung, dass das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV einem geschrieben Gesetzesvorbehalt unterliege und daher unter den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze gestellt werde (vgl. dazu BVerwGE 112, 227 (231ff.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4 Rn. 28; Mager, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 4 Rn. 48ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 4 Rn.87f.). Zur Begründung wird insbesondere das Argument herangezogen, dass wenn nach Maßgabe des Art. 136 Abs.1 WRV die staatsbürgerlichen Rechtspflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt oder bedingt werden, diese auch als Schranken der Religionsfreiheit wirken müssten.
Das BVerfG und die sich seiner Rechtsprechung anschließende Literatur lehnen hingegen seither die Anwendbarkeit des Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke ab und sehen die Norm aufgrund der besonderen Bedeutung der Glaubensfreiheit vielmehr als durch Art. 4 GG überlagert an. Stattdessen könne ein Eingriff in das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit vielmehr nur durch verfassungsimmanente Schranken, also durch das Wertesystem des GG selbst, gerechtfertigt werden (BVerfGE 28, 243 (261); 33, 23 (33); Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 136 WRV Rn. 54; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 4 Rn.111f.). Zwischen den sich widerstreitenden Verfassungsgütern sei schließlich im Wege der praktischen Konkordanz ein möglichst schonender und wechselseitiger Ausgleich herbeizuführen.
(Anmerkung in einer Klausur müsste man argumentativ zu den beiden Ansichten Stellung beziehen. Vgl. dazu überblicksartig Epping, Grundrechte, Rn. 316ff.).
Das BVerfG hält auch im vorliegenden Beschluss an dieser Auffassung fest und zählt den staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 GG) – der unter Wahrung der Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates zu erfüllen ist -, die durch Art. 4 Abs.1, 2 GG gewährleistete negative Glaubensfreiheit der Schüler sowie das elterliche Erziehungsrecht nach Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, 2 GG als verfassungsimmanente Schranken auf, als deren Ausprägung § 57 Abs. 4 SchulG NRW angesehen werden könne:
Einschränkungen dieses Grundrechts müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil Art. 4 Abs. 1 und 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 28, 243 (260 f.); 41, 29 (50 f.)…). Als mit der Glaubensfreiheit in Widerstreit tretende Verfassungsgüter kommen hier neben dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und die negative Glaubensfreiheit der Schüler (Art. 4 Abs. 1 GG) in Betracht…
2. Schranken-Schranken
Zwar ist mit § 57 Abs. 4 SchulG NRW eine gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der betroffenen Lehrerinnen gegeben, allerdings muss diese selbst verfassungskonform sein und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen.
a) Zweck und Geeignetheit der Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW
Das durch § 57 Abs. 4 SchulG etablierte Verbot äußerer religiöser Bekunden verfolgt nach Ansicht des BVerfG einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck:
Sein Anliegen ist es, den Schulfrieden und die staatliche Neutralität zu wahren, so den staatlichen Erziehungsauftrag abzusichern, gegenläufige Grundrechte von Schülern und Eltern zu schützen und damit Konflikten in dem von ihm in Vorsorge genommenen Bereich der öffentlichen Schule von vornherein vorzubeugen (vgl. LTDrucks 14/569, S. 7 ff.). Gegen diese Zielsetzungen ist von Verfassungs wegen offensichtlich nichts zu erinnern.
Darüber hinaus ist das lückenlose Verbot auch ein geeignetes Mittel zur Verwirklichung der verfassungsimmanenten Schranken der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der betroffenen Lehrkräfte.
b) Erforderlichkeit der Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW
Fraglich ist jedoch, ob die Regelung im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch erforderlich war. Dies ist entsprechend dem Gebot des geringsten Eingriffs dann der Fall, wenn kein milderes Mittel existiert, welches den mit der Regelung verfolgten Zweck ebenso gut bzw. effektiv verwirklichen kann (Hufen, §9 Rn.21). Unter mehreren gleich geeigneten Mitteln muss der Staat folglich das mildeste Mittel wählen. Das BVerfG äußert in seinem Beschluss bereits Zweifel hinsichtlich der Erforderlichkeit der Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW, die nach der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte bereits die abstrakte Eignung äußerer religiöser Bekundungen zur Gefährdung des Schulfriedens genügen lässt, belässt es jedoch bei einer Andeutung und führt diese nicht weiter aus, da die Regelung in der maßgeblichen Deutung durch die Gerichte im Fall von für verbindlich erachteten religiösen Bekleidungsvorschriften jedenfalls als unverhältnismäßig im engeren Sinn einzuordnen sei.
c) Angemessenheit der Regelung
Das BVerfG erachtet die durch die Verbotsnorm des § 57 Abs. 4 SchulG NRW getroffene Regelung mithin nicht mehr für angemessen: Nach Ansicht des BVerfG erfordert nämlich ein angemessener Ausgleich der gegenläufigen verfassungsrechtlichen Positionen für den Fall, dass das grundrechtlich geschützte Verhalten der Lehrkräfte auf ein für verbindlich erachtetes religiöses Gebot zurückzuführen ist, dahingehend eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm des § 57 Abs. 4 SchulG NRW, dass zumindest eine konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss. Zwar seien bei der Prüfung der Angemessenheit auch gegenläufige verfassungsrechtlich geschützten Positionen, wie die negative Glaubensfreiheit der Schüler, das elterliche Erziehungsrecht oder die Pflicht zur religiösen Neutralität des Staates zu berücksichtigen, allerdings müsse der Gesetzgeber im Rahmen der ihm zustehenden Einschätzungsprägorative insbesondere auch die Grenze der Zumutbarkeit berücksichtigen. Keine dieser der Glaubensfreiheit gegenläufigen Positionen sei allerdings derart hoch zu gewichten, dass bereits die abstrakte Gefahr ihrer Beeinträchtigung ein Verbot des Tragens religiös konnotierter Bekleidung rechtfertigen könne, wenn diese Bekleidung nachvollziehbar auf ein als bindend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen sei.
aa ) Negative Glaubensfreiheit
Die negative Glaubensfreiheit… gewährleistet die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben; … Die Einzelnen haben in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, allerdings kein Recht darauf, von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen sich dieser manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist (vgl. BVerfGE 93, 1 (15 f.)). In einer unausweichlichen Situation befinden sich Schülerinnen und Schüler zwar auch dann, wenn sie sich infolge der allgemeinen Schulpflicht während des Unterrichts ohne Ausweichmöglichkeit einer vom Staat angestellten Lehrerin gegenüber sehen, die ein islamisches Kopftuch trägt. Im Blick auf die Wirkung religiöser Ausdrucksmittel ist allerdings danach zu unterscheiden, ob das in Frage stehende Zeichen auf Veranlassung der Schulbehörde oder aufgrund einer eigenen Entscheidung von einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen verwendet wird, die hierfür das individuelle Freiheitsrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Anspruch nehmen können. Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin oder einer pädagogischen Mitarbeiterin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen (vgl. BVerfGE 108, 282 (305 f.)).
…Solange die Lehrkräfte, die nur ein solches äußeres Erscheinungsbild an den Tag legen, nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die Schülerinnen und Schüler über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen, wird deren negative Glaubensfreiheit grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Die Schülerinnen und Schüler werden lediglich mit der ausgeübten positiven Glaubensfreiheit der Lehrkräfte in Form einer glaubensgemäßen Bekleidung konfrontiert, was im Übrigen durch das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen wird…
bb) Elterliches Erziehungsrecht
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG … umfasst zusammen mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht; daher ist es zuvörderst Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten … Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern als falsch oder schädlich erscheinen … Jedoch enthält Art. 6 Abs. 2 GG keinen ausschließlichen Erziehungsanspruch der Eltern. Eigenständig und in seinem Bereich gleichgeordnet neben den Eltern übt der Staat, dem nach Art. 7 Abs. 1 GG die Aufsicht über das gesamte Schulwesen übertragen ist, in der Schule einen eigenen Erziehungsauftrag aus …
Ein etwaiger Anspruch, die Schulkinder vom Einfluss solcher Lehrkräfte fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgen, lässt sich aus dem Elterngrundrecht danach nicht herleiten, soweit dadurch die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler nicht beeinträchtigt ist.
cc) Staatlicher Erziehungsauftrag und Pflicht zur religiösen Neutralität
Darüber hinaus steht auch der staatliche Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, der Betätigung der positiven Glaubensfreiheit der Pädagoginnen durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs nicht generell entgegen…
Das Grundgesetz begründet für den Staat … die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität… Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten…und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren … Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen…
Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist indessen nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung…Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen…mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren…
Dies gilt auch für den … Bereich der Schule…Danach sind etwa christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht ausgeschlossen; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. Weil Bezüge zu verschiedenen Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der öffentlichen Schule möglich sind, ist für sich genommen auch die bloß am äußeren Erscheinungsbild hervortretende Sichtbarkeit religiöser oder weltanschaulicher Zugehörigkeit einzelner Lehrkräfte… nicht ohne Weiteres ausgeschlossen.
dd) Verfassungskonforme Auslegung des § 57 Abs. 4 SchulG
Davon ausgehend ist das… an eine bloß abstrakte Gefährdung der in § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW genannten Schutzgüter anknüpfende strikte und landesweite Verbot einer äußeren religiösen Bekundung jedenfalls für die hier gegebenen Fallkonstellationen den betroffenen Grundrechtsträgerinnen nicht zumutbar und verdrängt in unangemessener Weise deren Grundrecht auf Glaubensfreiheit. Denn mit dem Tragen eines Kopftuchs durch einzelne Pädagoginnen ist – anders als dies beim staatlich verantworteten Kreuz oder Kruzifix im Schulzimmer der Fall ist (vgl. BVerfGE 93, 1 (15 ff.)) – keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben verbunden. Auch eine Wertung in dem Sinne, dass das glaubensgeleitete Verhalten der Pädagoginnen schulseits als vorbildhaft angesehen und schon deshalb der Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gefährdet oder gestört werden könnte, ist einer entsprechenden Duldung durch den Dienstherrn nicht beizulegen. Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerinnen einem nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen Glaubensgebot Folge leisten…
Anders verhält es sich dann, wenn das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität führt oder wesentlich dazu beiträgt. Dies wäre etwa in einer Situation denkbar, in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und in einer Weise in die Schule hineingetragen würden, welche die schulischen Abläufe und die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags ernsthaft beeinträchtigte, sofern die Sichtbarkeit religiöser Überzeugungen und Bekleidungspraktiken diesen Konflikt erzeugte oder schürte. Bei Vorliegen einer solchermaßen begründeten hinreichend konkreten Gefahr ist es den grundrechtsberechtigten Pädagoginnen und Pädagogen mit Rücksicht auf alle in Rede und gegebenenfalls in Widerstreit stehenden Verfassungsgüter zumutbar, von der Befolgung eines nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen religiösen Bedeckungsgebots Abstand zu nehmen, um eine geordnete, insbesondere die Grundrechte der Schüler und Eltern sowie das staatliche Neutralitätsgebot wahrende Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags sicherzustellen. Aber auch dann wird die Dienstbehörde im Interesse des Grundrechtsschutzes der Betroffenen zunächst eine anderweitige pädagogische Verwendungsmöglichkeit mit in Betracht zu ziehen haben.
Wird in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht, kann ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, äußere religiöse Bekundungen nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden. Einer solchen Situation kann der Gesetzgeber insoweit auch vorbeugend … durch bereichsorientierte Lösungen Rechnung tragen… Solange der Gesetzgeber dazu aber keine differenziertere Regelung trifft, kann eine Verdrängung der Glaubensfreiheit von Lehrkräften nur dann als angemessener Ausgleich der in Rede stehenden Verfassungsgüter in Betracht kommen, wenn wenigstens eine hinreichend konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder den Schulfrieden belegbar ist.
Infolge dessen, dass der Eingriff in die grundrechtlich geschützte Glaubensfreiheit der beiden Lehrkräfte nach Ansicht der die Entscheidung tragenden Richter nicht gerechtfertigt werden kann, ist die Verfassungsbeschwerde mithin begründet.
C. Religionsrechtliche Gleichbehandlung
Bislang weniger beachtet wurden auch die Aussagen zum Paritätsgrundsatz im Beschluss des Ersten Senats. So stellt nach Ansicht des Senats die Privilegierungsbestimmung des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NRW zugunsten der Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte eine nicht zu rechtfertigende und damit gleichheitswidrige Benachteiligung aus Gründen des Glaubens und der religiösen Anschauungen dar:
Eine solche Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Werden äußere religiöse Bekundungen durch das pädagogische Personal in der Schule untersagt, so muss dies grundsätzlich unterschiedslos geschehen.
Tragfähige Gründe für eine Benachteiligung äußerer religiöser Bekundungen, die sich nicht auf christlich-abendländische Kulturwerte und Traditionen zurückführen lassen, sind nicht erkennbar. Soweit von einem bestimmten äußeren Verhalten etwa eine besondere indoktrinierende Suggestivkraft ausgehen kann, wird dem ohne Weiteres durch das Verbot des Satzes 1 des § 57 Abs. 4 SchulG NW in der von Verfassungs wegen gebotenen einschränkenden Auslegung Rechnung getragen… Ebenso wenig ergeben sich für eine Bevorzugung christlich und jüdisch verankerter religiöser Bekundungen tragfähige Rechtfertigungsmöglichkeiten. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags, wie er in Art. 7 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 3 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen umschrieben ist, rechtfertigt es nicht, Amtsträger einer bestimmten Religionszugehörigkeit bei der Statuierung von Dienstpflichten zu bevorzugen….
Eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des Satzes 3 von § 57 Abs. 4 SchulG NW, wie sie das Bundesarbeitsgericht zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Benachteiligung aus religiösen Gründen seinen Entscheidungen zugrunde gelegt hat, ist nicht möglich. Sie würde die Grenzen verfassungskonformer Norminterpretation überschreiten und wäre mit der richterlichen Gesetzesbindung nicht vereinbar (Art. 20 Abs. 3 GG)….Das Bundesarbeitsgericht hat darauf abgestellt, dass die „Darstellung“ christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte im Sinne des Satzes 3 nicht gleichzusetzen sei mit der „Bekundung“ eines individuellen Bekenntnisses im Sinne des Satzes 1. Zudem bezeichne der Begriff des „Christlichen“ eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zugrunde liege und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beanspruche.
Zwar mag der unterschiedliche Sprachgebrauch in Satz 1 („Bekundungen“) und Satz 3 („Darstellung“) einen Ansatz für die vom Bundesarbeitsgericht gefundene Auslegung bieten…..Gleichwohl wurde ebenso wie von den Gesetzesinitiatoren auch im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens die Absicht gehegt, jedenfalls keine Regelung zu treffen, die beispielsweise Lehrerinnen das Unterrichten in einem Ordenshabit verbietet oder das Tragen der jüdischen Kippa untersagen sollte (LTDrucks 14/569, S. 9). Insofern folgerichtig hat der Gesetzgeber die Regelung des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW ausdrücklich auf das Bekundungsverbot des Satzes 1 bezogen und diese gesetzgebungstechnisch als Ausnahme konstruiert. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass Satz 3 in seinem Wortlaut zwar den Erziehungsauftrag der Landesverfassung insgesamt erwähnt, dann aber nur die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen vom Verhaltensgebot des Satzes 1 ausnimmt. Die im Wortlaut der Verfassungsbestimmung des Art. 12 Abs. 3 Satz 1 Verf NW daneben ausdrücklich erwähnte Offenheit auch für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen wird indessen außer Acht gelassen und nicht mehr aufgeführt. All das verdeutlicht, dass die vom Bundesarbeitsgericht gefundene einschränkende Auslegung der Vorschrift deren normativen Gehalt im Grunde neu bestimmt und damit auch den im Gesetzgebungsverfahren klar erkennbar hervorgetretenen Willen des Gesetzgebers nicht mehr trifft. Dieser Wille hat sich nicht durch die vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens erfolgte Erörterung der Möglichkeit einer anderen Auslegung verändert; diese lässt lediglich erkennen, dass der Landtag sich des verfassungsrechtlichen Risikos bewusst war.
D. Sondervotum der Richter Schluckebier und Herrmanns
Der Beschluss des ersten Senats des BVerfG wird allerdings von zwei Richtern nicht mitgetragen, die ihre abweichende Position hinsichtlich des Ergebnisses sowie der Begründung der Entscheidung in einem Sondervotum darlegen und dem Senat darin insbesondere vorwerfen, die der Glaubensfreiheit der Pädagoginnen entgegenstehenden verfassungsrechtlich geschützten Positionen – die negative Glaubensfreiheit der Schüler, das elterliche Erziehungsrecht sowie der staatliche Erziehungsauftrag, der unter Beachtung der Pflicht zur religiösen Neutralität durchzuführen ist – nicht hinreichend berücksichtigt zu haben. Gerade wenn die mit dem Tragen religiös motivierter Bekleidung verbundene Bekundungswirkung wie hier eine besondere Intensität erlange, sei die vom Senat geforderte einschränkende Auslegung des § 57 Abs.4 SchulG NRW verfassungsrechtlich gerade nicht geboten.
I. Zum Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers
Zum einen stehe dem Gesetzgeber nach dem ersten „Kopftuch-Urteil“ des Zweiten Senats des BVerfG ein weiter gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung der Konfliktlage zu, der der Entscheidung hätte zugrunde gelegt werden müssen und die der Senat stattdessen für nicht entscheidungserheblich erachtet habe:
Die bekenntnisoffene öffentliche Gemeinschaftsschule ist durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen … gekennzeichnet, deren Freiheitsgewährleistung im Alltag auch das Tragen religiös konnotierter Bekleidung umfasst. Der Erziehungsauftrag des Staates, den er in fördernder und wohlwollender Neutralität gegenüber den unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Richtungen wahrzunehmen hat, erfordert im Blick auf Pädagogen, die in der Schule von ihrer individuellen Glaubensfreiheit Gebrauch machen, in der Ausgestaltung einen angemessenen und schonenden Ausgleich zwischen den betroffenen verfassungsrechtlichen Positionen. Diesen Ausgleich hat in den wesentlichen Fragen der Gesetzgeber vorzugeben. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war davon auszugehen, dass das Grundgesetz den Ländern im Schulwesen umfassende Gestaltungsfreiheit belässt; auch in Bezug auf die weltanschaulich-religiöse Ausprägung der öffentlichen Schulen hat Art. 7 GG danach die weitgehende Selbstständigkeit der Länder und im Rahmen von deren Schulhoheit die grundsätzlich freie Ausgestaltung der Pflichtschule im Auge… Diese den Ländern bisher zugestandene weitgehende Gestaltungsfreiheit für das Schulwesen schließt nach dem Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003 (BVerfGE 108, 282ff. ) bei der Ausgestaltung des Erziehungsauftrags die Möglichkeit ein, der staatlichen Neutralität im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte … von vornherein zu vermeiden (vgl. BVerfGE 108, 282 (310)). Es ist demnach zunächst Sache des Landesgesetzgebers, darüber zu befinden, wie er den schonenden Ausgleich bei der Gestaltung des Erziehungsauftrags im multipolaren Grundrechtsverhältnis der Schule findet…
Im Rahmen dieser gesetzgeberischen Einschätzungsprägorative habe der Gesetzgeber auch die Möglichkeit, bereits vorbeugend einer religiösen Beeinflussung durch Lehrkräfte entgegenzutreten, um potentielle Konflikte zu verhindern. Ein derartiger Gestaltungsspielraum stehe zudem auch im Einklang mit den zu berücksichtigenden Vorgaben der EMRK, da der EGMR den Mitgliedstaaten ebenfalls einen erheblichen Beurteilungsspielraum zugestanden habe.
II. Zur Verhältnismäßigkeit der Regelung
Darüber wird von den dissertierenden Richtern auch die vom Senat vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung angegriffen. Nach Ansicht der Richter Schluckebier und Herrmanns werden insbesondere die der Glaubensfreiheit der Lehrerinnen entgegenstehenden Grundrechte der Schüler sowie der Eltern nicht ausreichend berücksichtigt. In ihrem Sondervotum setzen sie sich daher insbesondere mit der besonderen Stellung des Lehrers sowie dem Abhängigkeitsverhältnis der Schüler auseinander:
Damit ist die Betroffenheit von Schülerinnen und Schülern sowie von Eltern in ihrer negativen Glaubensfreiheit sowie im Elterngrundrecht nur unzureichend erfasst und gewichtet. Diese Bewertung halten wir für nicht realitätsgerecht. Sie vernachlässigt, dass das Schüler-Pädagogen-Verhältnis ein spezifisches Abhängigkeitsverhältnis ist, dem Schüler und Eltern unausweichlich und nicht nur flüchtig ausgesetzt sind. Das Maß der Betroffenheit unterscheidet sich grundlegend von dem, das beim Zusammentreffen verschiedener religiöser Bekenntnisse und Bekundungen im gesellschaftlichen Alltag gegeben ist… In jedem Falle sind solche Berührungen in der Regel nur punktuell und nicht von nennenswerter Dauer. Schon das unterscheidet sie von der Begegnung und Konfrontation in der Schule, der die Schüler sich nicht entziehen können und bei der die Nichtteilnahme am Unterricht sogar sanktioniert ist. Schüler können also hier den Lehrpersonen und ihren Überzeugungen nicht aus dem Weg gehen. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler zu unterrichten, zu erziehen, zu beraten, zu beurteilen, zu beaufsichtigen und zu betreuen (§ 57 Abs. 1 SchulG NW). Daraus erhellt sich auch das besondere Abhängigkeitsverhältnis zwischen Schülern und Pädagogen, die über die Versetzung und einen erfolgreichen Schulabschluss mitbefinden. Sie können schon deshalb nicht mit beliebigen Personen aus der Gesellschaft verglichen werden, die von den Schülerinnen und Schülern lediglich angeschaut werden und deren Auffassung diese ertragen müssen; vielmehr treten sie in der Schule als Autoritätsperson auf
Den Pädagogen kommt in der Schule im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern zudem eine Vorbildfunktion zu. Die gewollte erzieherische Einwirkung löst in der Regel bei Schülern und mittelbar auch bei deren Eltern irgendeine Form der Reaktion aus. Von religiösen Bekundungen durch das Tragen religiös konnotierter Bekleidung geht – abhängig auch von dem Alter der betroffenen Schülerinnen und Schüler – nicht zwingend, aber jedenfalls nicht ausschließbar eine gewisse appellative Wirkung aus, sei es in dem Sinne, dass dieses Verhalten als vorbildhaft und befolgungswürdig verstanden und aufgenommen, sei es, dass es entschieden abgelehnt wird…Deren Verhalten, aber auch die Befolgung bestimmter religiöser Bekleidungsregeln trifft auf Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher auch einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind …
Das Tragen religiös konnotierter Kleidung durch Pädagogen kann schließlich zu Konflikten innerhalb der Schülerschaft und unter den Eltern führen und sie befördern, zumal wenn die Betroffenen möglicherweise … verschiedenen Glaubensrichtungen angehören, in denen unterschiedliche Anschauungen über das „richtige“ glaubensgeleitete Verhalten herrschen. Auch wenn solche religiösen Bekundungen nicht zwingend zu einer Beeinträchtigung der negativen Glaubensfreiheit und des Elterngrundrechts führen müssen, so besteht doch in dieser Hinsicht ein erhebliches Risiko. Der Gesetzgeber darf deshalb den Schutz dieser Grundrechte mit beträchtlichem Gewicht in die Abwägung einstellen.
Die Richter mahnen zudem an, dass der Senat bei seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung Rahmen des staatlichen Erziehungsauftrags, der unter der Wahrung der Pflicht zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität zu erfolgen habe, nicht hinreichend die besondere Stellung der Pädagogen als Amtsträger berücksichtigt habe:
Die Pädagogen genießen zwar ihre individuelle Glaubensfreiheit. Zugleich sind sie aber Amtsträger und damit der fördernden Neutralität des Staates auch in religiöser Hinsicht verpflichtet. Denn der Staat kann nicht als anonymes Wesen, sondern nur durch seine Amtsträger und seine Pädagogen handeln. Diese sind seine Repräsentanten. Die Verpflichtung des Staates auf die Neutralität kann deshalb keine andere sein als die einer Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität. Für den Pädagogen in der Schule als Individuum ist es deshalb anders als für das Individuum in ausschließlich gesellschaftlichen Zusammenhängen geboten, bei religiösen Bekundungen Zurückhaltung zu üben, wenn seine Überzeugung bei der Wahrnehmung des staatlichen Erziehungsauftrags mit den Grundrechten anderer kollidieren kann…
E. Schlussbemerkung
Das BVerfG hat die Glaubensfreiheit muslimischer Lehrkräfte gestärkt und stärker gewichtet als bislang. Zwar sprechen sehr gute und gewichtige Gründe für die Entscheidung des Senats, allerdings hätte die Entscheidung wohl noch stärker argumentativ angereichert werden müssen, da sich Senat im Gegensatz zum Sondervotum der dissentierenden Richter kaum mit der besonderen Stellung von Lehrern sowie den Besonderheiten des Schüler-Lehrer-Verhältnisses auseinandersetzt und dazu Stellung bezieht. Auch die Befürchtung, dass nun tatsächlich der Streit um das Kopftuch unmittelbar Einzug in das Klassenzimmer erhält, kann ein in der Abwägung zu berücksichtigendes Argument sein. Zudem hat sich der Senat im Beschluss kaum mit der Reichweite der gesetzgeberischen Einschätzungsprägorative und der Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003 befasst, die dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum einräumte. Gerade die Ausgestaltung derartiger „prekärer Beziehungen“ sowie die Ausgestaltung der weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Staates ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers. Es handelt sich um hochkomplexe Wertungsfragen, die zuvörderst Aufgabe des Gesetzgebers sind und auf die sich oftmals nur schwer „eine“ Antwort finden lassen wird. Nichtsdestotrotz ist die Entscheidung rechtspolitisch ein positives Signal der Integration sowie der Gleichberechtigung der Religionen.
Unter verfassungsprozessualen Gesichtspunkten wird man wohl davon ausgehen müssen, dass der Zweite Senat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2003 mit der Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage für ein abstrakt-generelles Verbot auch implizit davon ausging, dass eine solche Regelung abstrakter Gefahren auch verhältnismäßig und somit verfassungskonform ist. Dies hat der Erste Senat nun offenkundig für jeden Fall einer abstrakten Gefahr anders beurteilt. Vor diesem Hintergrund ist mittlerweile auf dem Verfassungsblog eine lesenswerte Debatte zwischen Christoph Möllers und Mathias Hong darüber entstanden, ob es sich bei dem nun getroffenen Beschluss des Ersten Senats um eine Abweichung im Sinne des § 16 BVerfGG handelt, die eine Entscheidung des Plenums erforderlich gemacht hätte.
Die Argumentationslinie des Senats sollte zur juristischen Allgemeinbildung gehören und daher jedem Jura-Studenten geläufig sein. Dies zeigt gerade auch die Aktualität der gesellschaftlichen Debatte über die Auswirkungen der Entscheidung. Die Entscheidung wird künftig ganz sicher in juristischen Prüfungen verwendet werden.