Das BVerfG hat mit Beschluss vom 18. Mai 2016 – 1 BvR 895/16 den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen einzelne Regelungen des am 20.05.2016 in Kraft tretenden Tabakerzeugnisgesetzes abgelehnt. Die prozessuale Konstellation der einstweiligen Anordnung im verfassungsgerichtlichen Verfahren ist gerade für eine mündliche Prüfung prädestiniert. Aber auch eine vertiefte Grundrechtsprüfung im Rahmen einer Klausur könnte relevant sein. Zum Stichwort „Werbung“ sollten dem Examenskandidaten mehrere Entscheidungen des BVerfG einfallen: Warnhinweise für Tabakerzeugnisse (v. 22.1.1997 – 2 BvR 1915/91), Benetton (v. 11.3.2003 – 1 BvR 426/02) und jüngst anwaltliche Schockwerbung (BVerfG v. 5.3.2015 – 1 BvR 3362/14, hierzu unseren Beitrag).
Im vorliegenden Beschluss des BVerfG geht es um den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG. Das Gericht prüft hierbei nur summarisch die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde – also ob diese von vornherein unzulässig noch unbegründet ist – und nimmt in einem zweiten Schritt eine sog. doppelte Nachteilsabwägung vor.
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen)
Die Beschwerdeführerin, die verschiedene Tabakerzeugnisse herstellt, wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde und dem damit verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Wesentlichen gegen einzelne Regelungen des Tabakerzeugnisgesetzes vom 04.04.2016, das am 20.05.2016 in Kraft tritt. Sie beanstandet unter anderem die Vorschriften zur verpflichtenden Gestaltung von Verpackungen mit sog. Schockfotos, das Verbot des Inverkehrbringens von Zigaretten und Tabaken zum Selbstdrehen mit charakteristischen Aromen sowie das Verbot irreführender werblicher Informationen auf Verpackungen oder Tabakerzeugnissen, die sich auf Geschmack, Geruch, Aromastoffe und sonstige Zusatzstoffe oder deren Fehlen beziehen. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte gemäß Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG.
II. Keine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG
Anders als in Verfahren vor den Verwaltungsgerichten kommt es im einstweiligen Verfassungsrechtsschutz weniger auf tatsächliche, sondern auf Rechtsfragen an. Diese sind häufig so komplex, dass das BVerfG keine inhaltliche Entscheidung trifft – also ob die Verfassungsbeschwerde Erfolg hätte -, sondern eine Folgenabwägung vornimmt. Nur wenn das Gericht annimmt, dass die Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder unbegründet ist, lehnt es eine einstweilige Anordnung ohne weitere Prüfung ab. Umgekehrt ergeht eine Anordnung nach § 32 BVerfG, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich Erfolg haben wird. Beides war hier nicht der Fall, da eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen ist, für die das BVerfG Zeit benötigt.
Daher kam es auf die Folgenabwägung an, die das Gericht anhand einer doppelten Nachteilsabwägung vornimmt: Welche Nachteile entstehen, wenn die Anordnung ergeht, die Regelung später aber verfassungskonform ist? Und umgekehrt: Welche Nachteile entstehen, wenn der Sachverhalt nicht vorläufig geregelt wird, die Regelung aber später verfassungswidrig ist? Hierbei genießt grundsätzlich eine bestehende gesetzliche Regelung wegen Art. 20 Abs. 3 GG und dem Demokratieprinzip Vorrang:
Soll der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein besonders strenger Maßstab, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellt. Dieser Maßstab ist noch zu verschärfen, wenn eine einstweilige Anordnung begehrt wird, durch die der Vollzug einer Rechtsnorm ausgesetzt werden soll, die zwingende Vorgaben des Unionsrechts in das deutsche Recht umsetzt. Der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass den Betroffenen aus der Vollziehung des Gesetzes ein besonders schwerwiegender und irreparabler Schaden droht. Der anzulegende äußerst strenge Maßstab stellt außerdem sehr hohe Anforderungen an die Darlegung der drohenden Nachteile.
Das Gericht erkennt solche besondere Umstände hier nicht. Für die Regelung spricht, dass sie der Harmonisierung des europäischen Binnenmarkts und dem überragend wichtigen Verfassungsgut des Gesundheitsschutzes dient. Demgegenüber bestünden allein wirtschaftliche Nachteile auf Seiten der Beschwerdeführer, die aber nicht existenziell seien. Eine zeitliche Verzögerung der Umsetzung durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung sei nicht hinnehmbar:
Es ist im Hinblick darauf nicht erkennbar, dass die in Rede stehenden Nachteile ein solches Gewicht aufweisen, dass sie nach den dargelegten Maßstäben und in Anbetracht der überragenden Bedeutung der vom Gesetzgeber bezweckten Ziele eine weitergehende Effektivitätsbeeinträchtigung rechtfertigen könnten.
Der Fall sollte sowohl im Hinblick auf die bereits ergangenen Entscheidungen des BVerfG zu Schockfotos auf Zigarettenschachteln (BVerfG v. 22.1.1997 – 2 BvR 1915/91) als auch die prozessuale Situtation des einstweiligen Rechtsschutzes im Studium und Examensvorbereitung behandelt werden.