Bereits Anfang Juli hat sich das BVerfG mit einem Eilantrag einer hessischen Rechtsreferendarin gegen ein Kopftuchverbot im Zusammenhang mit Teilen ihrer Referendartätigkeit auseinandergesetzt (2 BvR 1333/17). Mit vergleichbaren Fragen beschäftigen sich die Verwaltungsgerichte seit einiger Zeit in zunehmenden Maße. Grund genug, sich den Beschluss des BVerfG einmal näher anzuschauen.
Sachverhalt
Ausgangspunkt dieses Beschlusses des BVerfG war der Antrag einer hessischen Rechtsreferendarin – diese trägt als Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung in der Öffentlichkeit ein Kopftuch – auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung des BVerfG nach § 32 Abs. 1 BVerfG. Die Rechtsreferendarin wandte sich dabei gegen den Beschluss des Hessischen VGH vom 23. Mai 2017 mit dem ein Beschluss des VG Frankfurt a.M. aufgehoben worden war, der das Land Hessen dazu verpflichtete, zu gewährleisten, dass die Beschwerdeführerin vorläufig ihre Ausbildung als Rechtsreferendarin vollumfänglich mit Kopftuch wahrnehmen kann, und insbesondere nicht den Beschränkungen im Hinblick auf religiöse Bekundungen unterliegt, die sich aus einem Erlass des Hessischen Ministeriums für Justiz ergeben.
Der betreffende Erlass des Hesssichen Ministeriums für Justiz vom 28.06.2007 (2220-V/A3-2007/6920-V) sieht unter anderem vor, dass die Bewerber vor der Einstellung in den Vorbereitungsdienst dahingehend zu belehren sind, dass sich auch Rechtsreferendare gegenüber dem Bürger politisch, weltanschaulich und religiös neutral verhalten müssen, sofern sich aus den Bewerbungsunterlagen ergibt, dass während des Vorbereitungsdienstes ein Kopftuch getragen soll. Darüber hinaus untersagt der Erlass die Ausübung von Tätigkeit mit Kopftuch, bei denen die Referendare als Repräsentanten der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden können. Für die betroffenen Referendare hat dies zur Folgen, dass sie insbesondere
- bei Verhandlungen nicht auf der Richterbank sitzen dürfen, sondern der Sitzung nur im Zuschauerraum bewohnen dürfen
- keine Sitzungsleitungen und/oder Beweisaufnahmen durchführen können,
- keine Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft übernehmen können,
- während der Verwaltungsstation keine Anhörungsausschusssitzung leiten können.
Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfG kann das BVerfG im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragenen Gründe, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung bzw. der in der Hauptsache gestellte Antrag erweisen sich von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens allerdings offen, so wägt das BVerfG im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen ab, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber keinen Erfolg hätte.
Die Entscheidung des BVerfG
Das BVerfG hat im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung dieser Prüfungsmaßstäbe vom Erlass einer einstweiligen Anordnung abgesehen, denn es konnte Rahmen einer Folgenabwägung kein Überwiegen der für den Erlass einer derartigen Anordnung sprechenden Gründe feststellen.
1. Insbesondere mögliche Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG
Für den Fall, dass sich die spätere Verfassungsbeschwerde als begründet erweisen würde, wäre die Beschwerdeführerin zwar insbesondere in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG verletzt, wenn keine einstweilige Anordnung erginge. Denn die betroffene Referendarin wird hier vor die Wahl gestellt, entweder ihre religiös begründeten Bekleidungsregeln zu missachten und die angestrebte Referendartätigkeit vollumfänglich auszuüben oder aber den von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsvorschriften Folge zu leisten und bestimmte Tätigkeiten nicht ausüben zu können. Damit liegt ein Eingriff in das durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG garantierte einheitliche Grundrecht der Glaubensfreiheit vor. Dieses gewährleistet dabei insbesondere auch die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten sowie das gesamte Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und entsprechend zu leben.
Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.
2. Aber: Zeitliche und inhaltliche Begrenztheit des religiösen Bekundungsverbot
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass das hier in Rede stehenden religiöse Bekundungsverbot sowohl inhaltlich als auch zeitlich begrenzt ist. Der Erlass statuiert kein vollumfängliches Verbot religiöser Bekundungen im Zusammenhang mit der Referendartätigkeit, sondern den Betroffenen werden lediglich bestimmte Tätigkeit verwehrt. Das Verbot greift nämlich nur dann, wenn die Betroffenen im Rahmen ihrer Ausbildung als Repräsentanten der Justiz oder des Staates gegenüber dem Bürger auftreten – beispielsweise wenn sie auf der Richterbank sitzen, Sitzungsvertretungen vornehmen oder den Anhörungsausschuss leiten. Die überwiegenden Ausbildungsinhalte des Referendariats werden den Betroffenen hingegen nicht verwehrt.
3. Die Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religösen Neutralität als entgegenstehender Belang
Als den Grundrechten der betroffenen Beschwerdeführerin entgegenstehender Belang kommt hier in erster die Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiöser Neutralität in Betracht. Das Grundgesetz begründet nämlich in Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1, 4 sowie Art. 137 Abs. 1 WRV 136 Abs. 1 eine Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Diese Verpflichtung verwehrt in erster Linie die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen, die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse, die Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften, die gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung sowie die Bewertung von Glauben und Lehre der Religionsgemeinschaften. Die Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität gilt nach Auffassung des BVerfG dabei insbesondere auch für den Bereich der Justiz.
Das GG gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet. Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG) ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von einem „nicht beteiligten Dritten“ ausgeübt wird. Diese Vorstellung von neutraler Amtsführung ist mit den Begriffen „Richter“ und „Gericht“ untrennbar verknüpft. Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten.
Nach der Maßgabe des BVerfG unterliegen auch Rechtsreferendare dem Neutralitätsgebot, sofern diese als Repräsentanten staatlicher Gewalt auftreten. Im Zusammenhang mit dem Tragen eines Kopftuchs sei zudem insbesondere Folgendes zu beachten:
Auch wenn ein islamisches Kopftuch nur der Erfüllung eines religiösen Gebots dient und ihm von der Trägerin kein symbolischer Charakter beigemessen wird, sondern es lediglich als Kleidungsstück angesehen wird, das die Religion vorschreibt, ändert dies nichts daran, dass es in Abhängigkeit vom sozialen Kontext verbreitet als Hinweis auf die muslimische Religionszugehörigkeit der Trägerin gedeutet wird. In diesem Sinne ist es ein religiös konnotiertes Kleidungsstück. Wird es als äußeres Anzeichen religiöser Identität verstanden, so bewirkt es das Bekenntnis einer religiösen Überzeugung, ohne dass es hierfür einer besonderen Kundgabeabsicht oder eines zusätzlichen wirkungsverstärkenden Verhaltens bedarf.
4. Das Grundrecht auf negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit als entgegenstehender Belang
Darüber hinaus ist als entgegenstehender Belang auch die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten zu berücksichtigen. Denn Art. 4 Abs. 1, 2 GG gewährleistet auf der anderen Seite auch die Freiheit keinen Glauben zu haben und religiös motivierten Handlungen fernzubleiben. Allerdings gibt dies nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG dem Einzelnen kein Recht, niemals mit Glaubensbekundungen, religiös motivierten Handlungen sowie religiösen Symbolen konfrontiert zu werden. Anders müsse dies aber in Situationen sein, die der Staat veranlasst bzw. geschaffen hat, und in denen der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit mit Glaubensbekundungen, entsprechenden Handlungen oder religiösen Symbolen konfrontiert ist – so etwa im Bereich der Justiz.
In Bezug auf den justiziellen Bereich kann von einer solchen unausweichlichen Situation gesprochen werden. Es erscheint nachvollziehbar, wenn sich Prozessbeteiligte in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzt fühlen, wenn sie dem für sie unausweichlichen Zwang ausgesetzt werden, einen Rechtsstreit unter der Beteiligung von Repräsentanten des Staates zu führen, die ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen erkennbar nach außen tragen.