Wir freuen uns sehr, nachfolgend einen Gastbeitrag von Hannah Linke veröffentlichen zu können. Die Autorin hat Jura an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert und ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Freshfields Bruckhaus Deringer LLP am Düsseldorfer Standort im Arbeitsrechtsteam tätig.
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Im Fokus der Entscheidung des BAG (Urt. v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19) steht der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung. Vom Zugangszeitpunkt hängt es insbesondere ab, ob die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt ist, oder ob die Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG eingehalten wird. Letzteres ist auch in dem hier zu besprechenden Urteil problematisch. Sollte Arbeitsrecht einmal Thema einer Examensklausur sein, ist in der Regel die Wirksamkeit einer Kündigung, ggf. eingebettet in die Prüfung der Erfolgsaussichten einer Kündigungsschutzklage, zu prüfen. Aber nicht nur für Examenskandidaten ist der folgende Beitrag von Interesse: Es geht maßgeblich um die Zugangsvoraussetzungen einer empfangsbedürftigen Willenserklärung unter Abwesenden. Unter Punkt III. findet sich ein informativer Exkurs zu diesem Komplex, sodass auch Studierende in den Anfangssemestern angesprochen werden.
I. Sachverhalt
Die Beklagte ließ das Kündigungsschreiben von einer Mitarbeiterin gegen 13.25 Uhr am 27.1.2017 (Freitag) in den Briefkasten des bei ihr angestellten Klägers werfen. Die Postzustellung im Wohnort des Klägers ist in aller Regel bis 11.00 Uhr abgeschlossen. Die Kündigungsschutzklage des Klägers ging am 20.2.2017 (Montag) beim Arbeitsgericht ein. Der Kläger macht geltend, er habe das Kündigungsschreiben erst am 30.1.2017 seinem Briefkasten entnommen. Der Zugang habe folglich frühestens an dem auf den 27.1.2017 folgenden Tag stattfinden können.
II. Vorinstanzen
Die Vorinstanzen (ArbG Karlsruhe v. 17.4.2018 – 2 Ca 60/17; LAG Baden-Württemberg v. 14.12.2018 – 9 Sa 69/18) haben die Klage abgewiesen. Mangels Einhaltung der maßgeblichen Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG gelte die außerordentliche Kündigung nach § 13 Abs. 1 S. 2 iVm § 7 Hs. 1 KSchG als von Anfang an wirksam. Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht haben mithin einen Zugang des Kündigungsschreibens bereits am 27.1.2017 angenommen. Nach dem LAG könne der Verkehrsanschauung entsprechend mit einer Kenntnisnahme von Schriftstücken, die im Briefkasten eines Arbeitnehmers hinterlassen werden, bis 17.00 Uhr gerechnet werden. Auf den Zeitpunkt des Abschlusses der örtlichen Postzustellung komme es hingegen nicht (mehr) an. Heutzutage könne bei Berufstätigen mit einer Leerung des Briefkastens erst nach Rückkehr von der Arbeit gerechnet werden.
III. Exkurs: Zugang von Willenserklärungen unter Abwesenden
Neben der Abgabe stellt der Zugang kumulativ vorzuliegende Voraussetzung für das Wirksamwerden empfangsbedürftiger Willenserklärungen dar. Das Erfordernis des Zugangs einer Willenserklärung gegenüber Abwesenden ist in § 130 Abs. 1 S. 1 BGB geregelt. Definiert wird der Begriff des Zugangs im Gesetz jedoch nicht. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Willenserklärung zugegangen, wenn sie so in den Bereich des Erklärungsempfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Umständen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen.[1]Da nach dieser Definition im Hinblick auf die Komponente der Kenntnisnahmemöglichkeit nur auf die gewöhnlichen Verhältnisse abgestellt wird, ist es für die Annahme eines Zugangs unerheblich, wann die Kenntnisnahme durch den Empfänger tatsächlich erfolgt.[2]Auch die Tatsache, dass der Empfänger im Urlaub, Krankenhaus oder aus sonstigen Gründen für längere Zeit nicht zu Hause ist, steht dem Zugang der Willenserklärung prinzipiell nicht entgegen. Den Erklärungsempfänger trifft die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, um eine Kenntnisnahme vom Inhalt von in seinen Machtbereich gelangten Willenserklärungen auch bei seiner Abwesenheit zu gewährleisten, sofern er mit dem Zugang rechtserheblicher Erklärungen rechnen muss. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Anbahnung von vertraglichen Beziehungen oder im bestehenden Arbeitsverhältnis.[3]Selbst wenn der Erklärende von der Abwesenheit des Empfängers weiß, gilt grundsätzlich nichts anderes.[4]Das ist auch interessengerecht, da die Risikosphäre des Empfängers eröffnet ist, sobald die Erklärung in seinen Herrschaftsbereich (Briefkasten, Empfangsboten etc.) gelangt ist. Beim Übergabe-Einschreiben ist dabei Folgendes zu beachten: Schlägt die Aushändigung des Einschreibens durch die Zustellungsperson fehl, weil der Empfänger nicht zugegen ist, erfolgt der Zugang der Willenserklärung nicht schon mit der Hinterlegung des Benachrichtigungsscheins im Briefkasten des Empfängers, sondern erst mit Abholung bei der Post.[5]Erst dann gelangt die Erklärung in seinen Machtbereich. Sollte die Erklärung fahrlässig oder vorsätzlich nicht bei der Poststelle abgeholt werden, liegt ein Fall der Zugangsvereitelung vor.
Zu differenzieren ist zwischen der berechtigten und der unberechtigten Zugangsvereitelung.[6]Von der berechtigten Zugangsverweigerung spricht man, wenn der Erklärungsempfänger sich auf einen legitimen Grund für die Verweigerung der Entgegennahme der Erklärung berufen kann. Dieser Fall ist etwa dann einschlägig, wenn der Empfänger ein sog. Nachentgelt zahlen muss, weil das Schreiben vom Absender nicht ausreichend frankiert wurde.[7]Hier fehlt es an einem Zugang und die Willenserklärung wird nicht wirksam. Der Erklärende muss einen erneuten Zustellungsversuch unternehmen. Das Gleiche gilt bei der fahrlässigen Zugangsvereitelung, auch wenn hier keine Rechtfertigungsgründe für die Zugangsverhinderung gegeben sind. Erfolgt unverzüglich ein weiterer Zustellungsversuch, kann der Empfänger sich nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) indes nicht auf eine verspätete Zustellung berufen. Die fahrlässige Zugangsvereitelung zieht eine Rechtzeitigkeitsfiktion nach sich.[8]Etwas anderes gilt bei der vorsätzlichen Zugangsver-eitelung, bei der ein erneuter Zustellungsversuch nicht unternommen werden muss. Die Zustellung wird hier nach dem Rechtsgedanken der §§ 162 Abs. 1, 815 BGB fingiert.[9]
IV. Entscheidung des BAG
Das BAG hat sich den Vorinstanzen nicht angeschlossen. Zumindest mit der vom LAG angebotenen Begründung hätte der Kündigungsschutzantrag nicht abgewiesen werden dürfen. Zwar sei das Kündigungsschreiben bereits am 27.1.2017 in den Machtbereich des Klägers gelangt. Ob an diesem Tag aber auch bereits mit einer Kenntisnahme durch den Arbeitnehmer gerechnet werden könne, sei problematisch. Vor allem die Aussage des LAG, von einer Leerung des Briefkastens sei bei Arbeitnehmern nach der Verkehrsanschauung um 17.00 Uhr auszugehen, hat das BAG als willkürlich kritisiert:
„Ob die Möglichkeit einer Kenntnisnahme bestand, ist nach den gewöhnlichen Verhältnissen und den Gepflogenheiten des Verkehrs zu beurteilen. So bewirkt der Einwurf in einen Briefkasten den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist. Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten.“[10]
Grundsätzlich sei die Annahme einer Verkehrsanschauung, wonach eine Leerung der Hausbriefkästen unmittelbar nach Abschluss der Regelpostzustellzeiten erfolge, nicht zu beanstanden. Zwar könne das LAG eine davon abweichende Verkehrsanschauung aufgrund sich ändernder Lebensumstände annehmen, jedoch seien die Ausführungen des Berufungsgerichts nicht geeignet, eine solche Anschauung zu begründen. Teilzeitbeschäftigte, im Homeoffice tätige Arbeitnehmer, Nachtarbeiter oder nicht erwerbstätige Personen würden bei Beurteilung der Leerungszeiten von Briefkästen am Wohnort des Klägers durch das LAG außer Betracht bleiben. Hinzukomme, dass der Kläger im Elsass wohnhaft sei, sodass die durch das Gericht in zweiter Instanz herangezogenen Werte und Statistiken in Bezug auf Deutschland nicht herangezogen werden könnten. Auch eine auf Verhältnismäßigkeitserwägungen beruhende Festlegung der Leerungszeit auf 17.00 Uhr sei nicht geeignet, eine dahingehende Verkehrsanschauung zu begründen. Schließlich sei auch die landgerichtliche Argumentation, wonach ein fristwahrender Zugang für den Erklärenden bis 24.00 Uhr möglich sein müsse, da andernfalls eine unzulässige Verkürzung des Fristendes nach § 188 BGB gegeben sei, nicht haltbar. Die Regelung des § 188 BGB bezieht sich auf das Ende einer Frist, trifft aber keine Aussage zum Zugang von Willenserklärungen.
Das BAG hat die Entscheidung des LAG aufgehoben und an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Es sei dessen Aufgabe festzustellen, wann nach der Verkehrsanschauung mit der Entnahme des am 27.1.2017 in den klägerischen Briefkasten eingeworfenen Schreibens zu rechnen war. Die Feststellung des Inhalts der Verkehrsanschauung sei eine Tatfrage, deren Beurteilung vom Revisionsgericht nur eingeschränkt kontrolliert werden könne.
Im Jahr 2015 hat das BAG[11]zum Zeitpunkt des Zugangs einer Kündigung festgehalten: „Anders als dann, wenn ein Brief ohne Wissen des Adressaten erst nach den üblichen Postzustellzeiten in dessen Hausbriefkasten eingeworfen wird, ist mit der Kenntnisnahme eines Schreibens, von dem der Adressat weiß oder annehmen muss, dass es gegen 17.00 Uhr eingeworfen wurde, unter gewöhnlichen Verhältnissen noch am selben Tag zu rechnen. Ob die Kl. dazu angesichts ihrer Termine tatsächlich in der Lage war, ist nicht entscheidend.“ Das BAG unterscheidet richtigerweise dazwischen, ob der Arbeitnehmer mit der Zustellung eines Schreibens nach den üblichen Postzustellungszeiten rechnet bzw. rechnen muss. Orientiert man sich hieran, spricht, sofern der Kläger nichts von dem Einwurf des Kündigungsschreibens um 13.25 Uhr wusste oder wissen musste, gegen einen Zugang des Schreibens noch am 27.1.2017. Zu berücksichtigen ist nichtsdestotrotz, dass der Einwurf des Kündigungsschreibens hier am frühen und nicht am späten Nachmittag stattgefunden hat.
Es bleibt somit abzuwarten, wie da LAG Baden-Württemberg im Anschluss an das Urteil des BAG entscheidet.
V. Fazit
Auch wenn das BAG noch keine abschließende Entscheidung zu der Frage getroffen hat, wann die Kündigungserklärung dem Kläger im Fall zugegangen ist, enthält das Urteil wichtige Kriterien zur Bestimmung der jeweils einschlägigen Verkehrsanschauung, die den Zugangszeitpunkt bestimmt. Denn sobald die jeweilige Erklärung in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, kommt es bei der Bestimmung, wann der Empfänger Möglichkeit hatte, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen, nur auf die Verkehrsanschauung an. Ist nach der Verkehrsanschauung die Kenntnisnahmemöglichkeit zu bejahen, gilt die Willenserklärung als zugegangen. Auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch den Empfänger kommt es hingegen nicht an.
[1]Palandt/Ellenberger, BGB, 78. Aufl. 2019, § 130 Rn. 5.
[2]Noack/Uhlig, JA 2012, 740, 741.
[3]LAG-Schleswig-Holstein v. 1.4.2019 – 1 Ta 29/19, NZA-RR 2019, 528, 529; BAG v. 22.9.2005 – 2 AZR 366/04, NZA 2006, 204, 205.
[4]Vgl. hierzu etwa BAG v. 24.6.2004 – 2 AZR 461/03, NZA 2004, 1330.
[5]Klinkhammer/Schmidbauer, ArbRAktuell 2018, 362, 363.
[6]Noack/Uhlig, JA 2012, 740, 744.
[7]MüKo/Einsele, BGB, 8. Aufl. 2018, § 130 Rn. 36; https://www.deutschepost.de/content/dam/dpag/images/G_g/Gesamtpreisliste/dp-leistungen-und-preise-012019.pdfS. 35 (Stand: 11.1.2020).
[8]Preis, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 5. Aufl. 2017, 1. Teil, Kap. D Rn. 58.
[9]Weiler, JuS 2005, 788, 792 f.
[10]BAG v. 22.8.2019 – 2 AZR 111/19, NJW 2019, 3666, 3667
[11]BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 483/14, NZA 2015, 1183, 1183 f.