Der Donnerschlag, mit dem die heutige Entscheidung des BVerfG nicht nur in der rechtswissenschaftlichen Welt eingeschlagen ist, wird noch lange widerhallen: § 217 StGB ist verfassungswidrig. Damit kippt das BVerfG jene umstrittene Norm, die seit 2015 die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellt (s. zur Einführung von § 217 StGB unseren damaligen Grundlagenbeitrag hier). Denn nur auf diese Weise kann das in der heutigen Entscheidung vom 26.02.2020 (2 BvR 2347/15 u.a.) neu geschaffene Grundrecht auf Suizid verwirklicht werden – so jedenfalls die Karlsruher Richter. Mit diesen knappen Sätzen lässt sich die polarisierende Entscheidung des BVerfG zusammenfassen, die von manchen frenetisch gefeiert, von manchen kategorisch abgelehnt wird. Ein heißes Eisen für jeden Examenskandidaten! Im Einzelnen:
I. Entscheidungskontext und Hintergrund
Die zum 10. Dezember 2015 eingeführte Verbotsnorm des § 217 StGB stellte bislang geschäftsmäßige Sterbehilfe in Deutschland unter Strafe. Erfasst wurden hiervon nach der Intention des Gesetzgebers insbesondere Sterbehilfevereine (BT-Drucksache 17/11126), die zuvor – ebenso wie Privatpersonen – innerhalb einer rechtlichen Grauzone Suizidwilligen auf meist straffreie Weise letale Medikamente verschaffen konnten. Mangels teilnahmefähiger Haupttat – die Selbsttötung ist in § 212 StGB nicht unter Strafe gestellt; die Tötung eines Menschen meint dort begriffslogisch die Tötung „eines anderen“ Menschen – ist eine Beihilfe im Sinne des § 27 StGB straffrei. § 217 StGB sollte jedenfalls dem Handeln von Sterbehilfevereinen, wie sie aus der Schweiz bekannt sind (man denke etwa an Dignitas) einen Riegel vorschieben, erfasste aber – und darin lag das zentrale Problem – reflexiv auch Ärzte. Denn: Geschäftsmäßigkeit im Sinne des § 217 StGB erfordert eben keine Gewinnerzielungsabsicht; die alleinige Wiederholungsabsicht, die eben auch bei Ärzten anzunehmen sein kann, war entscheidend.
Daher keimten verfassungsrechtliche Bedenken, die alsbald nach Karlsruhe getragen wurden und in dem heutigen Urteil ihre Bestätigung gefunden haben. Im Jahre 2015 hatte der 2. Senat des BVerfG einen Eilantrag nach § 32 BVerfGG auf Außervollzugsetzung der Norm noch abgelehnt (Beschl. v. 21.12.2015 – 2 BvR 2347/15, NJW 2016, 558, s. unsere Besprechung hier). In der Hauptsache erhielten die Beschwerdeführer (Schwerkranke und von der Norm betroffene Menschen, aber auch Ärzte, in diesem Bereich beratende Rechtsanwälte und nicht zuletzt Sterbehilfevereine) nun Recht.
II. Wesentliche Erwägungen des 2. Senats (der PM Nr. 12/2020 entnommen)
Dem BVerfG oblag es nun, § 217 StGB am Maßstab des Grundgesetzes zu messen:
1. Grundrechte der betroffenen Sterbewilligen
a) Schutzbereich
Nach dem BVerfG umfasst der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben, das es jedem Einzelnen gewährleistet, sich das Leben zu nehmen und sich hierbei der Hilfe Dritter zu bedienen. Damit folgt das BVerfG ähnlichen Judikaten des EGMR (Urteil vom 19.07.2012 – 497/09, NJW 2013, 2953) und des BVerwG (Urteil vom 02.03.2017 – 3 C 19/15, NJW 2018, 1524):
„Welchen Sinn der Einzelne in seinem Leben sieht und ob und aus welchen Gründen er sich vorstellen kann, sein Leben selbst zu beenden, unterliegt höchstpersönlichen Vorstellungen und Überzeugungen. […] Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst deshalb nicht nur das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen. Es erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden.“
Doch damit nicht genug. Die Karlsruher Richter gehen noch viel weiter:
„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist.“
Eine extensivere Interpretation ist kaum vorstellbar. Jeder Suizidwunsch soll also von Verfassung wegen akzeptiert sein, unabhängig von einer unheilbaren Krankheit. Dem Staat könne es nicht zustehen, über die Motive der Selbsttötung zu befinden.
Den Einwand, dass derjenige, der sich selbst das Leben nehme, gerade auf seine Würde verzichte, verwarf das BVerfG, da es gerade „Ausdruck der Würde“ sei, menschenwürdig sterben zu dürfen. Das wird jedoch von namhaften Verfassungsrechtlern anders gesehen, da der Einzelne nicht frei von staatlichem Einfluss über das Recht auf Leben entschieden dürfe, zumal der Staat eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflicht diesbezüglich habe, die die Dispositionsbefugnis des Einzelnen einschränke (man denke nur an Fälle des Zwergenweitwurfs, in denen der Einzelne ebenfalls nicht über Art. 1 Abs. 1 GG verfügen darf).
b) Eingriff
Nach dem modernen Eingriffsbegriff greift § 217 StGB in grundrechtsverkürzender Weise in das Grundrecht auf Suizid der sterbewilligen Patienten ein, auch wenn sie nicht unmittelbare Adressaten der Strafnorm sind:
„Es [gemeint ist das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe] macht es dem Einzelnen faktisch weitgehend unmöglich, Suizidhilfe zu erhalten. Diese Einschränkung individueller Freiheit ist von der Zweckrichtung des Verbots bewusst umfasst und begründet einen Eingriff auch gegenüber suizidwilligen Personen.“
c) Rechtfertigung
Die Rechtfertigung richtet sich nach einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung:
aa) Legitimes Ziel
§ 217 StGB verfolgt das von der Verfassung selbst in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorgeschriebene Ziel des Autonomie- und Lebensschutzes, also ein legitimes Ziel. Dass hiermit zugleich Gefahren begegnet werden soll, die von Sterbehilfevereinen ausgehen, die assistierte und kommerzialisierte Suizidhilfe anbieten, ist ebenso legitim: Ihre alleinige Existenz kann psychischen wie sozialen Druck auf schwerkranke Menschen ausüben, Sterbehilfe auch in Anspruch zu nehmen. Die darin liegende Gefahrprognose des Gesetzgebers ist mangels anderweitiger wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht zu beanstanden:
„Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass geschäftsmäßige Suizidhilfe zu einer ‚gesellschaftlichen Normalisierung‘ der Suizidhilfe führen und sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne, die geeignet sei, autonomiegefährdende soziale Pressionen auszuüben, ist nachvollziehbar.“
bb) Geeignetheit und Erforderlichkeit
Eben diese legitimen Ziele fördert § 217 StGB auch, da das strafbewehrte Verbot ein Instrument ist, das gefahrträchtige Handlungen zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe unterbindet. An diesem Punkt musste das BVerfG keine längeren Ausführungen machen, da sich Sterbehilfevereine weitestgehend aus Deutschland zurückgezogen haben und Verurteilungen auf Grundlage von § 217 StGB nicht ersichtlich sind. Das Verbot wirkt also.
Mit der Erforderlichkeit wiederum setzt sich das BVerfG nicht auseinander (wenngleich man die Entscheidungsgründe wird abwarten müssen), da es die Unangemessenheit der Norm offenbar für offensichtlich hält.
cc) Angemessenheit
§ 217 führt nach dem BVerfG dazu, „dass das Recht auf Selbsttötung in weiten Teilen faktisch entleert ist. Die Regelung des § 217 StGB ist zwar auf eine bestimmte – die geschäftsmäßige – Form der Förderung der Selbsttötung beschränkt. Auch der damit einhergehende Verlust an Autonomie ist aber jedenfalls soweit und solange unverhältnismäßig, wie verbleibende Optionen nur eine theoretische, nicht aber die tatsächliche Aussicht auf Selbstbestimmung bieten.“
Damit spielt das BVerfG auf die verbleibende Möglichkeit Sterbewilliger an, Angehörige oder Freunde darum zu bitten, ihnen Sterbehilfe zu leisten. Die Möglichkeit, einen Arzt immerhin um die Verschreibung letal wirkender Medikamente zu bitten, sei rechtstatsächlich nahezu ausgeschlossen:
„Ärzte zeigen bislang eine geringe Bereitschaft, Suizidhilfe zu leisten, und können hierzu auch nicht verpflichtet werden; aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab.“
Und auch bestehende palliativmedizinische Angebote seien nicht ausreichend, um dem Grundrecht auf Suizid zur Entfaltung zu verhelfen. Denn: „Die Entscheidung für die Beendigung des eigenen Lebens umfasst zugleich die Entscheidung gegen bestehende Alternativen [wie die Palliativmedizin] und ist auch insoweit als Akt autonomer Selbstbestimmung zu akzeptieren.“
Damit seien Sterbewillige faktisch auf ausländische Sterbehilfeangebote angewiesen (bspw. die Niederlande oder die Schweiz), was die deutsche Verfassung wegen Art. 1 Abs. 3 GG nicht akzeptieren könne; sie müsse vielmehr eigene Möglichkeiten bereithalten. Mit dieser Argumentation freilich lassen sich viele Dinge, die im Ausland bereits möglich sind, verfassungsrechtlich begründen. Stichhaltig ist der Verweis auf das, was im Ausland erlaubt ist, freilich nicht.
Und auch der Schutz Dritter sei nicht in der Lage, die von § 217 StGB ausgehende Beschränkung der individuellen Selbstbestimmung zu rechtfertigen:
„Allerdings muss dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben. Anliegen des Schutzes Dritter wie die Vermeidung von Nachahmungseffekten rechtfertigen nicht, dass der Einzelne die faktische Entleerung des Rechts auf Selbsttötung hinnehmen muss.“
d) Ergebnis
Daraus folgt: § 217 StGB ist nach dem BVerfG wegen eines nicht gerechtfertigten Eingriffs in das Grundrecht auf Suizid betroffener Sterbewilliger verfassungswidrig.
2. Grundrechte der betroffenen Ärzte, Rechtsanwälte und Sterbehilfevereine
Der verfassungsrechtliche Schutz geschäftsmäßiger Sterbehilfe ergibt sich – so jedenfalls das BVerfG – „aus einer funktionalen Verschränkung der Grundrechte von Suizidhilfe leistenden Personen und Vereinigungen, insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 GG oder subsidiär Art. 2 Abs. 1 GG, mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Schließlich sei die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte auch bereit seien, eben diese auch zu leisten. Daher müssen diese Dritten ihre Sterbehilfe auch in straffreier Weise durchführen können. Anders ausgedrückt: Das Grundrecht auf Suizid korrespondiert mit einem weitreichenden grundrechtlichen Schutz des Handelns von Suizidassistenten. Zudem verletze das strafbewehrte Verbot aus § 217 StGB Suizidhelfer in ihrem aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG folgenden Recht auf Freiheit. Das umfasse nicht nur Ärzte und Sterbehilfevereine, sondern auch auf diesem Gebiet beratende Rechtsanwälte.
Auf Bestimmtheitsbedenken, die zuweilen an § 217 StGB geäußert wurden, ging das BVerfG nicht ein. Dabei wäre gerade das ein wichtiger Punkt gewesen, war doch nicht eindeutig, wie nach § 217 StGB eine (strafbare) geschäftsmäßige Sterbehilfe mit Wiederholungsabsicht von einer (straflosen) Sterbehilfe im Einzelfall exakt abgegrenzt werden sollte. Bei Vereinen und im Gegensatz dazu bei Privatpersonen erschien die Abgrenzung in der Regel ohne weiteres möglich; bei Ärzten hingegen war sie alles andere als eindeutig.
Eine verfassungskonforme Auslegung (die Ärzte bspw. von der Strafbarkeit hätte ausnehmen können) lehnte der 2. Senat indes schon deshalb ab, weil sie den oben dargelegten Zielen des Gesetzgebers zuwiderliefe, der mit der Geschäftsmäßigkeit eindeutig die Wiederholungs- und nicht die Gewinnerzielungsabsicht zum zentralen Merkmale erhoben hat.
III. Einordnung, Kritik und Schluss
§ 217 StGB ist verfassungswidrig und ab sofort nichtig. Das ist im Ergebnis sicherlich richtig; die Begründung aber führt viel zu weit. Das Urteil dürfte im Ergebnis dazu führen, dass mehr Menschen von ihrem „Grundrecht auf Suizid“ Gebrauch machen. Häufigerer „Grundrechtsgebrauch“ – das klingt toll. Doch wollen wir das wirklich? Wollen wir eine höhere Suizidrate? Das ist eine Frage, die Juristen anhand des Grundgesetzes nicht beantworten können. Die Beantwortung sollte allein dem Parlament obliegen, doch das BVerfG hat nun gesprochen. Das ist zu akzeptieren, auch wenn unklar bleibt, warum der Gesetzgeber nicht einfach nachbessern und anstelle der „geschäftsmäßigen“ die „gewerbsmäßige“ Sterbehilfe unter Strafe stellen darf. Dann wären Ärzte straffrei; Sterbehilfevereine könnten dagegen nicht legal agieren.
Immerhin, das ist zuzugeben, erlaubt das BVerfG dem Gesetzgeber, die Sterbehilfe in einem engen Rahmen zu reglementieren: Prozedurale Sicherungsmechanismen, Aufklärungs- und Wartepflichten oder auch Erlaubnisvorbehalte seien denkbar, die auch strafrechtlich abgesichert werden könnten. Nur: Das Grundrecht auf Suizid verbiete es, die Zulässigkeit der Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, da in jeder Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an die Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Sterbewillens gelten müssten. Die Hürde einer unheilbaren oder tödlichen Krankheit kann also nicht etabliert werden. Mit diesen weitreichenden Aussagen wird das Grundrecht auf Suizid noch auf viele andere einfachgesetzliche Normen ausstrahlen.
Wie der Gesetzgeber all das konkret umsetzen soll, bleibt offen. Große Rechtsunsicherheit ist damit schon jetzt für künftige Regelungen vorprogrammiert. Bis dahin aber gilt: Geschäftsmäßige Sterbehilfe geht nun in den Grenzen der §§ 211, 212, 216 StGB auch in Deutschland.
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