Eine aktuelle Entscheidung aus Karlsruhe mit besonders hoher Klausurrelevanz: Der Beschluss des BVerfG vom 12. März 2019 – 2 BvR 675/14 gibt Aufschluss über die aus der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG resultierenden Pflicht des Staates, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters zu sichern – im Zweifel auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes. Die Erwägungen des Gerichts betreffen in weiten Teilen auch Grundlegendes zur praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehaltes und damit eine Materie, die insbesondere in öffentlich-rechtlichen Examensklausuren gerne Prüfungsgegenstand ist. Schon deshalb ist jedem Kandidaten geraten, sich mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts zu beschäftigen:
I. Sachverhalt (dem Beschluss entnommen)
Der Beschwerdeführer wurde an einem frühen Samstagmorgen, dem 14. September 2013, von Rettungskräften in Rostock aufgefunden. Er befand sich infolge eines akuten Rauschzustands in hilfloser Lage, hatte keine Dokumente bei sich und konnte weder zu seiner Person noch zu konsumierten Rauschmitteln Angaben machen. Da die Rettungskräfte vermuteten, dass er Rauschpilze oder ähnlich wirkende Betäubungsmittel zu sich genommen hatte, verständigten sie die Polizei. Nach ihrem Eintreffen gegen 4 Uhr versuchten die Polizeibeamten vergeblich, von einer Zeugin zu erfahren, um wen es sich bei der hilflosen Person handle, brachten aber in Erfahrung, dass sie in unmittelbarer Nähe wohne. Da die Rettungskräfte baten, in der Wohnung nach Personaldokumenten und Hinweisen darauf zu suchen, was die Person zu sich genommen haben könnte, betraten die Polizeibeamten die Wohnung, während der Beschwerdeführer in das Universitätsklinikum Rostock verbracht wurde. Die Wohnung teilte sich der Beschwerdeführer mit einem zu diesem Zeitpunkt abwesenden Mitbewohner. Im Zimmer des Beschwerdeführers fanden die Polizeibeamten zwei große Plastiktüten mit Cannabisprodukten, eine Feinwaage sowie eine Haschischpfeife und nahmen starken Cannabisgeruch wahr.
Aufgrund ihres Fundes sahen die Polizeibeamten einen Verdacht gegen den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln begründet. Sie hielten deshalb telefonisch Rücksprache mit der zuständigen Bereitschaftsstaatsanwältin der Staatsanwaltschaft Rostock, die um 4:44 Uhr die Durchsuchung der Wohnung zur Beschlagnahme von Beweismitteln anordnete. Die Bereitschaftsstaatsanwältin folgte der Argumentation der Polizeibeamten, es bestehe Gefahr im Verzug, weil sich der Beschwerdeführer jederzeit aus dem Universitätsklinikum Rostock entfernen könne. Dass sie zuvor versucht hatte, den zuständigen Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Rostock zu erreichen, lässt sich der Ermittlungsakte nicht entnehmen. Bei der im Anschluss vollzogenen Durchsuchung des Zimmers des Beschwerdeführers und der Gemeinschaftsräume wurde umfangreiches Beweismaterial beschlagnahmt, unter anderem Cannabisprodukte mit einem THC-Gehalt von insgesamt über 44 Gramm.
Im weiteren Verlauf des 14. September 2013 ordnete das Amtsgericht Rostock auf Antrag der Staatsanwaltschaft die nochmalige Durchsuchung des Wohnraums des Beschwerdeführers sowie der gemeinschaftlich genutzten Küche und des Bades an, da zu vermuten sei, dass unter Einsatz eines Drogenspürhundes weitere Betäubungsmittel aufgefunden werden könnten. Diese Erwartung bestätigte sich nicht.
II. Richtervorbehalt aus Art. 13 Abs. 2 GG und Gefahr im Verzug
Wohnungsdurchsuchungen bedürfen grundsätzlich der richterlichen Anordnung, Art. 13 Abs. 2 Hs. 1 GG. Die richterliche Durchsuchungsanordnung – und dies zeigen bereits Wortlaut und Systematik der Norm – bildet den Regelfall, mit der Folge, dass die nichtrichterliche die Ausnahme bleiben soll (vgl. BVerfGE 103, 142 (153)). Nur bei Gefahr im Verzug sollen andere staatliche Organe eine Anordnungsbefugnis haben. Ordnen die Strafverfolgungsbehörden eine Durchsuchung an, entfällt in erster Linie die präventive Kontrolle durch einen unabhängigen Richter. Es liegt auf der Hand, dass hiermit Gefahren für die effektive Durchsetzung des Grundrechtsschutzes einhergehen. Prüft der zuständige Richter erst nachträglich den mit der Durchsuchung einhergehenden Grundrechtseingriff, können die mit einer Durchsuchung verbundenen Folgen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Verbindet man diese Erkenntnis mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis von Richtervorbehalt und Anordnung durch anderweitige Staatsorgane, muss schlussgefolgert werden, dass der Begriff „Gefahr im Verzug“ i.S.v. Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG restriktiv auszulegen ist. Die praktische Konsequent ist dann, dass Gefahr im Verzug nur anzunehmen ist, „wenn die richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme – regelmäßig die Sicherung von Beweismitteln – gefährdet würde“ (vgl. BVerfGE 51, 97 (111)).
Wann aber kann eine richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden? Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG kann Gefahr im Verzug nicht lediglich damit, dass eine richterliche Entscheidung für gewöhnlich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einer gewissen Zeitspanne mangels Erreichbarkeit eines Richters zu erlangen sei, begründet werden (BVerfGE 103, 142 (155)). Ein solcher abstrakter Verweis genügt den strengen Anforderungen des Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG in keinem Fall. Das Verfassungsgericht stellt vielmehr auf den Einzelfall ab: „Gefahr im Verzug liegt in einem solchen Fall nur vor, wenn ein richterlicher Bereitschaftsdienst zu dieser Zeit im Einklang mit Art. 13 Abs. 2 GG nicht eingerichtet wurde und ein Zuwarten bis zur Erreichbarkeit eines Richters nicht möglich ist.“
III. Konkretisierung dieser Vorgaben für Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes
Aus dem engen Verständnis der Dispensvorschrift ergeben sich unmittelbare Folgen für die Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes: Praktische Wirksamkeit entfaltet der grundrechtssichernde Richtervorbehalt nur, wenn den Gerichten die (verfassungsrechtliche) Pflicht auferlegt wird, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters – sofern notwendig – durch die Einrichtung eines Eil- oder Notdienstes zu sichern. Die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters muss deshalb auch außerhalb der üblichen Dienststunden möglich sein. Problematisch sind insoweit regelmäßig nächtliche Durchsuchungsanordnungen. Hier stellt des BVerfG nun fest:
„Weil nach den heutigen Lebensgewohnheiten zumindest die Zeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr ganzjährig als Nachtzeit anzusehen ist, ist es von Verfassungs wegen geboten, dass sich der Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen auch in den Monaten April bis September auf die Zeit von 4 Uhr bis 6 Uhr morgens erstreckt. Dies folgt unmittelbar aus Art. 13 Abs. 1 GG. Dabei kann das Regelungskonzept aus § 104 Abs. 1 und Abs. 2 StPO übertragen werden, so dass Wohnungsdurchsuchungen zur Verfolgung auf frischer Tat, bei Gefahr im Verzug oder zur Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen zulässig bleiben und sich die Durchsuchungsbeschränkungen nicht auf die in § 104 Abs. 2 StPO genannten Räume erstrecken.“
Da in der Nachtzeit allerdings regelmäßig von einem geringeren Bedarf an Anordnungen ausgegangen werden kann, ist ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst nur unter bestimmten Voraussetzungen geboten. Das Verfassungsgericht entschied, dass Notwendigkeit hierfür nur soweit besteht, wie ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen besteht. Bleibt es beim jeweils zuständigen Gericht jedoch bei Ausnahmefällen, kann entsprechend dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG auch ohne einen richterlichen Notdienst vorgegangen werden.
IV. Beurteilungs- und Prognosespielraum der Gerichtspräsidien
Da sich ein abstrakter Verweis auf Zeitpunkte oder Zeiten, in denen eine Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters üblicherweise nicht in Betracht kommt, nicht ausreicht, muss auf das einzelne Gericht abgestellt werden. Maßgeblich ist danach die Frequenz, in der außerhalb der üblichen Zeiten Anordnungen ergehen müssen bzw. Notwendigkeit hierfür besteht. Wann ein erhöhter Bedarf besteht – so nun ausdrücklich das BVerfG – hat das Gerichtspräsidium nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Wie der Bedarf ermittelt wird, können die Präsidien dabei im Rahmen eines Beurteilungs- und Prognosespielraums selbst entscheiden. Hier ist Vorsicht geboten: Das BVerfG spricht den Gerichten keinen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Entscheidung über das „Ob“ der Bedarfsermittlung zu, vielmehr beschränkt sich der Spielraum auf das „Wie“.
Die spezifischen Verhältnisse im jeweiligen Gerichtsbezirk können nach Auffassung des Verfassungsgerichts auf unterschiedliche Art und Weise ermittelt werden. Eine Bedarfsprognose kann dabei etwa durch statistische Erhebungen substantiiert werden. Auch Erfahrungswerte können herangezogen werden, diese müssen allerdings plausibilisiert werden. Zu denken ist etwa an Erfahrungswerte, nach denen in Großstädten bzw. Ballungsgebieten zur Abend- und Nachtzeit regelmäßig mehr eilbedürftige Anträge gestellt werden müssen als in kleineren Ortschaften. Auch die Grenznähe zu anderen Gerichtsbezirken sowie zeitlich begrenzter Mehrbedarf aufgrund von Großveranstaltungen o.ä. können Gesichtspunkte sein, die das Präsidium im Rahmen seiner Prognoseentscheidung miteinbezieht. Entscheidend bleibt jeweils der Bezug zu den individuellen Verhältnissen im zuständigen Gerichtsbezirk.
V. Was man für die Klausur behalten muss
Zwecks effektiver Durchsetzung des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 13 GG muss der Richtervorbehalt streng verstanden werden. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis in Art. 13 Abs. 2 GG gebietet es, hohe Anforderungen an den Begriff der Gefahr im Verzug zu legen. Praktische Wirksamkeit erlangt der Richtervorbehalt jedoch bei erhöhtem Anordnungsbedarf zu Abend- und Nachtzeiten nur, wenn ein richterlicher Eil- bzw. Notdienst vom Gerichtspräsidium eingerichtet wird – aber eben auch nur, sofern der Bedarf über einzelne Ausnahmefälle hinausgeht. Bei der Ermittlung des Bedarfs steht den Präsidien jeweils ein eigener Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. Maßgebend sind jeweils die Umstände im jeweiligen Gerichtsbezirk, die sowohl durch Statistiken als auch plausibel begründete allgemeine Erfahrungssätze festgestellt werden können. Summa summarum entwickelt die Entscheidung des BVerfG das zum Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG bereits Bekannte konsequent fort und gibt dabei Aufschluss zur Konkretisierung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses sowie zur praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts. Der Beschluss ist ein Muss für jeden Examenskandidaten!
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