Leitsätze:
1. Im Organstreit kann der einzelne Bundestagsabgeordnete die behauptete Verletzung jedes Rechts, das mit seinem Status als Abgeordneter verfassungsrechtlich verbunden ist, im eigenen Namen geltend machen. An der Gewährleistung der in GG Art 39 Abs 1 S 1 festgelegten Dauer der Wahlperiode hat der Status des Abgeordneten Anteil.
2. Die Anordnung der Auflösung des Bundestages oder ihre Ablehnung gem GG Art 68 ist eine politische Leitentscheidung, die dem pflichtgemäßen Ermessen des Bundespräsidenten obliegt. Ein Ermessen im Rahmen des GG Art 68 Abs 1 S 1 ist dem Bundespräsidenten freilich nur dann eröffnet, wenn im Zeitpunkt seiner Entscheidung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen.
3. GG Art 68 normiert einen zeitlich gestreckten Tatbestand. Verfassungswidrigkeiten, die auf den zeitlich vorangehenden Stufen eingetreten sind, wirken auf die Entscheidungslage fort, vor die der Bundespräsident nach dem Auflösungsvorschlag des Bundeskanzlers gestellt ist.
4.1 GG Art 68 Abs 1 S 1 ist eine offene Verfassungsnorm, die der Konkretisierung zugänglich und bedürftig ist.
4.2 Die Befugnis zur Konkretisierung von Bundesverfassungsrecht kommt nicht allein dem Bundesverfassungsgericht, sondern auch anderen obersten Verfassungsorganen zu. Dabei sind die bereits vorgegebenen Wertungen, Grundentscheidungen, Grundsätze und Normen der Verfassung zu wahren.
4.3 Bei der Konkretisierung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung ist zumal ein hohes Maß an Übereinstimmung in der verfassungsrechtlichen wie verfassungspolitischen Beurteilung und Bewertung der in Rede stehenden Sachverhalte zwischen den möglichen betroffenen obersten Verfassungsorganen unabdingbar und eine auf Dauer angelegte, stetige Handhabung unerläßlich. Eine politisch umkämpfte und rechtlich umstrittene Praxis von Parlamentsmehrheiten und Regierungsmehrheiten reicht als solche hierfür nicht aus.
5. Vertrauen im Sinne des GG Art 68 meint gem. der deutschen verfassungsgeschichtlichen Tradition die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers.
6. Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Wege des GG Art 68 anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Dies ist ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des GG Art 68 Abs 1 S 1.
7. Eine Auslegung dahin, dass GG Art 68 einem Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, gestattete, sich zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben, würde dem Sinn des GG Art 68 nicht gerecht. Desgleichen rechtfertigen besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben die Auflösung nicht.
8.1 Ob eine Lage vorliegt, die eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr sinnvoll ermöglicht, hat der Bundeskanzler zu prüfen, wenn er beabsichtigt, einen Antrag mit dem Ziel zu stellen, darüber die Auflösung des Bundestages anzustreben.
8.2 Der Bundespräsident hat bei der Prüfung, ob der Antrag und der Vorschlag des Bundeskanzlers nach GG Art 68 mit der Verfassung vereinbar sind, andere Maßstäbe nicht anzulegen; er hat insoweit die Einschätzungskompetenz und Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers zu beachten, wenn nicht eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung der politischen Lage der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist.
8.3 Die Einmütigkeit der im Bundestag vertretenen Parteien, zu Neuwahlen zu gelangen, vermag den Ermessensspielraum des Bundespräsidenten nicht einzuschränken; er kann hierin jedoch einen zusätzlichen Hinweis sehen, daß eine Auflösung des Bundestages zu einem Ergebnis führen werde, das dem Anliegen des GG Art 68 näher kommt als eine ablehnende Entscheidung.
9. In GG Art 68 hat das Grundgesetz selbst durch die Einräumung von Einschätzungsspielräumen und Beurteilungsspielräumen sowie von Ermessen zu politischen Leitentscheidungen an drei oberste Verfassungsorgane die verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten weiter zurückgenommen, als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug; das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in GG Art 68 selbst angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten obersten Verfassungsorganen. Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten.
Bedeutung:
(s. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Vertrauensfrage)
Dieses Urteil des BVerfG ermöglicht es dem Bundeskanzler eine Vertrauensfrage zu stellen mit dem Ziel, dass ihm das Vertrauen pro forma nicht ausgesprochen wird, um so letztlich eine Auflösung des Bundestages und Neuwahlen zu erreichen. Eine solche Vorgehensweise sieht das GG eigentlich nicht vor. Es gibt nur die „echte“ Vertrauensfrage und das konstruktive Misstrauensvotum (Art. 68 bzw. 67 GG). Damit erteilt das GG dem Bundestag bewusst kein Selbstauflösungsrecht. Ausnahmsweise kann aber die von Helmut Kohl praktizierte Vorgehensweise verfassungskonform sein, wenn hierdurch eine Lage politischer Instabilität behoben werden soll (vgl. insoweit die Leitsätze Nr.6 – 8). Die Regierung darf nur bedingt handlungsfähig sein. Die Überprüfung dieser Voraussetzungen durch das BVerfG findet allerdings nur eingeschränkt statt, es besteht ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum der drei anderen involvierten Verfassungsorgane (BK, BT, BPrä).
Dieses Urteil war somit auch der Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der von Gerhard Schröder gestellten Vertrauensfrage, welche 2005 durch das BVerfG ebenfalls bestätigt wurde (BVerfGE 114, 121). Es gab dabei jedoch zwei Sondervoten.