Studienplatzvergabe für das Fach Humanmedizin ist teilweise verfassungswidrig
I. Ausgangslage
Eine fortwährend steigende Anzahl an Bewerbern steht einem gleichbleibenden Studienplatzangebot im Fach Humanmedizin gegenüber. Der Bewerberüberhang stellt die Universitäten vor Auswahlschwierigkeiten. Vergeben werden die begehrten Studienplätze zu 20 % über die Bestenquote der Abiturienten, zu 60 % über hochschuleigene Kriterien und zu weiteren 20 % über Wartezeitquoten. Das einfachste und kostengünstigste Auswahlkriterium der Hochschulen ist häufig ebenfalls der Abiturdurchschnitt, der mittlerweile derart hoch ist, dass selbst Bewerber mit einem Durchschnitt von 1,2 nicht mehr sicher sein können, einen Platz zu erhalten. Zwei Bewerber für das Fach Humanmedizin klagten vor dem VG Gelsenkirchen gegen diese aus ihrer Sicht ungerechte Praxis. Auch das VG Gelsenkirchen äußerte Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit und legte die betreffenden Regelungen im Wege der konkreten Normenkontrolle dem Bundesverfassungsgericht vor.
II. Antwort aus Karlsruhe: Urteil v. 19.12.2017 – 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14
Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz von Ferdinand Kirchhof hat daraufhin am heutigen Morgen die bundes- und landesgesetzlichen Regelungen zur Studienplatzvergabe an staatlichen Hochschulen im Bereich Humanmedizin für teilweise mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 iVm Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt. Grund dessen sei der grundgesetzlich gewährleistete Anspruch auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot.
„Aus der Ausbildungs- und Berufswahlfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ergibt sich ein Recht auf Teilhabe an den vorhandenen Studienangeboten, die der Staat mit öffentlichen Mitteln geschaffen hat. Diejenigen, die dafür die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllen, haben ein Recht auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot und damit einen Anspruch auf gleichheitsgerechte Zulassung zum Studium ihrer Wahl. Da die Frage der Bemessung der Anzahl verfügbarer Ausbildungsplätze aber der Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers obliegt, besteht das Recht auf chancengleichen Zugang zum Hochschulstudium nur im Rahmen der tatsächlich bestehenden Ausbildungskapazitäten.“
Danach muss sich die Studienplatzvergabe grds. am Kriterium der Eignung orientieren. Geeignet in diesem Sinne ist, wer die Voraussetzungen erfüllt, die Studium und spätere Tätigkeit an ihn oder sie stellen. Insoweit besteht jedoch keine Bindung an ein festes Kriterium. Deshalb kann grundsätzlich auch an den Abiturdurchschnitt angeknüpft werden. Denn auch wenn es sich um eine Materie handelt, die dem Parlamentsvorbehalt unterliegt und die Auswahlkriterien damit auf den Gesetzgeber rückführbar sein müssen, kommt den Universitäten ein gewisser Spielraum zur hochschuleigenen Konkretisierung vor. Deshalb begegnet es auch keinen Bedenken, wenn eine Bestenquote für 20 % der zu vergebenden Plätze festgelegt wird. Allerdings ist die damit verknüpfte Notwendigkeit einer Ortsangabe nicht hinnehmbar:
„Denn das Kriterium der Abiturdurchschnittsnote wird als Maßstab für die Eignung durch den Rang des Ortswunsches überlagert und entwertet. Die Chancen der Abiturienten auf einen Studienplatz hängen danach in erster Linie davon ab, welchen Ortswunsch sie angegeben haben und nur in zweiter Linie von ihrer Eignung für das Studium. […] Ortswunschangaben dürfen aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich nur als Sekundärkriterium für die Verteilung der vorhandenen Studienplätze unter den ausgewählten Bewerbern herangezogen werden.“ Damit fällt die aktuelle Hürde der Angabe von sechs Ortspräferenzen im Rahmen der Bewerbung in der jetzigen Form.
Für die weiteren 60 % an Studienplätzen, die nach den hochschuleigenen Kriterien vergeben werden, bestehen ebenfalls verfassungsrechtliche Probleme. Denn die Hochschulen stellen ebenfalls zu einem Großteil auf den Abiturdurchschnitt ab. Das dürfe aber nicht das einzige Kriterium sein, so das BVerfG.
Das jetzige Verfahren „nimmt in Kauf, dass eine große Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern abhängig davon, in welchem Land sie ihre allgemeine Hochschulreife erworben haben, erhebliche Nachteile erleiden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es auch im Auswahlverfahren der Hochschulen maßgeblich auf Grenzbereiche der Benotung ankommt und die Dezimalstellen der Durchschnittsnoten häufig über den Erfolg einer Bewerbung entscheiden. Für diese Ungleichbehandlung fehlt es an einem einleuchtenden, belastbaren Sachgrund.“
Im Hinblick auf die restlichen 20 % an Studienplätzen, die durch die sog. Wartezeitquote vergeben werden, sehen es die Karlsruher Richter als problematisch an, dass die Wartezeit gesetzlich nicht begrenzt ist, was im Einzelfall zu sehr langen Wartezeiten führen kann.
„Denn ein zu langes Warten beeinträchtigt erheblich die Erfolgschancen im Studium und damit die Möglichkeit zur Verwirklichung der Berufswahl. Sieht der Gesetzgeber demnach zu einem kleineren Teil auch eine Studierendenauswahl nach Wartezeit vor, ist er von Verfassungs wegen gehalten, die Wartedauer auf ein mit Blick auf ihre negativen Folgen noch angemessenes Maß zu begrenzen. Dies gilt ungeachtet dessen, dass die verfassungsrechtlich gebotene Beschränkung der Wartedauer dazu führen mag, dass viele Bewerber am Ende keinen Studienplatz über die Wartezeitquote erhalten können.“
Überdies sei z.T. auch der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ergebende Vorbehalt des Gesetzes nicht gewahrt. Das Gesetz müsse sicherstellen, dass „die hochschuleigenen Eignungsprüfungsverfahren oder die Auswahl nach vorausgegangener Berufsausbildung oder -tätigkeit auf standardisierte und strukturierte Weise erfolgt.“ Das bayerische und hamburgische Landesrecht sehen dagegen vor, zusätzlich eigenständige Auswahlkriterien zu treffen, was dem Vorbehalt des Gesetzes gerade nicht gerecht wird. Insoweit stellt das BVerfG klar, dass ein „eigenes Kriterienerfindungsrecht der Hochschulen“ verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig ist.
Wegen der dargestellten Bedenken hinsichtlich des Anspruchs auf Teilhabe am staatlichen Studienangebot sowie dem teilweise verletzen Vorbehalt des Gesetzes müssen bis Ende 2019 Neuregelungen geschaffen werden.
III. Summa
- Die Ortsangabe im Rahmen der Bewerbung ist nicht verfassungsgemäß. Denn: Selbst ein Bewerber, der alle Voraussetzungen erfüllt, kann wegen einer ungünstigen Ortsangabe keinen Studienplatz erhalten.
- Die Wartezeit als zusätzliches Kriterium muss auf ein angemessenes Maß begrenzt werden. Dass manche Bewerber mehr als 15 Semester warten müssen, um einen Studienplatz zu erhalten, ist also künftig Geschichte.
- Der Numerus Clausus darf nicht mehr das einzige Auswahlkriterium sein. Es muss mindestens ein weiteres Kriterium hinzugezogen werden.
[Näheres findet sich in verkürzter Form unter der Pressemitteilung Nr. 69/2017 v. 08.08.2017 sowie der Pressemitteilung Nr. 112/2017 v. 19.12.2017.]
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